Entscheid vom 28. Dezember 2022
Referenz ZK1 22 206
Instanz I. Zivilkammer
Besetzung Cavegn, Vorsitzender
Michael Dürst und Nydegger
Gabriel, Aktuarin ad hoc
Parteien A.___
Beschwerdeführer
Gegenstand Behandlung ohne Zustimmung
Anfechtungsobj. Anordnung der Psychiatrischen Dienste Graubünden (PDGR)
vom 20.12.2022
Mitteilung 9. Januar 2023
Sachverhalt
A. Mit ärztlich verfügter Einweisung vom 3. Dezember 2022 wurde A.___, geboren am ___, in der Klinik B.___ zur Behandlung fürsorgerisch untergebracht. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Entscheid vom 14. Dezember 2022 abgewiesen (ZK1 22 194).
B. Am 20. Dezember 2022 ordnete die Klinik B.___ eine Behandlung ohne Zustimmung an. Hiergegen erhob A.___ (nachfolgend: Beschwerdeführer) noch gleichentags Beschwerde beim Kantonsgericht von Graubünden.
C. Am 23. Dezember 2022 ersuchte der Vorsitzende der I. Zivilkammer die Klinik B.___ um einen kurzen Bericht zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, zur Art der Behandlung und insbesondere darüber, inwiefern die Voraussetzungen für eine Behandlung ohne Zustimmung aus ärztlicher Sicht gegeben seien. Die Klinik B.___ reichte den angeforderten Bericht mitsamt den wesentlichen Klinikakten über den Beschwerdeführer noch gleichentags beim Kantonsgericht ein.
D. Mit prozessleitender Verfügung vom 23. Dezember 2022 beauftragte der Vorsitzende der I. Zivilkammer Dr. med. C.___, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, mit der Erstellung eines Gutachtens über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers und über die Notwendigkeit der Behandlung ohne Zustimmung.
E. Am 28. Dezember 2022 fand die Hauptverhandlung statt, zu welcher mit Verfügung vom 23. Dezember 2022 vorgeladen worden war. Der Beschwerdeführer nahm an der Hauptverhandlung persönlich teil und wurde befragt. Nach durchgeführter Urteilsberatung wurde das vorzeitige Entscheiddispositiv dem Beschwerdeführer sowie der Psychiatrischen Klinik B.___ noch gleichentags zugestellt.
Erwägungen
1. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens bildet die Anordnung der Behandlung ohne Zustimmung vom 20. Dezember 2022 (Art. 434 ZGB; act. 05). Für die Beurteilung der dagegen erhobenen Beschwerde ist das Kantonsgericht von Graubünden einzige kantonale Beschwerdeinstanz (Art. 439 Abs. 1 Ziff. 4 ZGB i.V.m. Art. 60 Abs. 1 EGzZGB [BR 210.100]). Die Frist zur Anrufung des Gerichts beträgt gemäss Art. 439 Abs. 2 ZGB zehn Tage seit Mitteilung des Entscheids. Die handschriftlich verfasste sowie unterzeichnete Beschwerde vom 20. Dezember 2022 erfolgte fristwie auch formgerecht (act. 01). Auf die Beschwerde ist einzutreten. Kein Thema des Beschwerdeverfahrens bildet die am 3. Dezember 2022 ärztlich verfügte fürsorgerische Unterbringung. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das Kantonsgericht mit Entscheid vom 14. Dezember 2022 abgewiesen (ZK1 22 194).
2. Bei der Behandlung einer psychischen Störung ohne Zustimmung richtet sich das Verfahren gemäss Art. 439 Abs. 1 Ziff. 4 und Abs. 3 ZGB sinngemäss nach den Bestimmungen über das Verfahren vor der gerichtlichen Beschwerdeinstanz (Art. 450 ff. ZGB). Einschlägig ist ausserdem Art. 60 EGzZGB. In Beschwerdeverfahren betreffend fürsorgerische Unterbringungen muss bei psychischen Störungen gestützt auf das Gutachten einer sachverständigen Person entschieden werden (vgl. Art. 450e Abs. 3 ZGB). Dem Gericht liegt das Kurzgutachten von Dr. med. C.___, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 23. Dezember 2022 vor (act. 08). Art. 450e Abs. 4 ZGB statuiert, dass die gerichtliche Beschwerdeinstanz die betroffene Person in der Regel als Kollegium anhört. Diesem Erfordernis wurde mit der Anhörung des Beschwerdeführers im Rahmen der Hauptverhandlung Genüge getan (vgl. act. 12). Aus Art. 450a ZGB ergibt sich schliesslich, dass das Gericht Tat- und Rechtsfragen wie auch die Angemessenheit frei überprüft (vgl. Thomas Geiser/Mario Etzensberger, in: Geiser/Fountoulakis [Hrsg.], Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 7. Aufl., Basel 2022, N 39 zu Art. 439 ZGB).
3.1. Wird eine Person zur Behandlung einer psychischen Störung in einer Einrichtung untergebracht, so erstellt die behandelnde Ärztin der behandelnde Arzt unter Beizug der betroffenen Person und gegebenenfalls ihrer Vertrauensperson einen schriftlichen Behandlungsplan (Art. 433 Abs. 1 ZGB). Der Behandlungsplan wird der betroffenen Person zur Zustimmung unterbreitet (Art. 433 Abs. 3 ZGB). Fehlt die Zustimmung der betroffenen Person zur Behandlung, kann die Chefärztin der Chefarzt der Abteilung die im Behandlungsplan vorgesehenen medizinischen Massnahmen unter bestimmten, im Gesetz wiedergegebenen Voraussetzungen (Art. 434 Abs. 1 Ziff. 1-3 ZGB) schriftlich anordnen. Die Anordnung wird der betroffenen Person und ihrer Vertrauensperson verbunden mit einer Rechtsmittelbelehrung schriftlich mitgeteilt (Art. 434 Abs. 2 ZGB).
3.2. Damit die Anordnung zur Behandlung einer psychischen Störung ohne Zustimmung der betroffenen Person gemäss Art. 434 ZGB rechtmässig ist, müssen folgende allgemeinen Voraussetzungen erfüllt sein: (1.) Die betroffene Person muss fürsorgerisch in einer Einrichtung untergebracht worden sein (Art. 426 ZGB); (2.) die Unterbringung muss zur Behandlung einer psychischen Störung erfolgt sein; (3.) die betroffene Person hat der Behandlung nicht zugestimmt und (4.) die angeordnete Behandlung muss im Behandlungsplan vorgesehen sein (vgl. Geiser/ Etzensberger, a.a.O., N 13 ff. zu Art. 434 ZGB).
3.3. Der Beschwerdeführer wurde zur Behandlung einer schizotypen Störung (ICD-10: F21) und damit einer psychischen Störung fürsorgerisch untergebracht (vgl. act. 05, 06, 06.1, 06.3 und auch 06.4). Dr. med. C.___ kommt in seinem Gutachten (gar) zum Schluss, der Beschwerdeführer leide an mehr als nur einer schizotypen Störung. Neben einer akuten schizophreniformen psychotischen Störung könne differentialdiagnostisch auch an eine paranoide Schizophrenie mit hebephrenen Zügen gedacht werden (act. 08, S. 3). Der Behandlungsplan vom 3. Dezember 2022 sieht eine psychopharmakologische Therapie mit Depakine bis zu 20 mg/kg Körpergewicht bei 77.9 kg und Risperidon bis zu 12 mg/d oral und/oder Haldol bis zu 30 mg/d sowie Valium/Psychopax bis zu 30 mg/d oral, alternativ die letzteren beiden genannten Substanzen intramuskulär jeweils bis zu 2x 10 mg/d Clopixol acutard bis zu 150 mg intramuskulär alle drei Tage vor (act. 06.1). Nachdem der Beschwerdeführer ab dem 19. Dezember 2022 die Medikation verweigert und damit der Behandlung nicht zugestimmt hatte, ordnete die Klinik am 20. Dezember 2022 schriftlich diejenige Behandlung an, welche im Behandlungsplan vom 3. Dezember 2022 vorgesehen war (act. 05, 06). Die Anordnung trägt die Unterschrift der Chefärztin, Dr. med. D.___. Der unter der Unterschrift verzeichnete Name Dr. med. E.___ passt offensichtlich nicht zur Unterschrift. Es muss sich um ein Versehen handeln (act. 05). Die allgemeinen Voraussetzungen für eine Behandlung ohne Zustimmung sind nach dem Gesagten vorliegend erfüllt.
4. Damit die medikamentöse Behandlung ohne Zustimmung zulässig ist, müssen zusätzlich zu den vorstehend (E. 3.2) genannten allgemeinen Bedingungen die in Art. 434 Abs. 1 Ziff. 1–3 ZGB aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sein, und zwar kumulativ (vgl. Geiser/Etzensberger, a.a.O., N 17 zu Art. 434 ZGB). Demnach muss der betroffenen Person ohne Behandlung ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden drohen das Leben die körperliche Integrität Dritter ernsthaft gefährdet sein (Ziffer 1), die betroffene Person muss bezüglich ihrer Behandlungsbedürftigkeit urteilsunfähig sein (Ziffer 2) und es darf keine angemessene, weniger einschneidende Massnahme zur Verfügung stehen (Ziffer 3).
4.1. Aus der Anordnung zur Behandlung ohne Zustimmung ergeht, dass bei Unterbleiben der Behandlung mit einer Verschlechterung der bestehenden Psychose sowie der Gefahr von selbst- und fremdgefährdenden Handlungen sowie einer Verschlechterung der Prognose zu rechnen ist (act. 05). Laut dem Gutachter droht bei Unterbleiben der Behandlung dem Beschwerdeführer insofern ein gesundheitlicher Schaden, als sich dieser aufgrund seines Verhaltens, namentlich dem Trinken von Urin, gefährde, aber auch durch den bestehenden Vergiftungswahn unter Umständen auf Nahrung verzichte. Er sei ferner in dem akut-verwirrten Zustand nicht fähig, für sich selbst zu sorgen. Aufgrund des Liebeswahns, aber auch aufgrund des distanzlosen, zeitweise lauten und aggressiv bedrohlichen Verhaltens stelle der Beschwerdeführer zudem eine Gefährdung für sein Umfeld dar (act. 08, S. 4 Frage 3 f.).
Aus den Ausführungen in der Beschwerdeschrift ergeht nicht, aus welchem Grund der Beschwerdeführer die Einnahme der Medikamente verweigert (act. 01). Anlässlich der Hauptverhandlung begründete der Beschwerdeführer die Nichteinnahme der Medikamente mit seinem Gewicht, welches mit den Medikamenten aus der Bahn gerate. Zudem zittere er und könne dann nicht schreiben. Davon abgesehen gehe es ihm auch ohne die Medikamente 'tiptop' (act. 12).
Das Kantonsgericht hat den Beschwerdeführer persönlich befragt. Nach den vom Kantonsgericht gewonnenen Eindrücken scheint sich der Zustand des Beschwerdeführers im Vergleich zur letzten Hauptverhandlung (rund zwei Wochen davor) deutlich verschlechtert zu haben. Seine Ausführungen waren teilweise wirr und nur schwer nachvollziehbar. Zudem wirkte der Beschwerdeführer agitierter und sprach nach wie vor von seiner Freundin, wobei völlig unklar ist, ob diese Freundin überhaupt existiert bzw. ob die betreffende Person tatsächlich die Freundin des Beschwerdeführers ist (vgl. auch die Auskünfte des Assistenzarztes im Gutachten, act. 08, S. 2). Zudem erklärte der Beschwerdeführer, auch weiterhin nur wenig zu essen und zu trinken (vgl. act. 12). Übereinstimmend mit dem Gutachten ist auch für das Kantonsgericht offensichtlich, dass dem Beschwerdeführer tatsächlich ein ernsthafter gesundheitlicher Schaden droht, wenn die Behandlung unterbleibt und der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers nicht verbessert werden kann.
4.2. Die Klinik B.___ hielt in der Anordnung der Behandlung ohne Zustimmung fest, der Beschwerdeführer sei in Bezug auf die Behandlung ohne Zustimmung urteilsunfähig und lehne die Behandlung trotz intensiver Aufklärung über die Notwendigkeit aus krankheitsbedingten Gründen ab. Konkret imponiere der Beschwerdeführer manisch-psychotisch, wobei er kaum Distanz halten könne. Er entblösse sich regelmässig in unterschiedlichen Situationen, trinke seinen Urin und das eigene Ejakulat mit der Begründung, sich von innen wärmen zu wollen. Des Weiteren beschimpfe er Anwesende übel und werfe mit Gegenständen nach ihnen, sei angetrieben und agitiert. In diesem gegenwärtigen Zustand sei der Beschwerdeführer nicht in der Lage, die Konsequenzen und die Tragweite seiner Handlungen einzuschätzen (act. 06.2). Auch der Gutachter verneint das Vorhandensein einer Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers im Hinblick auf seine Behandlungsbedürftigkeit. Ausserdem sei dieser weder krankheits- noch behandlungseinsichtig (act. 08, S. 4 Frage 5). Keinen anderen Schluss lassen die Ausführungen des Beschwerdeführers an der Hauptverhandlung zu. Er zeigte sich gegenüber dem Kantonsgericht weder krankheits- noch behandlungseinsichtig. Die Ausführungen über die angebliche Freundin und die Aussagen, wonach er nun Influencer sei, deuten zudem auf einen Realitätsverlust hin (vgl. act. 12). Damit ist erstellt, dass die Urteilsfähigkeit des Beschwerdeführers in Bezug auf seinen Behandlungsbedarf fehlt.
4.3. Die Klinik kam in ihrer Anordnung zum Schluss, dass ein reiner Aufenthalt ohne psychopharmakologische Behandlung zu einer gesundheitlichen Verschlechterung führen würde. Andere, weniger einschneidende Massnahmen als eine medikamentöse Behandlung – wie etwa ausschliesslich Psychotherapie – seien nicht ersichtlich (act. 06.2). Auch der Gutachter vermag keine milderen alternativen Behandlungsmöglichkeiten zu nennen (act. 08, S. 5 Frage 8). Um die Gefahr eines gesundheitlichen Schadens des Beschwerdeführers abzuwenden, ist für das Kantonsgericht keine mildere Massnahme als die zwangsweise Anordnung der medikamentösen Behandlung gemäss Behandlungsplan ersichtlich. Das ergibt sich für das Gericht auch aus der Verschlechterung des Zustandes des Beschwerdeführers, die im Vergleich zur letzten Hauptverhandlung erfolgt ist. Auch daraus folgt, dass ein reiner Aufenthalt in der Klinik B.___ ohne die angeordnete Behandlung als mildere Massnahme nicht gleichermassen wirksam ist. Der Gutachter hat dazu auf die Frage des Kantonsgerichts ausdrücklich festgehalten, dass die in der Anordnung der Behandlung ohne Zustimmung vorgesehenen Medikamente sowie deren Dosierung und Dauer für die Behandlung der festgestellten Krankheit notwendig ist.
5. Im Ergebnis sind die Begründung der Klinik B.___ für die Anordnung der Behandlung ohne Zustimmung wie auch die gutachterliche Einschätzung für das Gericht nachvollziehbar. Bestätigt wird dies zudem durch den Eindruck, den das Gericht vom Beschwerdeführer anlässlich der Hauptverhandlung erhalten hat. Es sind mithin sämtliche Voraussetzungen für die Anordnung einer Behandlung ohne Zustimmung erfüllt und die Beschwerde ist daher abzuweisen.
6. Da der Beschwerdeführer vollumfänglich unterlegen ist, wären ihm die Kosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen (Art. 63 EGzZGB i.V.m. Art. 106 Abs. 1 ZPO). Angesichts der finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers – er erhält eine volle Invalidenrente (act. 06.4) – verbleiben die Kosten des Beschwerdeverfahrens in der Höhe von CHF 2'541.00 (Gerichtsgebühr von CHF 1'500.00 und Gutachterkosten von CHF 1'041.00, vgl. zu letzteren act. 08.1) jedoch beim Kanton Graubünden.
Demnach wird erkannt:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens von CHF 2'541.00 (Gerichtsgebühr von CHF 1'500.00 und Gutachterkosten von CHF 1'041.00) gehen zu Lasten des Kantons Graubünden.
3. Gegen diese Entscheidung kann gemäss Art. 72 BGG Beschwerde in Zivilsachen an das Schweizerische Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, geführt werden. Die Beschwerde ist dem Bundesgericht schriftlich, innert 30 Tagen seit Eröffnung der vollständigen Ausfertigung der Entscheidung in der gemäss Art. 42 f. BGG vorgeschriebenen Weise einzureichen. Für die Zu-lässigkeit, die Beschwerdelegitimation, die weiteren Voraussetzungen und das Verfahren der Beschwerde gelten die Art. 29 ff., 72 ff. und Art. 90 ff. BGG.
4. Mitteilung an: