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Urteil Kantonsgericht Graubünden (GR)

Zusammenfassung des Urteils PZ-04-132: Kantonsgericht Graubünden

Der Text handelt von einem Eheschutzverfahren, bei dem es um die elterliche Obhut und das Besuchsrecht für drei Kinder geht. Nach verschiedenen Verhandlungen und Entscheidungen wurde ein Rekurs gegen die Verfügung des Bezirksgerichtspräsidenten eingereicht. Das Kantonsgerichtspräsidium hat festgestellt, dass es aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder im Ausland nicht zuständig ist und die Sache an die zuständigen Behörden dort zurückverwiesen. Die Kosten des Rekursverfahrens wurden je zur Hälfte den Parteien auferlegt. Die Rechtsvertreter haben die Möglichkeit, ihre Honorarnoten einzureichen.

Urteilsdetails des Kantongerichts PZ-04-132

Kanton:GR
Fallnummer:PZ-04-132
Instanz:Kantonsgericht Graubünden
Abteilung:-
Kantonsgericht Graubünden Entscheid PZ-04-132 vom 26.11.2004 (GR)
Datum:26.11.2004
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Eheschutz
Schlagwörter : Kinder; Recht; Kanton; Aufenthalt; Kantons; Rekurs; Parteien; Hinterrhein; Kantonsgericht; Minderjährige; Eheschutz; Obhut; Minderjährigen; Zuständigkeit; Verfügung; Rekurrent; Gesuch; Entscheid; Graubünden; Kantonsgerichtspräsidium; Sinne; Woche; Schutz
Rechtsnorm:Art. 122 ZPO ;Art. 45 ZPO ;Art. 47 ZPO ;Art. 63 IPRG ;Art. 79 IPRG ;Art. 85 IPRG ;
Referenz BGE:117 II 334; 123 III 411; 124 III 176;
Kommentar:
Baumann, Basler Kommentar Strafgesetz- buch I, Art. 59 StGB, 2003

Entscheid des Kantongerichts PZ-04-132

Kantonsgericht von Graubünden
Tribunale cantonale dei Grigioni
Dretgira chantunala dal Grischun
_____
Ref.:
Chur, 26. November 2004
Schriftlich mitgeteilt am:
PZ 04 132

Verfügung
Kantonsgerichtspräsidium
Vorsitz Vizepräsident
Schlenker
Aktuar ad hoc
Pinchera
——————
Im Rekurs
des C. D., Gesuchsgegner und Rekurrent, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur.
Dominik Infanger, Postfach 421, Hinterm Bach 40, 7002 Chur,

gegen

die Eheschutzverfügung des Bezirksgerichtspräsidenten Hinterrhein vom 25. Au-
gust 2004, mitgeteilt am 26. August 2004, in Sachen der E. D., Gesuchstellerin
und Rekursgegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur. Elisabeth Blumer,
Quaderstrasse 5, 7000 Chur, gegen den Gesuchsgegner und Rekurrenten,
betreffend Eheschutz,
hat sich ergeben:



2


A.
C. D., geboren am xx.xx.xxxx, und E. D., geboren am xx.xx.xxxx, hei-
rateten am xx.xx.xxxx. Aus der Ehe entsprossen die Kinder K., geboren am
xx.xx.xxxx, L., geboren am xx.xx.xxxx, und M., geboren am xx.xx.xxxx. Nachdem
E. D. sich Ende Juli 2003 freiwillig in stationäre psychiatrische Behandlung in die
Klinik O. begeben hatte, zog C. D. im Sommer 2003 aus beruflichen Gründen mit
den drei Kindern nach B. (A.).
B.
Am 19. September 2003 stellte E. D. beim Bezirksgerichtspräsiden-
ten Hinterrhein ein Gesuch um Erlass von Eheschutzmassnahmen mit den folgen-
den Anträgen:
„1. Den Eheleuten sei zu gestatten für unbestimmte Zeit getrennt zu le-
ben.
2. Die ehelichen Kinder K., geboren am xx.xx.xxxx, L., geboren am
xx.xx.xxxx, und M., geboren am xx.xx.xxxx, seien unter die elterliche
Obhut der Mutter gestellt.

3. Dem Vater sei zu gestatten, seine Kinder jeweils am ersten und am
dritten Wochenende zu sich auf Besuch zu nehmen sowie 3 Wochen
Ferien pro Jahr mit ihnen zu verbringen.

4. Der Ehemann sei zu verpflichten, der Ehefrau je Kind einen monatli-
chen Unterhaltsbeitrag von Fr. 850.-zuzüglich gesetzlichen und ver-
traglichen Kinderzulagen zu bezahlen. Die Unterhaltsbeiträge sind je-
weils im Voraus zu bezahlen. Diese Pflicht sei per 1. September 2003
festzulegen.

5. Der Ehemann verpflichtet sich, der Ehefrau einen monatlichen Unter-
haltsbeitrag von Fr. 1‘000.-zu bezahlen. Die Unterhaltspflicht sei ab
1. September 2003 festzulegen und ist monatlich im Voraus zu bezah-
len.

6. Unter Kostenund Entschädigungsfolge nebst 7.6 % Mehrwertsteuer
zu Lasten des Gesuchsgegners.“
C. Anlässlich
der
Eheschutzverhandlung vom 20. Oktober 2003 kamen
die Parteien gemäss Entscheid des Bezirksgerichtspräsidenten Hinterrhein vom
22. Oktober 2003 stillschweigend überein, dass die Kinder einstweilen unter der
Obhut des Vaters in B. verbleiben und dass das Besuchsrecht zu regeln sei. Mit
superprovisorischem Entscheid vom 22. Oktober 2003 räumte der Bezirksge-
richtspräsident Hinterrhein - davon ausgehend, dass die Obhut über die Kinder
einstweilen beim Vater verbleibt - der Mutter das Recht ein, die Kinder alle 14 Ta-
ge über das Wochenende von Freitag 18.00 Uhr bis Sonntag 18.00 Uhr zu sich
auf Besuch zu nehmen. Des Weiteren gab der Bezirksgerichtspräsident Hinter-
rhein mit Entscheid vom 17. Dezember 2003 dem Gesuch von E. D. statt, ihre drei
Kinder am Weihnachtstage, 25. Dezember 2003, ab 15.00 Uhr, zu sich auf Be-



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such zu nehmen, um mit ihnen die Weihnachtstage bis Montag, 29. Dezember
2003, 18.00 Uhr, zu verbringen.
D. Mit Entscheid vom 26. Februar 2004 beauftragte der Bezirksge-
richtspräsident den Kinderund Jugendpsychiatrischen Dienst Graubünden mit
der Ausarbeitung eines Gutachtens bezüglich Betreuung der Kinder K., L. und M.
Am 23. Juni 2004 wurde das in Auftrag gegebene Gutachten unterbreitet.
E.
Nachdem die Parteien zum Gutachten Stellung nehmen konnten, er-
kannte der Bezirksgerichtspräsident Hinterrhein mit der Eheschutzverfügung vom
25. August 2004, mitgeteilt am 26. August 2004, wie folgt:
„1. Die Obhut über die Kinder K., geb. xx.xx.xxxx, L., geb. xx.xx.xxxx, und
M., geb. xx.xx.xxxx, wird der Mutter übertragen.
2.
Der Vater hat das Recht, die Kinder alle zwei Wochen, konkret am ers-
ten und dritten Wochenende des Monats von Freitag 18.00 Uhr bis
Sonntag 18.00 Uhr zu sich auf Besuch zu nehmen. Zudem ist er be-
rechtigt, die Kinder jeweils an kirchlichen Feiertagen, d.h. Weihnach-
ten, Ostern und Pfingsten, je einen Tag zu sich zu nehmen. Überdies
ist er berechtigt, mit den Kindern während drei Wochen pro Jahr die
Ferien zu verbringen.

3.
Die Festlegung der Alimente erfolgt in einem separaten Entscheid.
4.
Die Kosten dieses Verfahrens bleiben bei der Prozedur.
5. (Rechtsmittelbelehrung).
6. (Mitteilung).“
F.
Am 16. September 2004 reichte C. D. beim Kantonsgerichtspräsidi-
um Graubünden Rekurs gegen die Verfügung des Bezirksgerichtspräsidenten Hin-
terrhein vom 25. August 2004 ein und stellte folgende Rechtsbegehren:
„1. Die Ziffern 1 und 2 des Dispositivs der Eheschutzverfügung des Be-
zirksgerichtspräsidiums Hinterrhein vom 25. August 2004 in Sachen
der Rekursparteien seien aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeur-
teilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

2. Eventualiter: Die Ziffern 1 und 2 des Dispositivs der Eheschutzverfü-
gung des Bezirksgerichtspräsidiums Hinterrhein vom 25. August 2004
in Sachen der Rekursparteien seien aufzuheben, und die Kinder K.,
geboren am xx.xx.xxxx, L., geboren am xx.xx.xxxx, und M., geboren
am xx.xx.xxxx, seien unter die Obsorge des Rekurrenten zu stellen.

3.
Es sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
4. Dem Rekurrenten sei die unentgeltliche Rechtspflege unter Zugabe
des Schreibenden als Rechtsvertreter zu gewähren.
5.
Unter Kostenund Entschädigungsfolgen zu Lasten der Rekursgegne-
rin.“




4


G.
Mit Verfügung vom 22. September 2004 erteilte das Kantonsge-
richtspräsidium dem Rekurs, gestützt auf Art. 12 Abs. 2 EGzZGB, die aufschie-
bende Wirkung.
H.
Das Bezirksgerichtspräsidium Hinterrhein verzichtete mit Schreiben
vom 28. September 2004 auf die Einreichung einer Vernehmlassung.
I.
Am 27. September 2004 reichte E. D. beim Kantonsgerichtspräsidi-
um Graubünden die Vernehmlassung ein und beantragte:
„1. Der Rekurs sei vollumfänglich abzuweisen.
2. Unter Kostenund Entschädigungsfolge nebst 7.6 % Mehrwertsteuer
zulasten des Rekurrenten.“
J.
Mit Verfügungen vom 12. Oktober 2004 wurden die Gesuche um un-
entgeltliche Rechtspflege von C. D. und von E. D. gutgeheissen. Beiden wurde die
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für das vorliegende Verfahren vor
Kantonsgerichtspräsidium ab Datum der Gesuchseinreichung erteilt.
K.
Anlässlich der vom Kantonsgerichtspräsidium am 18. November
2004 und am 26. November 2004 durchgeführten Einigungsverhandlungen, an
welchen beide Parteien mit ihren Rechtsvertretern teilnahmen, konnte keine ein-
vernehmliche Lösung gefunden werden. Der Kantonsgerichtsvizepräsident ver-
suchte losgelöst von der Frage der Zuständigkeit und aufgrund der Tatsache,
dass bereits umfassende Abklärungen getroffen worden sind -, den Parteien eine
- nur einvernehmlich mögliche gemeinsame Obhut in dem Sinne vorzuschlagen,
dass die Kinder während der Woche bei der Mutter und über das Wochenende
beim Vater sein würden. Sowohl diese Variante als auch jene, welche gemäss
überraschender Auskunft der Parteien das vom Rekurrenten in der Zwischenzeit
angerufene S.-Gericht, T., unterbreitete, nämlich, dass die Kinder während der
Woche beim Vater und über das Wochenende bei der Mutter seien, wurde abge-
lehnt. Der Kantonsgerichtsvizepräsident nahm zur Kenntnis, dass zurzeit offenbar
die vom S.-Gericht vorgeschlagene Variante gelebt wird.
Das Kantonsgerichtspräsidium zieht in Erwägung:
1.
Massnahmen und Verfügungen des Bezirksgerichtspräsidenten zum
Schutze der ehelichen Gemeinschaft können gemäss Art. 8 Ziff. 11 in Verbindung
mit Art. 12 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch



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(EGzZGB; BR 210.100) innert zwanzig Tagen durch schriftlich begründeten Re-
kurs beim Kantonsgerichtspräsidenten angefochten werden. Vorliegend wurde
gegen die Verfügung des Bezirksgerichtspräsidenten Hinterrhein Rekurs einge-
legt. Die Voraussetzung des fristund formgerecht eingereichten Rekurses ist er-
füllt.
2.a) Im vorliegenden Fall stellte E. D. am 19. September 2003 ein Ge-
such um Eheschutzmassnahmen betreffend die Trennung auf unbestimmte Zeit,
die Zuteilung der Kinder und die Unterhaltsbeiträge. Bereits im Sommer 2003, als
die Rekursgegnerin aufgrund psychischer Probleme freiwillig eine stationäre Mas-
snahme in der Klinik O. antrat, zog der Rekurrent aus beruflichen Gründen mit den
Kindern K., L. und M. nach B. und damit ins A., wo er sich nach wie vor mit den
Kindern aufhält. Aufgrund dessen handelt es sich fraglos um einen Fall mit inter-
nationalem Bezug. Im vorliegenden Rekurs, welcher die Zuteilung der elterlichen
Obhut und die Besuchsrechtsregelung zum Gegenstand hat, gilt es im Folgenden
zu prüfen, ob die Prozessvoraussetzung der Zuständigkeit des Bezirksgerichts-
präsidenten Hinterrhein - und als Folge davon des Kantonsgerichtspräsidiums von
Graubünden im vorliegenden internationalen Sachverhalt betreffend elterliche
Obhut gegeben ist nicht und ob mithin der Eheschutzrichter zu Recht auf das
Gesuch eingetreten ist nicht.
b)
Gemäss Art. 59 des Bundesgesetzes über das Internationale Privat-
recht (IPRG; SR 291) sind für Klagen betreffend Scheidung Trennung grund-
sätzlich die schweizerischen Gerichte am Wohnsitz des Beklagten (lit. a) die-
jenigen am Wohnsitz des Klägers, wenn dieser sich seit einem Jahr in der
Schweiz aufhält wenn er Schweizer Bürger ist (lit. b), zuständig. Die für die
Klagen auf Scheidung Trennung zuständigen schweizerischen Gerichte sind
auch für die Regelung der Nebenfolgen, so die Regelung der elterlichen Obhut,
zuständig (Art. 63 Abs. 1 IPRG); vorbehalten bleiben gemäss Art. 63 Abs. 2 IPRG
unter anderem die Bestimmungen des Minderjährigenschutzes (Art. 85 IPRG).
Diesen Vorbehalt enthält auch Art. 79 IPRG. Im besagten Art. 85 IPRG heisst es
sodann, dass für den Schutz der Minderjährigen in Bezug auf die Zuständigkeit
der schweizerischen Gerichte Behörden das Haager Übereinkommen über
die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet
des Schutzes der Minderjährigen (MSA; SR 0.211.231.01) gilt. Es ist somit vorab
zu prüfen, ob dieses Abkommen vorliegend anwendbar ist.



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aa)
Das MSA ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der gemäss Art. 1 Abs. 2
IPRG dem Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht vorgeht. In persön-
lich-räumlicher Beziehung ist das Minderjährigenschutzabkommen auf alle Minder-
jährigen anwendbar, welche ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat
haben (Art. 1 MSA). Gemäss Art. 85 Abs. 2 IPRG gilt das Abkommen jedoch sinn-
gemäss auch für Personen, welche ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem
Vertragsstaat haben. In diesem autonomen Anwendungsbereich des MSA ist das
Übereinkommen genauso anzuwenden wie im staatsvertraglich bindenden An-
wendungsbereich (ZR 96 (1997) S. 133; Kommentar zum schweizerischen Privat-
recht, Internationales Privatrecht, Basel/Frankfurt am Main 1996, N 62 ff. zu Art.
85; Siehr, Das Internationale Privatrecht der Schweiz, Zürich/Basel/Genf 2002, S.
122).
Vorliegend ist das Minderjährigenschutzübereinkommen in persönlich-
räumlicher Beziehung gestützt auf Art. 85 Abs. 2 IPRG ohne weiteres anwendbar,
unabhängig davon, wo sich die drei Kinder aufhalten; ist doch das MSA im Sinne
von Art. 85 Abs. 2 IPRG als nahezu erga omnes wirkende loi uniforme unmittelbar
und ausschliesslich anzuwenden (BGE 124 III 176 E. 4; BBl 1983 I 379). Die drei
Kinder K., L. und M. sind zudem sieben, fünf bzw. vier Jahre alt, womit sie nicht
nur nach schweizerischem Recht als Minderjährige zu qualifizieren sind.
bb)
In sachlicher Hinsicht gilt das Minderjährigenschutzabkommen für al-
le Massnahmen zum Schutze der Person und des Vermögens von Minderjährigen
(Art. 1 MSA).
Die Anwendbarkeit des Abkommens ergibt sich im vorliegenden Fall bereits
aus der Tatsache, dass die Zuteilung der elterlichen Obhut als eigentliche
Schutzmassnahme qualifiziert werden muss (BGE 124 III 176 E. 4; 123 III 411 E.
2a/bb; Schwander, Einführung in das internationale Privatrecht, Zweiter Band: Be-
sonderer Teil, 2. Aufl., St. Gallen/Lachen 1998, S. 138 f.). Die Obhut ist nicht ein-
fach nur deshalb einem Elternteil zu übertragen, weil dies wegen des Ehekonflikts
und der damit zusammenhängenden räumlichen Trennung der Ehegatten prak-
tisch unvermeidbar ist, sondern weil es einem eminenten Eigeninteresse der Kin-
der entspricht, nicht weiter durch die Konfliktsituation, welche sich zwischen den
Parteien gerade immer wieder an wichtigen Fragen rund um die Kinderbelange
entzündet, belastet zu sein. Insofern hat die eheschutzrichterliche Instanz diejeni-
gen Anordnungen zu treffen, die zurzeit am ehesten stabile, von elterlicher Ver-
antwortung geprägte Verhältnisse garantieren und das Kind vor Krisen schützen



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(Bräm, Zürcher Kommentar zum ZGB, Teilband II 1c, Zürich 1997, N 90 zu Art.
176 ZGB mit Hinweisen).
3.a) Gemäss Art. 1 MSA sind die Gerichte und Verwaltungsbehörden des
Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter Vor-
behalt der hier nicht interessierenden Bestimmungen der Artikel 3, 4 und 5 Abs. 3
MSA, zuständig, Massnahmen zum Schutze der Person des Vermögens des
Minderjährigen zu treffen. Der staatsvertragliche Begriff der Kindesschutzmass-
nahmen, welchen das MSA zum Gegenstand hat, ist weiter gefasst als jener des
ZGB. Während im ZGB vorausgesetzt wird, dass das Wohl des Kindes gefährdet
ist und die Eltern nicht für Abhilfe sorgen, ist dies im MSA nicht erforderlich. Auf-
grund dessen besteht kein Zweifel, dass das Minderjährigenschutzübereinkom-
men die elterliche Obhut und das Besuchsrecht umfasst (Siehr, a.a.O., S. 123).
b)
Das MSA geht vom Prinzip des gewöhnlichen Aufenthalts aus, ohne
diesen Begriff zu definieren. Einigkeit besteht jedoch darin, dass der Begriff des
gewöhnlichen Aufenthaltes vertragsautonom auszulegen und nicht nach Art. 20
Abs. 1 lit. b IPRG zu bestimmen ist (Zürcher Kommentar zum IPRG, 2. Aufl., Zü-
rich/Basel/Genf 2004, N 18 zu Art. 85 mit weiteren Hinweisen). Des Weiteren wird
damit übereinstimmend vom Mittelpunkt der tatsächlichen Lebensführung des
Minderjährigen ausgegangen. Zum einen kommt es auf den eigenen Lebensmit-
telpunkt des Kindes an, ohne von den Eltern abgeleitet zu sein. Zum anderen ist
eine gewisse Aufenthaltsdauer am Aufenthaltsort nicht erforderlich. Wer umzieht,
erwirbt von einem Tag auf den anderen einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt.
Lediglich bei hier nicht vorliegendem unfreiwilligem Aufenthaltswechsel durch Kin-
desentführung wird ein neuer Aufenthalt erst nach einer gewissen Zeit erworben.
Demgemäss sind im Sinne des Aufenthaltsprinzips des MSA die Behörden am Ort
des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes primär zuständig, Massnahmen zum
Schutz des Kindes nach dessen Aufenthaltsrecht zu ergreifen (Siehr, a.a.O., S.
124; Zürcher Kommentar zum IPRG, a.a.O., N 18 und N 122 zu Art. 85; ZR 96
[1997] S. 134). Aus dem Sinn und Zweck des Abkommens ergibt sich, dass
Schutzmassnahmen am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthalts prinzipiell
nicht mehr getroffen werden sollen (BGE 123 III 411 E. 2a/bb). Die Zuständigkeit
der Behörden zur Beurteilung der Schutzmassnahmen hängt davon ab, ob die
Minderjährigen zum Zeitpunkt der Klageeinreichung hier die Einreichung des
Eheschutzgesuchs ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz im Aus-
land hatten (BGE 117 II 334 E. 4; 109 II 375 E. 5a).



8


c)
Der Rekurrent zog mit den drei Kindern K., L. und M. aus beruflichen
Gründen und weil sich seine Ehefrau in stationäre psychiatrische Behandlung be-
geben hatte im Sommer 2003 gemäss Mietvereinbarung zwischen C. D. und
seiner Mutter F. D. war es anfangs August 2003 aus der Schweiz nach B. (A.).
Mit dem Umzug erwarben die Kinder sofort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt
im A. Art. 20 Abs. 1 lit. b IPRG ist im vorliegenden Fall, in welchem der gewöhnli-
che Aufenthalt vertragsautonom nach MSA auszulegen ist entgegen der Auffas-
sung des Rekurrenten -, nicht anwendbar. Erst am 19. September 2003, d.h.
nachdem die Kinder bereits ihren gewöhnlichen Aufenthalt im A. begründet hatten,
reichte die Rekursgegnerin ihr Eheschutzgesuch beim Bezirksgerichtspräsidium
Hinterrhein ein und verlangte unter anderem, es sei ihr die elterliche Obhut zu
übertragen. Befindet sich zur Zeit der Gesuchseinreichung durch E. D. der ge-
wöhnliche Aufenthalt der Kinder im A. und sind die Behörden des gewöhnlichen
Aufenthalts im Sinne des Minderjährigenschutzübereinkommens zur Ergreifung
von Kindesschutzmassnahmen zuständig, so ist die Zuständigkeit des Bezirksge-
richtspräsidenten Hinterrhein zu verneinen. Vielmehr müssen die betreffenden
Behörden im A. gemäss MSA als zuständig betrachtet werden, Kindesschutz-
massnahmen wie die Zuteilung der elterlichen Obhut und die Regelung des Be-
suchsrechts zu ergreifen (vgl. Siehr, a.a.O., S. 123).
d) Die
Zuständigkeit
betreffend Kindesschutz ist im Sinne von Art. 1, 4,
6 und 9 MSA zwingend (Siehr, a.a.O., S. 636; Marianne Hristi, Zwingende und
teilzwingende Gerichtsstände des Gerichtsstandsgesetzes, Zürich/Basel/Genf
2002, S. 39 f.; Zürcher Kommentar zum IPRG, a.a.O., N 38 ff. zu Art. 5). Der
zwingende Gerichtsstand ist von Amtes wegen zu befolgen und er lässt sich nicht
durch Einlassung vor einem anderen Richter ausschalten. Eine Prorogation (Ge-
richtsstandsvereinbarung) und die Durchführung des Verfahrens durch Gerichte
ausserhalb des Fürstentums Liechtenstein ist demzufolge im vorliegenden Fall
gemäss MSA ausgeschlossen. Ist das Bezirksgerichtspräsidium Hinterrhein im
vorliegenden Verfahren unzuständig, fehlt es an einer Prozessvoraussetzung -
das Zuständigkeitserfordernis ist bei zwingender Zuständigkeit von Amtes wegen
zu prüfen -, weshalb auf das Eheschutzgesuch nicht einzutreten ist (Art. 79 der
Zivilprozessordnung des Kantons Graubünden [ZPO; BR 320.000]).
e)
Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass das MSA über 40
Jahre alt ist und durch das Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das
anwendbare Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und die Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Massnahmen zum Schutz der



9


Kinder (Kindesschutzübereinkommen; KSÜ) ersetzt werden soll (Art. 51 KSÜ).
Das Kindesschutzübereinkommen wurde am 01. April 2003 durch die Schweiz
unterzeichnet; es ist jedoch noch nicht in Kraft getreten. Das KSÜ erfasst diesel-
ben Massnahmen wie das MSA, bevorzugt das vorliegend angewendete, bereits
für das MSA definierte Aufenthaltsprinzip (Art. 5 Abs. 1, Art. 8 und Art. 9 KSÜ;
Siehr, Internationales Privatrecht, Deutsches und europäisches Kollisionsrecht für
Studium und Praxis, Heidelberg 2001, S. 69; Kropholler, Internationales Privat-
recht, 4. Aufl., Tübingen 2001, § 48 II) und legt damit ebenfalls den zwingenden
Gerichtsstand fest. Daraus folgt, dass eine allfällige Anwendung des noch nicht in
Kraft getretenen KSÜ auf den vorliegenden Fall zu demselben Resultat geführt
hätte.
4. Vorliegend
könnte
die Frage gestellt werden, weshalb das Kantons-
gerichtspräsidium zwei Eheschutzverhandlungen in Anwesenheit der Parteien und
ihren Rechtsvertretern durchführte, obwohl es sich im Sinne der vorangehenden
Erwägungen als unzuständig erachtet. Der Grund liegt darin, dass eine Einigung
zwischen den Parteien angestrebt wurde und die Chance einer einvernehmlichen
Lösung in Anbetracht der Umstände als durchaus möglich erschien. Ein aus einer
Einigung geschlossener Vergleich unter den Parteien ist denn auch losgelöst
von der Zuständigkeitsfrage jederzeit möglich. Zumal zwischen den Parteien
kein Kompromiss zustande kam und das Kantonsgerichtspräsidium dazu angehal-
ten wurde, einen Entscheid zu fällen, blieb nichts anderes übrig, als von Amtes
wegen die Unzuständigkeit festzustellen. Im Sinne der obigen Erwägungen war
die Vorinstanz nicht zuständig und hätte daher auf das Gesuch um Eheschutz-
massnahmen nicht eintreten dürfen. Demgemäss ist die angefochtene Verfügung
aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an
die Vorinstanz zurückzuweisen.
Im Übrigen war für die Rechtsfindung nicht förderlich, dass weder die
Rechtsvertreter der Parteien noch der Bezirksgerichtspräsident Hinterrhein etwas
über das Minderjährigenschutzübereinkommen die Unzuständigkeit vor-
brachten. Überdies erscheint die Feststellung der Unzuständigkeit und die Verwei-
sung an die zuständigen Behörden des Fürstentums Liechtensteins auch vom Er-
gebnis her als richtig. Ist doch durch den Rekurrenten vor der durch das Kantons-
gerichtspräsidium geführten Einigungsverhandlung vom 18. November 2004 im A.
ein Ehescheidungsverfahren anhängig gemacht worden. Zu Gunsten eines erstre-
benswerten einheitlichen und unteilbaren Entscheides bezüglich die Kinderzutei-
lung, das Besuchsrecht und die Unterhaltsregelung obliegt es infolge Unzustän-



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digkeit der schweizerischen Gerichte nun den A.-ischen Behörden, Massnahmen
in Bezug auf die elterliche Obhut, das Besuchsrecht und die vom MSA nicht er-
fassten Unterhaltsbeiträge an die Kinder sowie allenfalls an den Ehemann bzw.
die Ehefrau festzulegen.
An dieser Stelle gilt es nochmals festzustellen, dass die Parteien losgelöst
von der Zuständigkeitsfrage eine einvernehmliche Lösung hätten treffen können.
Eine Entscheidung kann indessen weil eben ein zwingender Gerichtsstand ge-
geben ist weder das Bezirksgerichtspräsidium Hinterrhein noch das Kantonsge-
richtspräsidium Graubünden treffen, selbst wenn sich die Parteien eingelassen
hätten.
5.
Gemäss Art. 122 Abs. 1 ZPO können die Kosten, wenn keine Partei
vollständig obsiegt hat, verhältnismässig verteilt werden. Im vorliegenden Verfah-
ren hat keine der Parteien obsiegt. Insbesondere haben sich die Parteien weder
im vorinstanzlichen Verfahren noch vor Kantonsgerichtspräsidium mit der Frage
des zwingenden Gerichtsstandes auseinandergesetzt. Dem Rekurrenten ist aller-
dings zuzugestehen, dass er sich mit der Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes
und mit der Frage des anwendbaren Rechts befasst hat. Art. 122 ZPO enthält mit
Absicht die Formulierung „in der Regel“ und „kann“, womit dem Richter die Mög-
lichkeit eingeräumt wird, die Kostenzuteilung aufgrund einer Gesamtwürdigung
nach pflichtgemässem Ermessen vorzunehmen (vgl. Pra 2000 109 S. 635 E. 2b).
Eine eingehende Begründung ist nicht erforderlich, solange sich der Entscheid
insgesamt nachvollziehbar in vertretbarem Rahmen hält. Da aufgrund der zwin-
genden Unzuständigkeit den Anträgen der Parteien nicht gefolgt werden kann,
rechtfertigt es sich, den Parteien die Kosten des Rekursverfahrens je zur Hälfte
aufzuerlegen. Die aussergerichtlichen Kosten des Rekursverfahrens werden daher
wettgeschlagen.
Über die Kostenund Entschädigungsfolgen im vorinstanzlichen Verfahren
wird der Bezirksgerichtspräsident Hinterrhein zu entscheiden haben.
6.a) Das
Kantonsgerichtspräsidium
hat mit Verfügungen vom 12. Oktober
2004 sowohl dem von C. D. als auch dem von E. D. gestellten Gesuch um Bewilli-
gung der unentgeltlichen Rechtspflege entsprochen. Die ihnen auferlegten amtli-
chen Kosten des Rekursverfahrens wie auch die Kosten des Rechtsbeistandes
sind somit unter Vorbehalt der Rückforderung (Art. 45 Abs. 2 ZPO) dem Kanton
Graubünden in Rechnung zu stellen.



11


b)
Über die Höhe der Entschädigungen der Rechtsvertreter wird im Ver-
fahren nach Art. 47 Abs. 4 ZPO entschieden. Letztere werden aufgefordert, innert
zehn Tagen seit Mitteilung dieser Verfügung eine detaillierte und tarifgemässe
Honorarnote einzureichen.



12


Demnach verfügt das Kantonsgerichtspräsidium:
1.
Der Rekurs wird dahin entschieden, als die angefochtene Verfügung aufge-
hoben und die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen
an das Bezirksgerichtspräsidium Hinterrhein zurückgewiesen wird.
2.
Die Kosten des Rekursverfahrens von Fr. 800.-tragen die Parteien je zur
Hälfte. Die aussergerichtlichen Kosten des Rekursverfahrens werden wett-
geschlagen.
3.
a) Die C. D. und E. D. auferlegten amtlichen Kosten des Rekursverfahrens
und die in diesem Verfahrensabschnitt entstandenen Kosten der Rechtsver-
tretung werden dem Kanton Graubünden in Rechnung gestellt.
b) Der Rechtsvertreter von C. D. sowie die Rechtsvertreterin von E. D. wer-
den aufgefordert, innert 10 Tagen seit Mitteilung dieser Verfügung eine de-
taillierte und tarifgemässe Honorarnote einzureichen. Bei Nichteinhaltung
dieser Frist wird die Entschädigung der Rechtsvertreter nach pflichtgemäs-
sem Ermessen festgesetzt.
c) Die Rückforderung der geleisteten Kostenhilfen durch den Kanton Grau-
bünden im Sinne von Art. 45 Abs. 2 ZPO bleibt vorbehalten.
4. Mitteilung
an:
__
Für das Kantonsgerichtspräsidium von Graubünden
Der Vizepräsident:
Der Aktuar ad hoc:


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