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Urteil Kantonsgericht Graubünden (GR)

Zusammenfassung des Urteils SK1-15-29: Kantonsgericht Graubünden

Der Berufungskläger X.___ wurde wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln verurteilt, nachdem er auf der A13 ein Sattelmotorfahrzeug überholt hatte. Das Gericht stellte fest, dass X.___ das Manöver vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie abgeschlossen hatte. Die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge wurden aufgrund von Aussagen des Berufungsklägers festgelegt. Das Gericht wies Beweisanträge auf Augenschein und Sachverständigengutachten ab, da die relevanten Sachverhaltselemente bereits aus den vorhandenen Beweismitteln ersichtlich waren. Die Anklageschrift war ausreichend präzise, um den Anklagegrundsatz zu erfüllen. Das Kantonsgericht von Graubünden bestätigte das Urteil des Bezirksgerichts Hinterrhein.

Urteilsdetails des Kantongerichts SK1-15-29

Kanton:GR
Fallnummer:SK1-15-29
Instanz:Kantonsgericht Graubünden
Abteilung:-
Kantonsgericht Graubünden Entscheid SK1-15-29 vom 08.12.2015 (GR)
Datum:08.12.2015
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:grobe Verletzung der Verkehrsregeln
Schlagwörter : Berufung; Berufungskläger; Fahrzeug; Urteil; Beweis; Überholmanöver; Verkehr; Geschwindigkeit; Sicherheit; Recht; Beginn; Sicht; Sachverhalt; Berufungsklägers; Kantons; Aussage; Überholmanövers; Staat; Sicherheitslinie; Überholvorgang; Aussagen
Rechtsnorm:Art. 10 StPO ;Art. 193 StPO ;Art. 268 StPO ;Art. 312 StGB ;Art. 32 BV ;Art. 35 SVG ;Art. 350 StPO ;Art. 356 StPO ;Art. 398 StPO ;Art. 399 StPO ;Art. 409 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 82 StPO ;Art. 9 StPO ;Art. 90 SVG ;
Referenz BGE:109 IV 134; 118 IV 277; 118 IV 285; 120 Ia 31; 121 V 47; 124 IV 86; 126 IV 192; 129 I 151; 129 IV 155; 130 IV 32; 131 IV 133; 133 IV 235; 134 I 140;
Kommentar:
Schweizer, Trechsel, , 2. Aufl., Zürich, Art. 63 StGB, 1997

Entscheid des Kantongerichts SK1-15-29

Kantonsgericht von Graubünden
Dretgira chantunala dal Grischun
Tribunale cantonale dei Grigioni

Ref.:
Chur, 8. Dezember 2015
Schriftlich mitgeteilt am:
SK1 15 29
[nicht mündlich eröffnet]
7. April 2016
Urteil

I. Strafkammer
Vorsitz
Schnyder
RichterInnen
Michael Dürst und Pritzi
Aktuarin
Thöny

In der strafrechtlichen Berufung
des X.___, Berufungskläger, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Peter Port-
mann, Quaderstrasse 18, 7002 Chur,

gegen

das Urteil des Bezirksgerichts Hinterrhein vom 9. Juni 2015, mitgeteilt am 18. Au-
gust 2015, in Sachen der S t a a t s a n w a l t s c h a f t G r a u b ü n d e n , Senn-
hofstrasse 17, 7001 Chur, Berufungsbeklagte, gegen den Berufungskläger,
betreffend grobe Verletzung der Verkehrsregeln,
hat sich ergeben:

I. Sachverhalt
A.
X.___ wurde am ___1958 in O.1___/Deutschland geboren. Gemäss
eigenen Angaben wuchs er in der DDR auf, wo er zur Schule ging, das Abitur
machte und studierte. In der Folge liess er sich an der Baufachschule O.2___
zum Bauingenieur ausbilden. Heute ist er als Bauleiter bei der Firma A.___ tä-
tig. Dabei erzielt er ein Nettoeinkommen von 2'400.00 Euro pro Monat. X.___ ist
verheiratet und Vater eines erwachsenen Sohnes. Er hat Hypothekarschulden in
Höhe von rund 180'000.00 Euro.
Im Schweizerischen Zentralstrafregister sowie im SVG-Massnahmenregister ist
X.___ nicht verzeichnet.
B.
Am 11. März 2014 konnte Kantonspolizist B.___ auf seinem Weg zur
Arbeit gemäss eigenen Angaben beobachten, wie ein Personenwagen auf der
A13 in Richtung Süden ausgangs des C.___-Tunnels trotz eingeschränkter
Sicht vor einer unübersichtlichen Kurve ausschwenkte, ein Sattelmotorfahrzeug
überholte und kurz vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie wieder auf die Süd-
spur einschwenkte. Der als X.___ identifizierte Fahrzeuglenker konnte in
O.3___ angehalten und einvernommen werden.
C.
Mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Graubünden vom 10. Juli 2014, mit-
geteilt am 17. Juli 2014, wurde X.___ der groben Verletzung von Verkehrsre-
geln gemäss Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 2 SVG
schuldig gesprochen. Dafür wurde er mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu
je Fr. 60.--, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie ei-
ner Busse von Fr. 500.-bestraft.
D.
Gegen diesen Strafbefehl liess X.___ am 24. Juli 2014 Einsprache erhe-
ben. In der Folge eröffnete die Staatsanwaltschaft Graubünden am 5. August 2014
eine Strafuntersuchung wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne
von Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 2 SVG. anlässlich der
Konfronteinvernahme vom 10. September 2014 wurden sowohl X.___ wie auch
der Polizist B.___ zum Sachverhalt befragt.
E.
Am 21. Oktober 2014 teilte die Staatsanwaltschaft Graubünden X.___
mit, dass die Strafuntersuchung abgeschlossen sei. Gleichzeitig wurde die Über-
weisung des Strafbefehls ans Gericht in Aussicht gestellt und eine Frist von zehn
Tagen eingeräumt, um allfällige Beweisanträge zu stellen. X.___ beantragte
fristgerecht die Abklärung, über was für eine technische Freisprechanlage der Po-
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lizist B.___ in seinem Privatauto verfüge und die Auskunft, wie lange die an be-
sagter Stelle vorgesehene zweispurige Überholstrecke Richtung Süden sei und
wie diese genau verlaufe. Die Staatsanwaltschaft Graubünden hiess die Beweis-
anträge gut und nahm entsprechende Abklärungen vor.
E.
Auch nach Ergänzung der Strafunteruntersuchung hielt die Staatsanwalt-
schaft am Strafbefehl vom 10. Juli 2014 fest und überwies diesen am 11. Februar
2015 gestützt auf Art. 355 Abs. 3 lit. a und Art. 356 Abs. 1 StPO an das erstin-
stanzliche Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens.
Dem Strafbefehl vom 10. Juli 2014, welcher gemäss Art. 356 Abs. 1 StPO als An-
klageschrift gilt, liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
"Am 11. März 2014, um 10.22 Uhr, lenkte der Beschuldigte seinen Perso-
nenwagen SEAT Exeo, Kontrollschild (D) ___, auf der Autostrasse A13
von O.4___ kommend in Richtung O.3___. Nach dem C.___ Tunnel
fuhr der Beschuldigte unmittelbar hinter einem Sattelmotorfahrzeug. Gegen
Ende der dortigen Gerade, welche in eine langgezogene und übersichtliche
Linkskurve verläuft, begann er dieses Sattelfahrzeug, welches eine Ge-
schwindigkeit von 80 km/h innehatte, zu überholen, indem er auf die Ge-
genfahrbahn fuhr. Die Breite der Autostrasse beträgt dort 7.40 Meter (ohne
Pannenstreifen) und die beiden Fahrspuren sind durch eine Leitlinie (Sig.
6.03) voneinander getrennt. Dabei wurde ihm die freie Sicht von ca. 200 m
auf die dieser Linkskurve folgende unübersichtliche Rechtskurve zufolge
des vorausfahrenden Sattelmotorfahrzeuges während des Überholmanö-
vers teilweise eingeschränkt. Anlässlich seines Überholmanövers hatte der
Beschuldigte eine Geschwindigkeit von 100 km/h inne. In der Folge been-
dete er den Überholvorgang nach rund 125 Metern, so dass er sein Fahr-
zeug noch vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie bzw. erst ca. 75 m vor
der erwähnten unübersichtlichen Rechtskurve wieder auf die rechte Fahr-
spur zurückgelenkt hatte. Gegenverkehr herrschte zum Zeitpunkt des
Überholmanövers keiner. Durch seinen Überholvorgang schuf X.___ in
vorhersehbarer Weise zumindest für die anderen Verkehrsteilnehmer eine
erhöht abstrakte Gefahr."

F.
Am 9. Juni 2015 fand vor dem Bezirksgericht Hinterrhein die mündliche
Hauptverhandlung statt, zu welcher X.___ persönlich in Begleitung seines Ver-
teidigers erschien. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf eine Teilnahme. Die
Schlussanträge von X.___ lauteten wie folgt:
"1. X.___ sei vom Vorwurf der groben Verletzung von Verkehrsregeln
gemäss Art. 35 Abs. 2 und 4 in Verbindung mit Art. 90 Abs. 2 SVG
freizusprechen.

2.
Die Kosten des Verfahrens seien durch die Staatskasse zu tragen.
3.
X.___ sei für die entstandenen Aufwendungen der angemessenen
Vertretung seiner Interessen vollumfänglich zu entschädigen."

Seite 3 — 26

G.
Mit Urteil vom 9. Juni 2015, gleichentags mündlich eröffnet, schriftlich mit-
geteilt am 18. August 2015, erkannte das Bezirksgericht Hinterrhein wie folgt:
"1. X.___ ist schuldig der groben Verletzung der Verkehrsregeln ge-
mäss Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG in Verbindung mit Art. 90 Abs. 2 SVG.
2.a) Dafür wird X.___ mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je
CHF 60.00 bestraft.
b) Der Vollzug der Geldstrafe wird unter Ansetzung einer Probezeit von 2
Jahren aufgeschoben.
3.
Zudem wird X.___ mit einer Busse von CHF 500.00 bestraft.
4.a) Die Kosten des Verfahrens von CHF 3'665.00 (Untersuchungsgebüh-
ren und Auslagen der Staatsanwaltschaft Graubünden CHF 1'665.00,
Gerichtsgebühren CHF 2'000.00) gehen zu Lasten von X.___.

b) X.___ hat dem Bezirksgericht Hinterrhein folglich zu überweisen:

Busse
CHF 500.00

Verfahrenskosten
CHF 3'665.00

Abzüglich Depositum
CHF 1'350.00

Total
CHF 2'815.00

In Rechtskraft erwachsene Bussen und Verfahrenskosten sind innert
30 Tagen auf das Konto CK 038.267.100, IBAN CH 16 0077 4110
0382 6710 0, des Bezirksgerichts Hinterrhein bei der Graubündner
Kantonalbank zu bezahlen.

5.
(Rechtsmittelbelehrung).
6.
(Mitteilung)."
H.
Mit Berufungserklärung vom 8. September 2015 liess X.___ das folgende
Rechtsbegehren stellen:
"1. Die Ziffer 1, Ziffer 2 lit. a und b, Ziffer 3 sowie Ziffer 4 lit. a und b des
angefochtenen Entscheids vom 9. Juni 2015, mitgeteilt am 18. August
2015, seien aufzuheben und die Sache sei unter Erteilung von Wei-
sungen betreffend die zu wiederholenden Verfahrenshandlungen an
die Vorinstanz zur Neuentscheidung zurückzuweisen.

2.
Eventuell seien die Ziffer 1, Ziffer 2 lit. a und b, Ziffer 3 sowie Ziffer 4
lit. a und b des angefochtenen Entscheids vom 9. Juni 2015, mitgeteilt
am 18. August 2015, aufzuheben und es sei durch das Berufungsge-
richt in der Sache neu zu entscheiden.

3.
Subeventuell sei X.___ der Verletzung der Verkehrsregeln gemäss
Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG in Verbindung mit Art. 90 Abs. 1 SVG schul-
dig zu erkennen und hierfür angemessen zu bestrafen.

4.
Die Kosten sowohl des vorinstanzlichen als auch des hierseitigen Ver-
fahrens seien durch die Staatskasse zu tragen."

Seite 4 — 26

In formeller Hinsicht beantragte X.___ zudem die Durchführung eines Augen-
scheins sowie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur abschlies-
senden Beurteilung und Feststellung des Sachverhalts.
I.
An der mündlichen Berufungsverhandlung vor dem Kantonsgericht von
Graubünden vom 8. Dezember 2015 waren X.___ und sein privater Verteidiger,
Rechtsanwalt lic. iur. Peter Portmann, anwesend. Die Staatsanwaltschaft Grau-
bünden verzichtete auf eine Teilnahme. Der Vorsitzende eröffnete die Hauptver-
handlung um 09.05 Uhr. Einwände gegen die Zuständigkeit und die Zusammen-
setzung des Gerichts wurden nicht erhoben, woraufhin der Vorsitzende das Ge-
richt für legitimiert erklärte. Im Rahmen der Bereinigung der Vorfragen wurden die
Anträge des Berufungsklägers um Durchführung eines Augenscheins sowie Ein-
holung eines Sachverständigengutachtens von der I. Strafkammer nach einer kur-
zen Beratung abgewiesen. Anschliessend folgte die Einvernahme von X.___ als
beschuldigte Person. In der Folge nahm der Verteidiger in seinem Plädoyer zu der
Berufung Stellung. Dabei hielt er an den Anträgen gemäss Berufungserklärung
fest. Nach dem Schlusswort von X.___ wurde die mündliche Berufungsverhand-
lung geschlossen. Der Angeklagte verzichtete auf eine mündliche Urteilsverkün-
dung, weshalb ihm das Urteilsdispositiv noch am Tag der Verhandlung zugesen-
det wurde.
J.
Auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil sowie die weitere Begrün-
dung des Verteidigers in seinem Vortrag vor Schranken und die Aussagen von
X.___ anlässlich der richterlichen Befragung wird, soweit erforderlich, in den
nachstehenden Erwägungen eingegangen.
II. Erwägungen
1.a)
Die Berufung ist zulässig gegen Urteile erstinstanzlicher Gerichte, mit de-
nen das Verfahren ganz teilweise abgeschlossen worden ist (vgl. Art. 398
Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO; SR 312.0]). Die Berufung
bezieht sich somit auf Entscheide, in denen über Strafund Zivilfragen materiell
befunden wird (vgl. Art. 80 Abs. 1 Satz 1 StPO), in erster Linie auf Urteile, die auf
Verurteilung Freispruch lauten und den Fall vor der ersten Instanz damit ab-
schliessen (vgl. Luzius Eugster, in: Marcel Alexander Niggli/Marianne Heer/Hans
Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessord-
nung, 2. Aufl., Basel 2014, N. 2 zu Art. 398 StPO. Gemäss Art. 399 Abs. 1 StPO
ist die Berufung dem erstinstanzlichen Gericht innert zehn Tagen seit Eröffnung
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des Urteils schriftlich mündlich zu Protokoll anzumelden, worauf das erstin-
stanzliche Gericht die Anmeldung nach Ausfertigung des begründeten Urteils zu-
sammen mit den Akten dem Kantonsgericht als Berufungsinstanz übermittelt (vgl.
Art. 399 Abs. 2 StPO; Art. 22 des Einführungsgesetzes zur Schweizerischen
Strafprozessordnung [EGzStPO; BR 350.100]). Nach Art. 399 Abs. 3 StPO reicht
die Partei, die Berufung angemeldet hat, dem Kantonsgericht innert 20 Tagen seit
der Zustellung des begründeten Urteils eine schriftliche Berufungserklärung ein,
worin sie anzugeben hat, ob sie das Urteil vollumfänglich nur in Teilen anficht
(lit. a), welche Abänderungen des erstinstanzlichen Urteils sie verlangt (lit. b) und
welche Beweisanträge sie stellt (lit. c ).
b)
Gegen das am 9. Juni 2015 im Dispositiv mitgeteilte Urteil des Bezirksge-
richts Hinterrhein meldete der Berufungskläger am 18. Juni 2015 die Berufung an.
Nach Mitteilung des begründeten Urteils am 18. August 2015 reichte der Beru-
fungskläger alsdann fristgerecht am 8. September 2015 seine Berufungserklärung
ein. Da auch alle anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben sind, ist auf die
Berufung einzutreten.
2.
Als Berufungsinstanz kann das Kantonsgericht von Graubünden das erstin-
stanzliche Urteil in allen angefochtenen Punkten umfassend überprüfen (vgl. Art.
398 Abs. 2 StPO). Die Berufung ist somit ein vollkommenes Rechtsmittel, mit wel-
chem erstinstanzliche Urteile in sachverhaltsmässiger wie auch in rechtlicher Hin-
sicht mit freier Kognition überprüft werden können (vgl. Niklaus Schmid, Schweize-
rische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2013, N
1 zu Art. 398 StPO; Markus Hug/Alexandra Scheidegger, in: Donatsch/Hansjakob/
Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl.,
Zürich 2014, N 14 zu Art. 398 StPO). Tritt das Berufungsgericht auf die Berufung
ein, so fällt es ein neues Urteil, welches das erstinstanzliche ersetzt (vgl. Art. 408
StPO). Weist das erstinstanzliche Verfahren aber Mängel auf, die im Berufungs-
verfahren nicht geheilt werden können, so hebt das Berufungsgericht das ange-
fochtene Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptver-
handlung und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht zu-
rück (vgl. Art. 409 Abs. 1 StPO). Im vorliegenden Fall kann indessen das Beru-
fungsgericht wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt selber ein
Urteil fällen, infolgedessen eine Rückweisung nicht erforderlich ist.
3.
Die Vorinstanz ist der Sachverhaltsdarstellung in der Anklageschrift gefolgt
und hat X.___ der groben Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 35
Abs. 2 und 4 SVG in Verbindung mit Art. 90 Abs. 2 SVG für schuldig gesprochen.
Seite 6 — 26

In ihrer Begründung weist sie zunächst darauf hin, dass der Polizeibeamte
B.___ unter der strengen Strafandrohung von Art. 307 ausgesagt habe und sich
bei bewusst willkürlicher Verzeigung und falscher Protokollierung zudem einer
Amtspflichtverletzung nach Art. 312 StGB schuldig machen würde. Es seien aus-
serdem keine Gründe ersichtlich, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit von B.___
aufkommen lassen würden. Demgegenüber habe der Beschuldigte seine Aussa-
gen im Verlaufe der Strafuntersuchung mehrmals angepasst respektive relativiert.
Deswegen und aufgrund von Ungereimtheiten in seinen Aussagen könne deren
Würdigung nicht zu seinen Gunsten ausfallen. Ohnehin verkenne er, dass ihn
auch seine angepassten Darlegungen nicht wirklich zu entlasten vermöchten. Es
sei demnach erstellt, dass X.___ am fraglichen Tag im Bereich der Linkskurve
ein Sattelmotorfahrzeug überholt habe, das mit rund 80 km/h unterwegs gewesen
sein dürfte. Die Sichtdistanz zur folgenden unübersichtlichen Rechtskurve habe
ca. 200 m betragen. Den Überholvorgang habe X.___ nach rund 125 m been-
det, so dass er sein Fahrzeug noch vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie wie-
der auf die rechte Fahrspur zurückgelenkt habe, was bedeute, dass die Sichtdis-
tanz bei Abschluss des Überholvorgans bezogen auf die unübersichtliche Rechts-
kurve noch ca. 75 m betragen habe. Somit bleibe bei objektiver Würdigung des
gesamten Beweisergebnisses keine offensichtlich erheblichen und schlechter-
dings nicht zu unterdrückenden Zweifel, dass sich der Sachverhalt wirklich so
verwirklicht habe, wie er im Strafbefehl geschildert worden sei. Der Berufungsklä-
ger wendet dagegen ein, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb seine Sicht wäh-
rend des Überholvorgangs eingeschränkt gewesen sein sollte. Ausserdem habe
sich der Polizeibeamte B.___ zum Zeitpunkt des Überholmanövers mit seinem
Fahrzeug noch in der Galerie befunden, die dort eine Rechtskurve ziehe. Somit
habe er den Beginn und die Details des Überholvorgangs nicht einmal sehen kön-
nen. Auch habe dieser auf einer Luftaufnahme keine Angaben dazu machen kön-
nen, in welcher Position sich sein Fahrzeug befunden habe, als das Überholma-
növer begonnen worden sei. Für die Beurteilung des Sachverhalts sei aber von
enormer Bedeutung, dass hinreichend abgeklärt werde, wo genau der Berufungs-
kläger überholt habe und wie lange der Überholweg gewesen sei. Auch seine Ge-
schwindigkeit sowie diejenige des Sattelschleppers seien nicht in verbindlicher
Weise festgestellt worden. Weil damit keine genügenden Beweise im Recht lägen,
sei im Sinne des Grundsatzes in dubio pro reo von der für den Berufungskläger
vorteilhafteren Sachverhaltsdarstellung auszugehen. Im Folgenden gilt es dem-
nach ausgehend von den Rügen des Berufungsklägers zu prüfen, ob hinreichende
und rechtsgenügliche Beweise respektive Indizien dafür vorliegen, dass er tat-
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sächlich vor einer unübersichtlichen Kurve, und ohne Einblick in den nötigen
Raum zu haben, ein anderes Fahrzeug überholt hat.
a)
Ausgangspunkt bei der Beurteilung der vorliegend umstrittenen Sachver-
haltsdarstellung bildet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gemäss Art. 10
Abs. 2 StPO. Danach entscheidet das Gericht bei der Würdigung der Beweismittel
auch im Berufungsverfahren nach freier, aus dem Verfahren gewonnener persön-
licher Überzeugung, das heisst gemäss dem in der Schweiz geltenden beschränk-
ten Unmittelbarkeitsprinzip sowohl gestützt auf die in den Akten des Vorverfahrens
enthaltenen Beweisergebnisse als auch auf das Ergebnis der Hauptverhandlung
(vgl. Franz Riklin, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl.,
Zürich 2014, N. 4 zu Art. 10 Abs. 2 StPO). Die Beweislast für die dem Angeklagten
zur Last gelegte Tat liegt dabei grundsätzlich beim Staat, das heisst also bei den
Strafbehörden (Wolfgang Wohlers, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar
zur StPO, a.a.O., N. 6 zu Art. 10). An diesen Beweis sind hohe Anforderungen zu
stellen. Verlangt wird mehr als eine blosse Wahrscheinlichkeit, nicht aber ein ab-
soluter Beweis der Täterschaft. Nach der aus Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2
der Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK; SR 0.101) und Art. 10
Abs. 3 StPO fliessenden Beweiswürdigungsregel "in dubio pro reo" darf sich der
Strafrichter jedoch nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen
Sachverhalts überzeugt erklären, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel an den
tatsächlichen Voraussetzungen für ein verurteilendes Erkenntnis bestehen (vgl.
BGE 124 IV 86 E. 2.a). Bloss theoretische und abstrakte Zweifel sind indessen
nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht
verlangt werden kann. Es muss sich vielmehr um erhebliche und nicht zu unter-
drückende Zweifel handeln, mit andern Worten um solche, die sich nach der ob-
jektiven Rechtslage aufdrängen (vgl. BGE 120 Ia 31 E. 2.c). Aufgabe des Richters
ist es, ohne Bindung an Beweisregeln die an sich möglichen Zweifel zu überwin-
den und sich mit Überzeugung für einen bestimmten Sachverhalt zu entscheiden,
wobei die Bildung der Überzeugung objektivierund nachvollziehbar sein muss.
Die Schuld des Angeklagten muss sich dabei auf vorgelegte Beweise und Indizien
stützen, die vernünftige Zweifel in ausschliesslicher Weise zu beseitigen vermö-
gen (vgl. PKG 1987 Nr. 12; Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, Eine Einführung
auf der Grundlage des Strafprozessrechts des Kantons Zürich und des Bundes, 4.
Aufl., Zürich 2004, N. 294 f.). Diese allgemeine Rechtsregel kommt nicht schon
dann zur Anwendung, wenn Aussage gegen Aussage steht. Es ist vielmehr an-
hand sämtlicher sich aus den Akten ergebenden Umstände zu untersuchen, ob
die Darstellung der Anklage jene des Angeklagten den Richter zu überzeu-
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gen vermag. Erst wenn eine solche Überzeugung weder in der einen noch in der
anderen Richtung zu gewinnen ist, muss gemäss dem Grundsatz "in dubio pro
reo" der für den Angeklagten günstigere Sachverhalt angenommen werden und es
hat ein Freispruch zu erfolgen.
b)
Das für die Beweisführung geltende Gebot der freien Beweiswürdigung ver-
steht sich zudem als Abkehr von gesetzlichen und faktischen Beweisregeln. Ent-
sprechend sieht es alle zulässigen und verwertbaren Beweismittel als formell
gleichrangig an. Überzeugungskraft entfalten sie einzig im Umfang ihrer inneren
Autorität (vgl. Thomas Hofer, in: Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafpro-
zessordnung, a.a.O., N. 55, 56 zu Art. 10 StPO). Es kommt mit anderen Worten
nicht auf die Zahl und die Form der Beweismittel an, sondern auf deren Beweis-
kraft (vgl. Franz Riklin, a.a.O., N. 3 zu Art. 10 Abs. 2 StPO).
c)
Lehre und Rechtsprechung anerkennen des Weiteren, dass die Strafverfol-
gungsbehörden nicht alle möglichen Beweise zusammenzutragen haben. Viel-
mehr kann auf die Erhebung weiterer Beweise dann verzichtet werden, wenn die
für die Beurteilung der Sache erforderlichen Tatsachen bereits aufgrund der vor-
handenen Beweismittel feststehen und nicht zu erwarten ist, dass neue Beweis-
mittel das Ergebnis der freien Würdigung der vorhandenen Beweismittel zu er-
schüttern vermögen (vgl. BGE 134 I 140 E. 5.3; BGE 129 I 151 E. 5; BGE 125 I
127 E. 6c/aa; Thomas Hofer, in: Basler Kommentar zur StPO, a.a.O., N. 67 ff. zu
Art. 10). Das Gericht hat nur solchen Beweisanträgen zu folgen, die nach seiner
Würdigung rechtsund entscheiderheblich sind (vgl. Urteil des Bundesgerichts
6B_655/2012 vom 15. Februar 2013 E. 2.2).
4.
In seiner Berufungserklärung vom 5. Januar 2015 stellt der Berufungskläger
zwei Beweisanträge, an welchen er auch an der mündlichen Berufungsverhand-
lung festhielt. Zum einen beantragt er die Durchführung eines Augenscheins und
zum anderen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur abschliessen-
den Beurteilung und Feststellung des Sachverhalts. Ein Augenschein vor Ort und
Stelle beziehungsweise eine Nachstellung der konkreten Situation im Rahmen
eines Sachverständigengutachtens seien zur verbindlichen Ermittlung des Sach-
verhalts dringend notwendig.
a)
Nach Art. 193 Abs. 1 StPO besichtigt das Gericht Gegenstände, Örtlichkei-
ten und Vorgänge, die für die Beurteilung eines Sachverhalts bedeutsam sind,
aber nicht unmittelbar als Beweisgegenstände vorliegen, in einem Augenschein an
Ort und Stelle. Auf einen Augenschein ist nach Art. 193 Abs. 1 StPO ist aber zu
Seite 9 — 26

verzichten, wenn die fraglichen, zu beweisenden Tatsachen bereits aus unmittel-
bar vorliegenden Beweisgegenständen, wie zum Beispiel Fotografien, hervorge-
hen (Donatsch in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, a.a.O., N. 18 zu Art. 193). Die be-
deutet, dass für die Frage der Durchführung eines Augenscheins immer eine anti-
zipierte Beweiswürdigung in dem Sinne vorgenommen werden muss, als das Ge-
richt zu entscheiden hat, ob die durch den Augenschein wahrnehmbare Örtlichkeit
überhaupt für die Beurteilung eines strittigen Sachverhalts bedeutsam ist. Vorlie-
gend bringt der Berufungskläger vor, es habe nicht verbindlich festgestellt werden
können, wann er den Sattelschlepper auf der Strecke nach dem C.___ Tunnel
überholt habe und wie schnell dieser gefahren sei. Des Weiteren sei anlässlich
eines Augenscheins festzustellen, inwiefern die Sicht eines auf die Überholspur
beziehungsweise auf die Gegenfahrbahn einbiegenden Fahrzeugs überhaupt ein-
geschränkt sein könne. Dazu ist zu bemerken, dass eine Beurteilung der fragli-
chen Situation durch einen später durchgeführten Augenschein ohnehin nicht er-
bracht werden kann, da ein Augenschein nur Aufschluss über die aktuell herr-
schenden Gegebenheiten liefern kann. Gerade was den Anfangspunkt des Über-
holmanövers und die gefahrenen Geschwindigkeiten anbelangt, so dürfte ein Au-
genschein zu keinen entscheidrelevanten Ergebnissen führen. Wie nachfolgend
zu zeigen sein wird, werden die für die Beurteilung der vorliegenden Berufungssa-
che relevanten Sachverhaltselemente (der exakte Beginn des Überholmanövers
und die gefahrenen Geschwindigkeit gehören nicht dazu) zudem bereits durch
andere Beweismittel, namentlich ein Fotoblatt, eine Situationsskizze und ein Luft-
bild (vgl. act. E.3 Nr. 3-5) sowie durch die Ausführungen des Berufungsklägers
selbst, rechtsgenüglich erstellt. Des Weiteren wird von den für den Berufungsklä-
ger günstigsten Verhältnissen, damit auch der freien Sicht auf die Strecke bis zur
unübersichtlichen Kurve beim D.___ ausgegangen. Es kann demnach auf einen
Augenschein verzichtet werden und der dahingehende Beweisantrag wird abge-
wiesen.
b)
Gleiches hat für die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur ab-
schliessenden Beurteilung und Feststellung des Sachverhalts zu gelten. Auch ein
solches könnte einzig aufgrund der Aussagen der am Vorfall beteiligten Personen
erstellt werden, weshalb davon ebenfalls keine neuen Erkenntnisse zu erwarten
wären. Nachdem der Endpunkt des Überholmanövers aufgrund der übereinstim-
menden Aussagen des Zeugen und des Berufungsklägers feststeht, lässt sich der
übrige Sachverhalt auch ohne Sachverständigengutachten hinreichend rekonstru-
ieren. Auf die Einholung einer Expertise wird daher verzichtet und der entspre-
chende Beweisantrag abgelehnt.
Seite 10 — 26

5.
In einem ersten Schritt sind anhand Akten sowie der Rügen des Berufungs-
klägers die für die Beurteilung des Überholmanövers relevanten Sachverhaltsele-
mente zu ermitteln.
a)
Zunächst steht unbestrittenermassen fest, dass X.___ am 11. März 2014
auf der A13 in Richtung Süden gefahren ist und zwischen dem C.___tunnel und
dem D.___ ein vor ihm fahrendes Sattelmotorfahrzeug überholt hat. Wie sich
aus den Akten ergibt und auch aus einem früheren vom Berufungskläger zitierten
- Fall (vgl. das Urteil der I. Strafkammer des Kantonsgerichts von Graubünden
SK1 14 18 vom 12. November 2014) bekannt ist, endet nach dem C.___tunnel
die Sicherheitslinie und es beginnt eine Leitlinie in der Mitte der Fahrbahn. Die
Länge dieser Leitlinie beträgt gemäss Messung der Kantonspolizei Graubünden
bis zum Beginn der doppelten Sicherheitslinie in der Kurve beim D.___ 254 m
und die die Sichtdistanz ab Ende der Sicherheitslinie beziehungsweise Beginn der
Leitlinie nach dem C.___tunnel bis in die Kurve beim D.___ 354 m. Des Wei-
teren steht aufgrund der übereinstimmenden Aussagen des Berufungsklägers und
des Zeugen B.___ fest, dass das Überholmanöver vor Beginn der doppelten
Sicherheitslinie abgeschlossen wurde. So gab X.___ im Rahmen seiner polizei-
lichen Einvernahme am Tage des Vorfalls zu Protokoll, das Ende seines Manö-
vers sei unmittelbar vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie gewesen. Er habe
diese nicht gestreift (vgl. act. E.3 Nr. 5 Frage 11). Entsprechend zeichnete er da-
mals auch das Ende des Überholvorgangs auf der vorgehaltenen Luftaufnahme
dicht am Ende der Leitlinie ein. Anlässlich der Konfronteinvernahme vom 10. Sep-
tember 2014 (act. E.3 Nr. 29 Frage 17) bestätigte der Berufungskläger, dass das
von ihm eingezeichnete Ende des Überholmanövers auf jeden Fall zutreffe. Er sei
vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie wieder auf seiner Fahrspur gewesen.
Auch der Zeuge B.___ gab bereits in seinem Polizeirapport an, X.___ sei
kurz vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie wieder auf die Südspur eingebogen
(act. E.3 Nr. 1). An der mündlichen Hauptverhandlung vor Kantonsgericht vom 8.
Dezember 2015 sagte X.___ sodann auf entsprechende Frage hin aus, es sei
sehr schwierig, das Ende des Überholmanövers festzulegen. Er könne dies nicht
sagen. Nachdem er am LKW vorbei gewesen sei, sei er wieder eingeschert. Er
habe ausgesagt, er sei spätestens an der von ihm eingezeichneten Stelle wieder
auf seiner Fahrspur gewesen. Ob es eher gewesen sei, könne er nicht sagen.
Obwohl der Berufungskläger anlässlich der Berufungsverhandlung seine früheren
Aussagen relativierte, waren diese derart eindeutig (das von ihm eingezeichnete
Ende des Überholmanövers treffe "auf jeden Fall" zu) und wurden auch durch den
Zeugen bestätigt, so dass darauf abgestellt werden kann. Dies insbesondere auch
Seite 11 — 26

unter dem Aspekt, dass der "Aussage der ersten Stunde" vor der Polizei besonde-
re Aufmerksamkeit gebührt, erfolgt sie doch zeitnah zum Geschehen und ist sie
weniger mit Erinnerungslücken und allfälligen Absprachen behaftet als eine Aus-
sage, welche Wochen Monate später erfolgt (vgl. dazu auch PKG 1991 Nr.
39 sowie im Bereich des Sozialversicherungsrechts: BGE 121 V 47, wonach die
spontanen "Aussagen der ersten Stunde" in der Regel unbefangener und zuver-
lässiger sind als die späteren Darstellungen). Kommt hinzu, dass aufgrund der
Aussagen des Berufungsklägers betreffend die gefahrenen Geschwindigkeiten ein
wesentlich früheres Einbiegen infolge der beanspruchten Strecke nicht möglich
gewesen wäre. Demzufolge muss davon ausgegangen werden, dass X.___
entsprechend seiner ersten Befragungen kurz vor Beginn der doppelten Sicher-
heitslinie das Überholmanöver abgeschlossen hatte.
b)
Der Berufungskläger rügt, das angefochtene Urteil und vor allem die Ankla-
geverfügung respektive der Schlussbericht würden sich weder zu den Längen des
überholten und des überholenden Fahrzeugs äussern noch verbindliche Angaben
zu den jeweiligen Geschwindigkeiten der Fahrzeuge machen. Implizit rügt er damit
eine Verletzung des Anklagegrundsatzes nach Art. 9 StPO.
ba)
Nach dem Anklagegrundsatz gemäss Art. 9 StPO kann eine Straftat nur
gerichtlich beurteilt werden, wenn die Staatsanwaltschaft gegen eine bestimmte
Person wegen eines genau umschriebenen Sachverhalts beim zuständigen Ge-
richt Anklage erhoben hat. Das Bundesgericht hat bereits vor Inkrafttreten der
Schweizerischen Strafprozessordnung in langjähriger Rechtsprechung aus Art. 29
Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie aus Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK
Inhalt und Tragweite des Anklagegrundsatzes abgeleitet. Diese Grundsätze behal-
ten auch unter Art. 9 StPO Gültigkeit. Demnach bestimmt die Anklageschrift den
Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Die Anklage hat die
der beschuldigten Person zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzi-
se zu umschreiben, dass die Vorwürfe in objektiver und subjektiver Hinsicht genü-
gend konkretisiert sind. Es muss aus ihr erkennbar sein, inwiefern die inkriminierte
Handlung den objektiven und subjektiven Tatbestand des angerufenen Straftatbe-
standes erfüllt. Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachver-
halt gebunden, nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebe-
hörde (vgl. Art. 350 Abs. 1 StPO). Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den
Schutz der Verteidigungsrechte der angeschuldigten Person und dient dem An-
spruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 133 IV 235 E. 6.2 f. mit
Hinweisen). Das Akkusationsprinzip hat somit eine Bindung des Gerichts an den
Inhalt der Anklage und an die angeklagte Person zur Folge. Die beschuldigte Per-
Seite 12 — 26

son darf an der Hauptverhandlung nicht mit neuen Anschuldigungen überrascht
werden (vgl. Franz Riklin, Kommentar StPO, 2. Aufl., Zürich 2014, N. 6 zu Art. 9).
bb)
Die Staatsanwaltschaft führte in ihrem Strafbefehl als Anklageschrift (vgl.
hierzu Art. 356 Abs. 1 StPO) aus, dass der Beschuldigte nach dem C.___ Tun-
nel gegen Ende der Geraden, welche in eine langgezogene und übersichtliche
Linkskurve verlaufe, begonnen habe, ein Sattelmotorfahrzeug zu überholen, wel-
ches eine Geschwindigkeit von 80 km/h inngehabt habe. Dem Beschuldigten sei
die freie Sicht von ca. 200 m auf die der Linkskurve folgende unübersichtliche
Rechtskurve zufolge des vorausfahrenden Sattelmotorfahrzeugs während des
Überholmanövers teilweise eingeschränkt worden. Anlässlich seines Überholma-
növers habe der Beschuldigte eine Geschwindigkeit von 100 km/h inngehabt. In
der Folge habe er den Überholvorgang nach rund 125 Metern beendet, so dass er
sein Fahrzeug noch vor Beginn der doppelten Sicherheitslinie beziehungsweise
erst ca. 75 m vor der erwähnten unübersichtlichen Rechtskurve wieder auf die
rechte Fahrspur zurückgelenkt hatte. Durch seinen Überholvorgang habe X.___
in vorhersehbarer Weise zumindest für die anderen Verkehrsteilnehmer eine er-
höhte abstrakte Gefahr geschaffen (vgl. act. E.3 Nr. 18). Damit ist der X.___ zur
Last gelegte Verstoss gegen Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG in objektiver und subjekti-
ver Hinsicht präzise umschrieben. Es war für ihn erkennbar, weshalb er gegen die
aufgeführten Normen verstossen haben soll. Die Geschwindigkeiten der beiden
am Manöver beteiligten Fahrzeuge sind entgegen der Rüge des Berufungsklägers
im Strafbefehl festgelegt. Dass hingegen in der Anklageschrift keine Angaben über
die Längen des überholten und des überholenden Fahrzeugs nicht aufgeführt
werden, vermag keine Verletzung des Anklagegrundsatzes im Zusammenhang mit
Art. 35 Abs. 2 SVG zu begründen. Die für die Berechnung des Überholweges not-
wendigen Distanzen brauchen nicht in der Anklageschrift selber enthalten zu sein.
Die Angaben finden sich im Schlussbericht der Staatsanwaltschaft vom 11. Feb-
ruar 2015 (act. E.3 Nr. 37). Abgesehen davon ist die I. Strafkammer des Kantons-
gerichts, wie oben ausgeführt, nicht an die rechtlichen Erwägungen der Staatsan-
waltschaft gebunden, sondern sie überprüft mit freier Kognition, ob die Vorausset-
zungen für eine Verurteilung gegeben sind. Es obliegt somit dem Kantonsgericht
festzustellen, ob X.___ bei Beginn des Überholmanövers unter Berücksichti-
gung eines entgegenkommenden Fahrzeugs eine ausreichende Sichtdistanz zum
Überholen des Sattelschleppers hatte. Da somit keine Verletzung des Anklage-
grundsatzes vorliegt, kommt unter diesem Gesichtspunkt ein Freispruch nicht in
Betracht.
Seite 13 — 26

bc)
Die gefahrenen Geschwindigkeiten lassen sich vorliegend aufgrund der
Aussagen des Berufungsklägers festlegen. Bezüglich seiner eigenen Geschwin-
digkeit führte er in der ersten polizeilichen Einvernahme am 11. März 2014 aus,
seine Geschwindigkeit beim Überholen habe um die 100 km/h betragen (vgl. act.
E.3 Nr. 5 Frage 6). Im Rahme n der Konfronteinvernahme vom 10. September
2014 korrigierte er diese Aussage dahingehend, als er die von ihm gefahrene Ge-
schwindigkeit auf 100 - 105 km/h schätzte (act. E.3 Nr. 29 Frage 11). Anlässlich
der Hauptverhandlung vor dem Kantonsgericht von Graubünden sprach er sodann
von einer Überholgeschwindigkeit von um die 100 -110 km/h. Obwohl die gesetzli-
che Höchstgeschwindigkeit an der fraglichen Örtlichkeit nur 100 km/h betrug und
der Berufungskläger sogleich zu Beginn der ersten polizeilichen Einvernahme be-
tont hatte, er habe keine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen (vgl. act. E.3
Nr. 5 Frage 1) ist für die Ermittlung des Überholwegs zu seinen Gunsten von einer
Geschwindigkeit von 110 km/h auszugehen. Dass er noch schneller gefahren ist,
wird von ihm nicht behauptet und es bestehen aufgrund der Zeugenaussage von
B.___ auch keine Anhaltspunkte. Im Zusammenhang mit der Geschwindigkeit
des überholten Sattelmotorfahrzeugs führte der Polizist B.___ im Polizeirapport
aus, er sei in einer Kolonne als viertes Fahrzeug hinter dem Sattelschlepper ge-
fahren. Dies mit einer Geschwindigkeit von rund 80 km/h. In der Konfronteinver-
nahme bestätigte der Zeuge diese Angabe (vgl. act. E.3 Nr. 29 Frage 5). X.___
entgegnete, dass das Fahrzeug seines Erachtens eher mit 70 km/h gefahren sei.
Auch in der Befragung an der Hauptverhandlung vor Kantonsgericht sagte er aus,
das überholte Fahrzeug sei keine 80 km/h gefahren. Da die Geschwindigkeit des
Sattelmotorfahrzeugs somit nicht abschliessend festgestellt werden kann, ist dies-
bezüglich auf die für den Berufungskläger günstigste Annahme, nämlich 70 km/h,
abzustellen.
bd)
Die Längen der am Manöver beteiligten Fahrzeuge ergeben sich zum einen
aus dem Polizeirapport (act. E.3 Nr. 1), worin festgehalten wird, dass der Beru-
fungskläger mit einem Personenwagen der Marke SEAT E Exeo unterwegs war.
Dieser Fahrzeugtyp weist eine Länge von 4.6 Meter auf. Beim Sattelmotorfahr-
zeug erscheint die von der Vorinstanz angenommene Länge von 16 m als ange-
messen.
c)
Was die Ausund Einbiegestrecke anbelangt, kann ebenfalls auf die Aus-
sagen von X.___ anlässlich der Konfronteinvernahme vom 10. September 2014
(act. E.3 Nr. 29 Frage 22) verwiesen werden. Damals gab er zu Protokoll, bei der
Einleitung seines Überholmanövers habe er zum Vordermann einen Abstand von
10 - 15 Metern eingehalten. Beim Einscheren vor dem LKW habe dieser Abstand
Seite 14 — 26

ca. 20 Meter betragen. Er sei aber keineswegs vor diesem LKW eingebogen, so
dass er ihn behindert hätte. Total betrug die Ausund Einbiegestrecke gemäss
den Angaben des Berufungsklägers somit rund 35 m. Diese Abstände sind bei
den festgestellten gefahrenen Geschwindigkeiten zu gering bemessen. Gemäss
Art. 34 Abs. 4 ist beim Hintereinanderfahren stets ein ausreichender Abstand zu
halten, so dass auch bei überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahr-
zeugs noch rechtzeitig angehalten werden kann, was bei einer Geschwindigkeit
von 70 km/h vor Beginn des Ausscherens und einem Abstand von 10 - 15 Metern
keinesfalls gegeben ist. Sollte der Berufungskläger tatsächlich ausreichend Ab-
stand eingehalten haben, was er ausdrücklich bekräftigt, so wäre von grösseren
Abständen auszugehen. Gemäss Giger beträgt die Ausund die Einbiegestrecke
ungefähr der in km/h ausgedrückten Geschwindigkeit des überholenden Fahr-
zeugs (vgl. Hans Giger, Kommentar SVG, 8. Aufl., Zürich 2014, N. 11 zu Art. 35),
gemäss Bussy/Rusconi bis zu einer Geschwindigkeit von 70 km/h je 30 m (vgl.
hierzu Stefan Maeder in: Niggli/Probst/Waldmann [Hrsg.], Basler Kommentar,
Strassenverkehrsgesetz, Basel 2014, N. 41 zu Art. 35). Jedoch ist auch bezüglich
dieses Punktes von der für den Beschuldigten günstigeren Annahme, somit von
einer Ausund Einbiegestrecke von insgesamt 35 m (15 m + 20 m) auszugehen.
d)
Nach dem Gesagten steht fest, dass sich sämtliche, für die Berechnung des
Überholwegs erforderlichen Sachverhaltselemente aus den Ausführungen des
Berufungsklägers selbst ermitteln lassen. Auf die Aussagen des Zeugen B.___
braucht demgegenüber nicht abgestellt werden. Damit erübrigt sich auch, auf die
Rügen des Berufungsklägers, wonach zu bezweifeln sei, dass B.___ aufgrund
seiner Position in der Kolonne er fuhr an vierter Stelle hinter dem Sattelmotor-
fahrzeug - den Überholvorgang im Detail beobachten konnte, näher einzugehen.
Auch der exakte Beginn des Überholmanövers kann wie die nachfolgenden Er-
wägungen zeigen werden offen gelassen werden, da die einsehbare Strecke un-
ter Berücksichtigung der vorstehend ermittelten Faktoren ohnehin nicht ausreichte,
um ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer das Überholmanöver durchzu-
führen.
6.
Das Überholen und Vorbeifahren an Hindernissen ist gemäss Art. 35 Abs. 2
SVG nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Ge-
genverkehr nicht behindert wird. Frei ist der nötige Raum, wenn er frei von Hin-
dernissen ist und mit dem Auftauchen von solchen auch nicht gerechnet werden
muss (vgl. René Schaffhauser, Grundriss des Schweizerischen Strassenverkehrs-
rechts, Band I, 2. Aufl., Bern 2002, N. 722). In unübersichtlichen Kurven darf ge-
mäss Art. 35 Abs. 4 SVG nicht überholt werden, weil dort der nötige Raum nicht
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übersichtlich ist. Der Wortlaut "in übersichtlichen Kurven" ist mit "bei" "im Be-
reich von derartigen Kurven" gleichzusetzen (BGE 109 IV 134 E. 3).
a)
Gemäss konstanter Rechtsprechung und entgegen der Ansicht des Beru-
fungsklägers muss nicht nur die für den Überholvorgang benötigte Strecke über-
sichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahr-
zeug bis zu jenem Punkt zurücklegt, wo der Überholende die linke Strassenseite
freigegeben haben wird. Es genügt daher nicht, dass letzterer danach trachtet,
den Überholvorgang kurz vor der unübersichtlichen Kurve abzuschliessen, son-
dern er muss ihn schon so weit vor der Biegung beendet haben, dass ein während
des Überholens auf der Gegenfahrbahn auftauchendes Fahrzeug seinen Weg un-
ter Einhaltung einer angemessenen Geschwindigkeit fortsetzen kann, ohne ge-
fährdet zu werden. Der Überholende muss von Anfang an die Gewissheit haben,
sein Überholmanöver sicher und ohne Gefährdung Dritter abschliessen zu kön-
nen. In BGE 118 IV 277 E. 5b nahm das Bundesgericht an, dass auf Hauptstras-
sen ausserorts beim Gegenverkehr mit Geschwindigkeit von 90 km/h zu rechnen
ist (vgl. zum Ganzen das Urteil des Bundesgerichts 6B_104/2015 vom 20. August
2015 E. 2.2). Erkennt der Überholende während des Überholvorgangs, dass er es
nicht gefahrlos zu Ende fahren kann, so ist er verpflichtet, das Manöver abzubre-
chen und sich hinter dem zu Überholenden in den Verkehr einzuordnen (vgl. Urteil
des Bundesgerichts 6B_1209/2013 vom 26. Juni 2014 E. 1.1.1; 6B_508/2012 vom
3. Mai 2013 E. 1.1). Der Überholende muss von Anfang an die Gewissheit haben,
sein Überholmanöver sicher und ohne Gefährdung Dritter abschliessen zu kön-
nen, das heisst, er muss sich vergewissern, dass die gesetzlichen Voraussetzun-
gen in dem Zeitpunkt erfüllt sind, wo er zum Überholen ansetzt (vgl. Urteil des
Bundesgerichts 6B_1209/2013 vom 26. Juni 2014 E. 1.1.1). Wer keine Gewissheit
hat, bevor er das Überholmanöver einleitet, gefahrlos vor dem Ende des für ihn
sichtbaren Raums wieder einbiegen zu können, verletzt somit Art. 35 Abs. 2 SVG
(vgl. BGE 129 IV 155 E. 3.2.1; PKG 1997 Nr. 24 mit weiteren Hinweisen; Philippe
Weissenberger, a.a.O., N. 17 zu Art. 35 SVG; René Schaffhauser, a.a.O., N. 551).
b)
Weiter ist beim Beenden des Überholvorgangs ein Sicherheitsabstand so-
wohl gegenüber dem überholten Fahrzeug als auch gegenüber dem allenfalls ent-
gegenkommenden Fahrzeug einzuhalten. Was den Abstand zum entgegenkom-
menden Fahrzeug betrifft, hat das Kantonsgericht von Graubünden in Anlehnung
an Jürg Boll wiederholt ausgeführt, dass ein Sicherheitsabstand von mindestens 2
Sekunden einzuhalten ist. So führte der Kantonsgerichtsausschuss Graubünden in
seinem Urteil SB 02 45 vom 23. Januar 2003 in E. 4 und 5 mit überzeugender Be-
gründung aus, dass ein Abstand von zwei Sekunden der Sache angemessen sei
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(letztmals bestätigt mit Urteil der I. Strafkammer des Kantonsgerichts von Grau-
bünden vom 12. November 2014 SK1 14 18 E. 8.c; vgl. auch Jürg Boll, Grobe
Verkehrsregelverletzung, Davos 1999, S. 84). Diese Praxis ist vom Bundesgericht
in seinem Urteil 6B_104/2015 vom 20. August 2015 anerkannt worden. Demnach
ist die doppelte Einrechnung der Sicherheitszeit von zwei Sekunden (gegenüber
dem überholten Fahrzeug als auch gegenüber dem allenfalls entgegenkommen-
den Fahrzeug) physikalisch begründet. Würde die Sicherheitszeit nur dem ersten
(überholenden) Fahrzeug zugerechnet, käme es zum Aufeinandertreffen beider
Fahrzeuge, ohne dass jenes erste Fahrzeug diese Strecke tatsächlich zurückle-
gen konnte. Das ist darin begründet, dass das zweite Fahrzeug ohne Sicherheits-
zeit fahren würde und auf das erste Fahrzeug trifft, bevor dieses die für die 2-
Sekunden-Sicherheitszeit benötigte Strecke befahren kann. Wird beiden Fahrzeu-
gen die individuelle Sicherheitszeit zu ihren ordentlichen Fahrstrecken hinzuge-
rechnet, kreuzen sie sich genau in dem Zeitpunkt, in dem jedes der beiden Fahr-
zeuge die für die individuelle Sicherheitszeit benötigte Strecke zurückgelegt hat -
und damit (relativ) ungefährlich im Zeitpunkt, in welchem das überholende Fahr-
zeug bereits 2 Sekunden wieder auf seinem rechten Fahrstreifen fährt. Die Be-
rechnungsmethode führt erstens zu einem Einbiegen, ohne das überholte Fahr-
zeug zu gefährden (insbesondere muss es nicht verlangsamen, um das Überholen
zu ermöglichen), und zweitens dazu, dass dem vortrittsberechtigten herannahen-
den Fahrzeug die Fahrbahn (lediglich) zwei Sekunden vor dem Kreuzen freigege-
ben wird, wodurch dessen Insassen nicht erschreckt werden und sein Lenker nicht
bremsen muss, um eine gefährliche Situation zu vermeiden (vgl. Urteil des Bun-
desgerichts 6B_104/2015 vom 20. August 2015 E. 2.10).
7.
Es gilt nun in einem nächsten Schritt festzustellen, welchen Überholweg der
Berufungskläger gestützt auf seine eigenen Angaben zurücklegen musste respek-
tive wie lange der Überholvorgang dauerte.
a)
Der Überholweg besteht aus der Ausbiegestrecke, dem Parallelweg und
der Einbiegestrecke. Er ist abhängig von den Längen und Geschwindigkeiten der
beteiligten Fahrzeuge. Die Länge des Überholwegs kann gemäss Giger annäh-
rungsweise wie folgt berechnet werden (vgl. Giger, a.a.O., N. 10 zu Art. 35): Über-
holweg = Durchschnittliche Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeuges x
(Aus- + Einbiegestrecke in m + Länge des überholenden Fahrzeuges + Länge des
überholten Fahrzeuges) / (durchschnittliche Geschwindigkeit des überholenden
Fahrzeuges in km/h - durchschnittliche Geschwindigkeit des überholten Fahrzeu-
ges in km/h). Obwohl das Kantonsgericht von Graubünden bereits mehrfach fest-
gestellt hat, dass sich die Giger-Formel in vieler Hinsicht als ungenau erweist, so
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kann mit ihr jedoch immerhin auf eine einfache Art und Weise ein Annährungswert
berechnet werden, so dass dieser Wert durchaus im Sinne einer Richtschnur An-
wendung finden kann. Dies rechtfertigt sich insbesondere, weil in den wenigsten
Fällen der genaue Überholvorgang und damit der exakte Überholweg für den frag-
lichen Zeitpunkt rekonstruiert und errechnet werden kann (vgl. hierzu das Urteil
der I. Strafkammer des Kantonsgerichts SK1 14 18 vom 12. November 2014 mit
weiteren Hinweisen). Gestützt auf die oben gemachten Angaben resultiert somit
ein Überholweg von 152.9 m [110 x (15+20+4.6+16) / (110-70)]. Bei einer Ge-
schwindigkeit von 110 km/h (entspricht 30.5 m/s) dauerte das Überholmanöver
somit ca. 5.0 sec. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass in dieser Zeit ein (allfäl-
lig) herannahendes Fahrzeug mit der Geschwindigkeit von 90 km/h (entspricht
25.0 m/s) ebenfalls 125.0 m zurückgelegt hätte. Des Weiteren ist eine Sicher-
heitsmarge von 2 Sekunden zu berücksichtigen. Davon ausgehend, dass X.___
das vor ihm fahrende Sattelmotorfahrzeug mit 110 km/h überholte, legte er in zwei
Sekunden 61.1 m zurück. Ein entgegenkommendes Fahrzeug hätte mit 90 km/h in
2 Sekunden 50.0 m zurückgelegt. Somit würden die beiden Fahrzeuge in 2 Se-
kunden 111.1 m zurücklegen. Diese Strecke ist als reine Sicherheitsdistanz zum
Überholweg von X.___ und der Strecke des allfällig entgegenkommenden Fahr-
zeuges während des Überholvorgangs hinzuzuaddieren. Um nun das Überholma-
növer im Sinne von Art. 35 Abs. 2 SVG korrekt durchführen zu können, hätte die
frei überschaubare Strecke mindestens 389 m betragen müssen (152.9 m + 125.0
m + 111.1 m).
b)
Die Vorinstanz wie auch die Staatsanwaltschaft gingen von einer frei er-
kennbaren Strecke von 200 m, zumal der Berufungskläger gemäss Aussagen des
Polizisten B.___ rund 200 m vor der Kurve sein Überholmanöver begonnen hat-
te. Ausserdem sei die Sicht durch den voranfahrenden Sattelschlepper teilweise
eingeschränkt gewesen. Der Berufungskläger hält diese Feststellung für unzutref-
fend. Die besagte Überholstrecke beschreibe bis zu deren Abschluss eine weite
aber leichte Linkskurve mit anschliessender Geraden, die danach in eine Rechts-
kurve münde. Aufgrund der Örtlichkeit habe ihm der überholte Sattelschlepper
nicht die Sicht nehmen können. Dieser Auffassung des Berufungsklägers ist zu
folgen. Wie die Luftaufnahme (vgl. act. E.3 Nr. 5) zeigt, dass die Strasse an der
fraglichen Stelle eine langgezogene Linkskurve aufweist, bevor sie nach einem
kurzen geraden Strassenabschnitt in eine unübersichtliche Rechtskurve, an deren
Beginn die Leitlinie durch eine doppelte Sicherheitslinie abgelöst wird, übergeht.
Aufgrund dieser Gegebenheiten ist anzunehmen, dass die Sicht des Berufungs-
klägers entgegen den Ausführungen der Vorinstanz und der Staatsanwaltschaft an
Seite 18 — 26

der fraglichen Stelle nicht durch den ihm vorausfahrenden Sattelschlepper ver-
deckt gewesen sein konnte. Auch eine Behinderung der Sicht durch Pflanzen
kann aufgrund der Jahreszeit zum Zeitpunkt des Vorfalls ausgeschlossen werden.
Es kann somit zu Gunsten des Berufungsklägers davon ausgegangen werden,
dass er zu Beginn des Überholmanövers freie Sicht auf die Fahrbahn bis zum Be-
ginn der unübersichtlichen Rechtskurve hatte.
c)
Gemäss Messungen der Kantonspolizei, welche auch bereits in dem vom
Berufungskläger zitierten Urteil der I. Strafkammer des Kantonsgerichts SK1 14 18
vom 12. November 2014 Anwendung fanden, beträgt die Länge der Leitlinie bis
zum Beginn der doppelten Sicherheitslinie in der Kurve beim D.___ insgesamt
254 m und die Sichtdistanz ab Ende der Sicherheitslinie beziehungsweise Beginn
der Leitlinie nach dem C.___tunnel bis in die Kurve beim D.___ 354 m. An-
lässlich der polizeilichen Einvernahme vom 11. März 2014 zeichnete X.___ den
Beginn seines Überholmanövers elf Leitlinien nach Ende der Sicherheitslinie ein
(vgl. act. E.2 Nr. 5). In der Konfronteinvernahme vom 10. September 2014 führte
er diesbezüglich aus, es könne auch sein, dass er bereits drei Leitlinien zuvor das
Überholmanöver eingeleitet habe (act. E.3 Nr. 29 Frage 17). Der Polizist B.___
sagte dazu aus, er habe gesehen, wie X.___ auf der Höhe der 13. Leitlinie auf
die Gegenfahrbahn ausgeschwenkt sei (act. E.3 Nr. 29 Frage 18). Daraus ergibt
sich, dass der Beginn des Überholvorgangs nach Angaben des Beschuldigten
mindestens 8 Leitlinien und damit mindestens 72 m (Leitlinie ca. 6 m, Abstand ca.
3 m) nach dem Ende der Sicherheitslinie erfolgte. Die Sichtdistanz bis zur Kurve
betrug damit auch gemäss der günstigsten Variante basierend auf den Aussagen
von X.___ rund 282 m, was für die gefahrlose Durchführung des Überholmanö-
vers bei einer notwendigen freien Sichtdistanz von 389 m nicht ausreichend war.
Daran vermag entgegen der Auffassung des Berufungsklägers auch der Umstand,
dass das Überholen an besagter Stelle nicht generell verboten ist, nichts zu än-
dern. Nur weil keine Überholverbot signalisiert eine Sicherheitslinie ange-
bracht ist, darf sich der Automobilist keineswegs darauf verlassen, dass ein Über-
holmanöver grundsätzlich erlaubt ist. Vielmehr hängt die Beurteilung der Zulässig-
keit wie vorstehend aufgezeigt von den konkreten Umständen, insbesondere
den gefahrenen Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge, ab. Der Überhol-
weg ist stets individuell zu ermitteln, weshalb generelle Aussagen, ob ein Über-
holmanöver an einer bestimmten Stelle zulässig ist, von vornherein ausser Be-
tracht fallen. Im vorliegenden Fall reichte die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen
dem Fahrzeug des Berufungsklägers und des überholten Sattelmotorfahrzeugs
nicht aus, um an besagter Stelle gefahrenlos überholen zu können.
Seite 19 — 26

d)
Nichts anderes ergibt sich auch aus der Auswertung des Luftbildes mit den
vom Berufungskläger in seiner polizeilichen Einvernahme vom 11. März 2014 ein-
gezeichneten Positionen seines Fahrzeugs vor und nach Abschluss des Überhol-
vorgangs (act. E.3 Nr. 5) sowie deren Präzisierung anlässlich der Konfronteinver-
nahme vom 10. September 2014. Der Überholweg betrug demnach rund 160 m
und die Sichtdistanz rund 246 m. Bei einer Geschwindigkeit des Berufungsklägers
von 110 km/h (entspricht 30.5 m/s) ergibt sich daraus, dass das Überholmanöver
rund 5.25 sec. dauerte. Unter Einrechnung einer Sicherheitsmarge wie vorstehend
beschrieben von 2 Sekunden resultiert eine Fahrstrecke von X.___ von rund
221 m (30.5 m/s x 7.25 s). Ein entgegenkommendes Fahrzeug würde bei einer
Geschwindigkeit von 90 km/h (entspricht 25 m/s), ebenfalls unter Berücksichtigung
einer Sicherheitsmarge von 2 sec., in dieser Zeit rund 181 m zurücklegen. Somit
müsste die Sichtdistanz zu Beginn des Überholmanövers, unabhängig von den
Dimensionen der am Manöver beteiligten Fahrzeuge, auch gemäss dieser Be-
rechnungsmethode mindestens 402 m betragen. Es besteht somit ein Sicher-
heitsmanko von rund 156 m.
e)
Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass unabhängig von den
Aussagen des Zeugen B.___ und selbst unter Einbezug der für den Berufungs-
kläger günstigsten Annahmen aufgrund seiner eigenen Aussagen die einsehbare
Strecke nicht ausreichend war, um ein Überholmanöver durchzuführen, ohne ein
allfällig entgegenkommendes Fahrzeug zu gefährden. Damit liegt eine Verletzung
von Art. 35 Abs. 2 SVG vor. Da das fragliche Überholmanöver zudem erst im Be-
reich der unübersichtlichen Rechtskurve beim D.___ abgeschlossen werden
konnte, liegt zudem ein Verstoss gegen Art. 35 Abs. 4 SVG vor. Diese Beurteilung
beruht einzig auf den Angaben des Berufungsklägers, weshalb aus seinen Vor-
wurf, die Vorinstanz habe seine Aussagen nicht ausreichend gewürdigt respektive
zu Unrecht relativiert, nicht näher einzugehen ist.
8.
Ist somit erstellt, dass die verfügbare Strecke nicht übersichtlich und frei
genug für ein verkehrsregelkonformes Überholmanöver war und der Berufungs-
kläger gegen Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG verstossen hat, ist nun die Frage zu prü-
fen, ob der Berufungskläger den Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG erfüllt hat.
Gemäss dieser Bestimmung wird, wer durch grobe Verletzung von Verkehrsregeln
eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft in Kauf nimmt, mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren mit Geldstrafe bestraft. Der qualifizierte
Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist objektiv erfüllt, wenn der Täter eine wichtige
Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicher-
heit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefährdung für die Sicherheit anderer ist
Seite 20 — 26

nicht erst bei einer konkreten, sondern bereits bei einer erhöhten abstrakten Ge-
fährdung gegeben (vgl. BGE 130 IV 32 E. 5.1; 123 IV 88 E. 3a, je m.w.H.). Objek-
tiv grob ist ein Verstoss gegen die Verkehrsregeln immer dann, wenn eine wichti-
ge Verkehrsvorschrift in gravierender Weise betroffen ist, das heisst, wenn der
Verstoss nach den konkreten Umständen als schwerwiegend bezeichnet werden
muss (vgl. PKG 1989 Nr. 39 mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche Rechtspre-
chung). Ob eine konkrete, eine erhöhte abstrakte nur eine abstrakte Gefahr
geschaffen wird, hängt von der Situation ab, in welcher die Verkehrsregelverlet-
zung begangen wird. Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten abs-
trakten Gefahr ist die Nähe der Verwirklichung (vgl. BGE 131 IV 133 E. 3.2). Die
allgemeine Möglichkeit der Verwirklichung einer Gefahr genügt demnach nur zur
Erfüllung des Tatbestands von Art. 90 Ziff. 2 SVG, wenn in Anbetracht der Um-
stände des Einzelfalles - Tageszeit, Verkehrsdichte, Sichtverhältnisse - der Ein-
tritt einer konkreten Gefährdung gar eine Verletzung nahe liegt (vgl. BGE 123
IV 88 E. 3a; BGE 118 IV 285 E. 3a).
Subjektiv erfordert der Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG nach der Rechtspre-
chung ein rücksichtsloses sonst schwerwiegend verkehrswidriges Verhalten,
das heisst ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe
Fahrlässigkeit (vgl. BGE 130 IV 32 E. 5.1; 126 IV 192 E. 3; 123 IV 88 E. 2a und
4a). Diese ist zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit sei-
ner verkehrswidrigen Fahrweise bewusst ist. Grobe Fahrlässigkeit kann aber auch
vorliegen, wenn der Täter die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwid-
rig gar nicht in Betracht gezogen, also unbewusst fahrlässig gehandelt hat (vgl.
BGE 130 IV 32 E. 5.1 mit Hinweis; BGE 126 IV 192 E. 3; 106 IV 49). In solchen
Fällen ist grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn das Nichtbedenken der Gefähr-
dung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht (vgl. BGE 118 IV
285 E. 4 mit Hinweisen). Rücksichtslosigkeit ist unter anderem ein bedenkenloses
Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern. Dieses kann auch in einem blossen
(momentanen) Nichtbedenken der Gefährdung fremder Interessen bestehen (vgl.
BGE 131 IV 133 E. 3.2; 130 IV 40; 106 IV 49 f.; Urteile des Bundesgerichts
6B_616/2010 vom 19. Oktober 2010 E. 3.1; 6S.11/2002 vom 20. März 2002 und
6S.56/1994 vom 11. April 1994 sowie 6S.100/2004 vom 29. Juli 2004).
a)
Das Überholen gehört insbesondere auf Strassen mit Gegenverkehr zu
den gefährlichsten Fahrmanövern überhaupt und ist deshalb nur gestattet, wenn
keine anderen Verkehrsteilnehmer behindert gefährdet werden. Die Regeln
über das Überholen bezwecken, die damit verbundenen Risiken zu minimieren.
Wer sich über diese Normen hinwegsetzt, handelt den Verkehrsvorschriften
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grundsätzlich in grober Weise zuwider. Der vom Berufungskläger missachtete Art.
35 Abs. 2 bzw. 4 SVG ist deshalb eine für die Gewährleistung der Sicherheit im
Strassenverkehr wichtige Bestimmung (vgl. BGE 129 IV 155 E. 3.2.1; 121 IV 235
E. 1 c; Urteil des Bundesgerichts 6B_616/2010 vom 19. Oktober 2010 E. 3.2.2;
Weissenberger, a.a.O., N. 69 zu Art. 90 SVG). X.___ hat diese wichtige Ver-
kehrsregel offensichtlich in objektiv schwerwiegender Weise missachtet. Wie be-
reits festgestellt, hätte für ein verkehrsregelkonformes Überholen eine Strecke von
mindestens 389 m überblickbar und frei sein müssen. Die dem Berufungskläger
zur Verfügung gestandene überblickbare Strecke von allerhöchstens 282 m ge-
nügte vorliegend nicht, um ein für andere Verkehrsteilnehmer gefahrloses Überho-
len zu garantieren, denn es konnte jederzeit aus dem nicht einsehbaren Streck-
enteil beim D.___ überraschend ein Fahrzeug auftauchen, was die nahe Mög-
lichkeit einer konkreten Gefährdung gar einer Verletzung - das heisst einer
Kollision mit dem entgegenkommenden Fahrzeug in sich geschlossen hätte. Ein
Abbrechen des Überholmanövers dürfte entgegen der Behauptung des Beschul-
digten ebenfalls nicht möglich gewesen sein, da die nachfolgenden, in einer Ko-
lonne fahrenden Fahrzeuge wohl innert kürzester Zeit auf das unter der gesetzlich
zulässigen Geschwindigkeit fahrende Sattelmotorfahrzeug aufgeschlossen hatten,
da dieses gemäss den Aussagen des Berufungsklägers während des Überholvor-
gangs eher langsamer wurde (vgl. E.3 Nr. 29 Frage 30). X.___ setzte also eine
erhöhte abstrakte Gefahr und damit die naheliegende Möglichkeit einer konkreten
Gefährdung der Verkehrssicherheit. Das gleiche gilt im Zusammenhang mit dem
Überholen in der unübersichtlichen Rechtskurve beim D.___ gemäss Art. 35
Abs. 4 SVG. Der objektive Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist mithin erfüllt.
b)
Auch in subjektiver Hinsicht ist der Tatbestand von Art. 90 Ziff. 2 SVG er-
füllt. Aufgrund der konkreten Umstände - namentlich aufgrund der klarerweise und
deutlich ungenügenden Sichtweite für das Überholmanöver konnte der Beru-
fungskläger nicht die Gewissheit haben, das Manöver ohne erhebliche Behinde-
rung des Gegenverkehrs abschliessen zu können. Aufgrund der für das durchge-
führte Überholmanöver deutlich zu geringen Sichtweite, musste er damit rechnen,
dass ein allenfalls entgegenkommendes Fahrzeug brüsk hätte abbremsen müs-
sen. Der Berufungskläger handelte damit rücksichtslos, indem er die allgemeine
Gefährlichkeit seines verkehrsregelwidrigen Überholmanövers, die unter den ge-
gebenen Umständen offensichtlich erkennbar war, nicht bedachte beziehungswei-
se sich bedenkenlos über die Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer hinweg-
setzte. Mit anderen Worten hat der Berufungskläger mit dem Überholen an besag-
ter Stelle eventualvorsätzlich, zumindest aber grobfahrlässig, gehandelt und eine
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Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer bedenkenlos in Kauf genommen. Daran
vermag auch nichts zu ändern, dass Berufungskläger ausführte, nicht auswendig
gewusst zu haben, dass gleich nach der nächsten Kurve eine zweispurige Über-
holmöglichkeit folgte. Auch ohne Kenntnisse der Örtlichkeiten darf nur zum Über-
holen angesetzt werden, wenn das Manöver ohne Gefährdung des Gegenver-
kehrs abgeschlossen werden kann. Ist auch der subjektive Tatbestand einer gro-
ben Verkehrsregelverletzung erfüllt, fällt der Subeventualantrag des Berufungsklä-
gers, er sei der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 35 Abs. 2
SVG in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 1 SVG für schuldig zu erkennen, ausser Be-
tracht.
9.
Zusammenfassend ergibt sich, dass der Berufungskläger die wichtigen
Verkehrsbestimmungen (Art. 35 Abs. 2 und 4 SVG) in objektiv und subjektiv
schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet hat
(Art. 90 Ziff. 2 SVG). Er handelte rücksichtslos, indem er die allgemeine Gefähr-
lichkeit seines verkehrsregelwidrigen Manövers bedenkenlos in Kauf nahm. Die
vom Berufungskläger dagegen erhobenen Einwände führen letztlich zu keinem
anderen Ergebnis. Das Überholmanöver des Berufungsklägers ist mit der Vo-
rinstanz objektiv und subjektiv als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von
Art. 90 Ziff. 2 SVG zu würdigen. Der vorinstanzliche Schuldspruch ist deshalb im
Ergebnis nicht zu beanstanden, was zur Abweisung des Hauptantrags wie auch
der Eventualanträge der Berufung führt.
10.
Betreffend die Strafzumessung kann im Sinne von Art. 82 Abs. 4 StPO auf
die zutreffenden Ausführungen der Vorinstanz verwiesen werden (vgl. dazu Erwä-
gung 6.1 - 6.3 des angefochtenen Urteils). Dies umso mehr, als sich der Beru-
fungskläger mit der Höhe der ausgesprochenen Strafe nicht auseinandersetzt.
11.a) Da die Berufung abgewiesen wird, bleibt es bei der vorinstanzlichen Kos-
tenregelung (Art. 428 Abs. 3 StPO e contrario). Anzumerken ist, dass die von der
Vorinstanz vorgenommene, nicht näher begründete Verrechnung des geleisteten
Depositums mit der Busse beziehungsweise den Verfahrenskosten nach Art. 367
Abs. 3 in Verbindung mit Art. 268 StPO zulässig ist.
b)
Gemäss Art. 428 Abs. 1 StPO tragen die Parteien die Kosten des Rechts-
mittelverfahrens nach Massgabe ihres Obsiegens Unterliegens. Vorliegend
ist der Berufungskläger mit seinen Anträgen nicht durchgedrungen und die Beru-
fung wurde vollumfänglich abgewiesen. Demnach gehen die Kosten des Beru-
fungsverfahrens zu Lasten des Berufungsklägers. Für Entscheide im Berufungs-
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verfahren wird eine Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.00 bis Fr. 20'000.00 erhoben
(vgl. Art. 7 der Verordnung über die Gerichtsgebühren in Strafverfahren [VGS; BR
350.210]). Die Kosten des Berufungsverfahrens werden vorliegend auf
Fr. 4'000.00 festgesetzt.
Seite 24 — 26

III. Demnach wird erkannt:
1.
Die Berufung wird abgewiesen.
2.
X.___ ist schuldig der groben Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art.
35 Abs. 2 und 4 SVG in Verbindung mit Art. 90 Abs. 2 SVG.
3.a)
Dazu wird X.___ mit einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je CHF
60.00 bestraft.
b) Der Vollzug der Geldstrafe wird unter Ansetzung einer Probezeit von 2 Jah-
ren aufgeschoben.
4.
Zudem wird X.___ mit einer Busse von CHF 500.00 bestraft.
5.a)
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens von CHF 3'665.00 (Untersu-
chungsgebühren und Auslagen der Staatsanwaltschaft Graubünden CHF
1'665.00, Gerichtsgebühren CHF 2'000.00) gehen zu Lasten von X.___.
b) X.___ hat dem Bezirksgericht Hinterrhein folglich zu überweisen:
Busse
CHF 500.00
Verfahrenskosten
CHF 3'665.00
abzüglich Depositum
CHF 1'350.00
Total
CHF 2'815.00
In Rechtskraft erwachsene Bussen und Verfahrenskosten sind innert 30
Tagen auf das Konto CK 038.267.100, IBAN CH16 0077 4110 0382 6710 0,
des Bezirksgerichtes Hinterrhein bei der Graubündner Kantonalbank zu be-
zahlen.
6.
Die Kosten des Berufungsverfahrens von Fr. 4'000.-gehen zu Lasten des
Berufungsklägers.
7.
Gegen diese Entscheidung kann gemäss Art. 78 ff. BGG Beschwerde in
Strafsachen an das Bundesgericht geführt werden. Die Beschwerde ist dem
Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, schriftlich innert 30
Tagen seit Eröffnung der vollständigen Ausfertigung der Entscheidung in
der gemäss Art. 42 f. BGG vorgeschriebenen Weise einzureichen. Für die
Zulässigkeit, die Beschwerdelegitimation, die weiteren Voraussetzungen
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und das Verfahren der Beschwerde gelten die Art. 29 ff., 78 ff. und 90 ff.
BGG.
8.
Mitteilung an:


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Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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