ZK 2009 440 - Art. 81 SchKG, Art. 2 ZGB: definitive Rechtsöffnung, Rechtsmissbrauch
APH-09 440, publiziert November 2009
Entscheid der 1. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern,
unter Mitwirkung von Oberrichter Kunz (Referent), Oberrichterin Lüthy-Colomb und Oberrichterin Apolloni Meier sowie Kammerschreiberin Kämpfer
vom 20. Oktober 2009
in der Streitsache zwischen
A.
vertreten durch Rechtsanwalt X
Gesuchsgegner/Appellant
und
B.
vertreten durch Fürsprecher Y
Gesuchstellerin/Appellatin
Regeste:
• Art. 81 SchKG (Einwendungen gegen definitive Rechtsöffnung), Art. 2 ZGB (Rechtsmissbrauch)
• Obwohl Art. 2 ZGB grundsätzlich auch im Bereich des Zwangsvollstreckungsrechts gilt (BGE 115 III 21, 32; 70 III 66; BK-Merz, Art. 2 ZGB N 71; a.M. BGE 60 III 8), kann der Schuldner bei der definitiven Rechtsöffnung, im Gegensatz zur provisorischen, nur in ganz eingeschränktem Umfang die Einrede erheben, die Vollstreckung des Urteils (nicht das Urteil selbst) sei rechtsmissbräuchlich (BGer., ZBJV 1994, 382; AppHof BE, SJZ 1990, 292; gegen jede Berücksichtigung von Rechtsmissbrauch: OGer. ZH, SJZ 1975, 165). Zudem hat er die Einrede durch Urkunden zu belegen (BGer., ZBJV 1994, 382). Es ist nicht die Aufgabe des Rechtsöffnungsrichters, unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchs das zu vollstreckende Urteil zu überprüfen.
• Dem Appellanten ist der Nachweis des Rechtsmissbrauchs nicht gelungen, denn die Bezahlung von Unterhaltsbeiträgen und die Gewährung des Besuchsrechts sind im schweizerischen Recht im Gegensatz zum deutschen österreichischen Recht grundsätzlich unabhängig voneinander geschuldet und stehen auch in keinem faktischen Austauschverhältnis, selbst wenn sie in demselben Urteil festgesetzt worden sind.
Redaktionelle Vorbemerkungen:
Keine.
Auszug aus den Erwägungen:
I.
[...]
II.
1. Der Appellant bringt zur Begründung vor, die Vollstreckung nur eines Teiles eines rechtskräftigen Urteils, ohne dass sich die dadurch begünstigte Person an die sie treffenden Pflichten halte, werde als unbillig und rechtsmissbräuchlich im Sinne von Art. 2 ZGB qualifiziert. Nach deutscher und österreichischer Rechtssprechung und Gesetzgebung werde bei einer Verweigerung des Besuchsrechts durch den obhutsbzw. sorgeberechtigten Elternteil der andere Elternteil von seiner Pflicht zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen befreit bzw. werde der Unterhalt herabgesetzt. Die Vorinstanz habe das Rechtsöffnungsgesuch der Appellatin gutgeheissen mit der Begründung, Art. 2 ZGB sei zwar auch im Verfahren der definitiven Rechtsöffnung zu beachten, allerdings könne der Schuldner nach schweizerischem Recht nur in ganz eingeschränktem Mass die Einrede erheben, die Vollstreckung des Urteils sei rechtsmissbräuchlich. Erscheine die Vollstreckung des Urteils aufgrund von Tatsachen, welche erst nach dem Urteil eingetreten seien, als rechtsmissbräuchlich, so müsse der Schuldner das Urteil durch den ordentlichen Richter abändern lassen und könne nicht bloss bei der Vollstreckung die Einrede des Rechtsmissbrauchs erheben. Auf die in Deutschland und Österreich geltende Rechtssprechung sei die Vorinstanz überhaupt nicht eingegangen. (...)
Statt sich tatsächlich mit der Argumentation betreffend die Geltendmachung des Rechtsmissbrauchs auseinander zu setzen, beschränke die Vorinstanz ihre Ausführungen grundsätzlich auf die - unzutreffende - Feststellung, wonach Tatsachen, welche die Vollstreckung des Urteils rechtsmissbräuchlich erscheinen liessen, erst nach diesem eingetreten seien. Die Vorinstanz führe aus, ob Rechtsmissbrauch vorliege, habe in casu nicht der Rechtsöffnungsrichter, sondern allenfalls der Eheschutzrichter in einem Abänderungsverfahren zu entscheiden. Dem Rechtsöffnungsrichter stehe die Verweigerung der Vollstreckung nicht zu. Es sei zutreffend, dass der Rechtsmissbrauch in der Rechtsöffnung nur in den seltensten Fällen angenommen werden könne. Vorausgesetzt werde, dass er sofort und liquide zu beweisen sei, ansonsten der Einwand vom Rechtsöffnungsrichter nicht berücksichtigt werden dürfe. Die Einwendung sei nicht zu berücksichtigen, wenn sie auf veränderten Verhältnissen beruhe und der Beklagte die Möglichkeit gehabt hätte, den der Rechtsöffnung zugrunde liegenden Entscheid durch ein Abänderungsverfahren einen Rechtsbehelf ändern bzw. aufheben zu lassen (mit Verweis auf Stücheli, Die Rechtsöffnung, Zürich 2000, S. 232). Nach feststehender Lehre und Rechtssprechung sei der Grundsatz von Treu und Glauben nicht nur im Bundesprivatrecht zu beachten, denn er stelle eine Schranke aller Rechtsausübung dar. Er gelte auch im Zwangsvollstreckungsverfahren, zu dem auch die Rechtsöffnung gehöre (mit Hinweis auf BGE 94 I 374, BGE 94 III 82, BGE 96 III 99).
Vorliegend sei der gemeinsame Haushalt am 1. Dezember 2008 aufgehoben worden. Der im vorliegenden Fall zu vollstreckende obergerichtliche Entscheid datiere vom 21. Oktober 2008. Die Appellatin habe die gemeinsame Tochter Z bereits vor dem Auszug des Appellanten aus der ehelichen Liegenschaft vollständig von ihrem Vater, dem Appellanten abgeschottet und habe jeglichen Kontakt verweigert. Die Tatsachen, welche die Vollstreckung des rechtskräftigen Entscheids rechtsmissbräuchlich erscheinen liessen, seien somit bereits vor dem Entscheid vorhanden gewesen. Vorliegend sei seit Fällung des zu vollstreckenden Entscheids keine Änderung der Sachlage eingetreten. Sofern sich an den materiellen Gegebenheiten seit der Urteilsfällung nichts geändert habe und ein Urteil, welches integral die gegenseitigen Rechte und Pflichten festsetze von einer Partei in ungerechtfertigter Weise nicht erfüllt werde, stehe dem Einwand des Rechtsmissbrauchs im Rechtsöffnungsverfahren nichts entgegen, sofern dieser belegt werden könne. (...) Wenn bei bedingten gegenseitigen Forderungen der Eintritt der Bedingung bzw. die gehörige Erbringung der Gegenleistung nicht einwandfrei feststehe, sei die definitive Rechtsöffnung zu verweigern (mit Verweis auf ZR 84 [1985] S. 167, mit Hinweisen). Für die Beurteilung des vorliegenden Falles spiele der Umstand, dass die Unterhaltsbeiträge und das Besuchsrecht unabhängig voneinander geschuldet seien, keine Rolle. Die beiden Verpflichtungen ständen auch wenn sie sich nicht gegenseitig bedingen - durch die gleichzeitige gerichtliche Festsetzung in einem Urteil in derart engem Zusammenhang, dass es sich nicht rechtfertige, sie losgelöst voneinander zu betrachten. Durch ein einziges Eheschutzurteil würden die gegenseitigen Rechte und Pflichten integral festgelegt, wobei sie in ein faktisches Austauschverhältnis treten. Das Urteil sei als Ganzes zu betrachten und von beiden sowohl berechtigten wie verpflichteten - Parteien gleichermassen zu befolgen. Von den Parteien könne somit nicht frei gewählt werden, welche Teile sie erfüllen wollten und welche nicht. Die Appellatin fordere einerseits die Zahlung der Unterhaltsbeiträge und vereitele andererseits in schikanöser Weise das Besuchsrecht des Appellanten. Bereits ohne Berücksichtigung der österreichischen und deutschen Rechtssprechung sei von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten auszugehen. Durch die Beilagen zur vorinstanzlichen Stellungnahme sei der Rechtsmissbrauch hinreichend belegt.
Tatsächlich bestehe hier in der Schweiz keine bekannte Rechtssprechung zum vorliegenden Fall. Die deutschen und österreichischen Gerichte hätten sich im Gegensatz dazu bereits mehrfach mit der Frage beschäftigt, ob die dauernde Verweigerung des Besuchsrechts durch den obhutsbzw. sorgeberechtigten Elternteil den anderen von seiner Pflicht zur Zahlung von Unterhaltsbeiträgen befreie. Fortgesetzte, massive und schuldhafte Vereitelung des Umgangsrechts führe in beiden Ländern in gravierenden Fällen zu einer Herabsetzung bis hin zur Verwirkung des Unterhaltsanspruchs des obhutsbzw. sorgeberechtigen Elternteils. Der vorliegende Fall sei derart eindeutig, die Vereitelung des Besuchsrechts durch die Appellatin sei durch zahlreiche Schriftstücke belegt und werde von dieser noch nicht einmal bestritten. Sie habe im Gegenteil sogar verlauten lassen, dass sie ein Besuchsrecht des Appellanten auch in Zukunft verhindern werde.
2. [...]
III.
1. [...]
2. [...]
3. Obwohl Art. 2 ZGB grundsätzlich auch im Bereich des Zwangsvollstreckungsrechts gilt (BGE 115 III 21, 32; 70 III 66; BK-Merz, Art. 2 ZGB N 71; a.M. BGE 60 III 8), kann der Schuldner bei der definitiven Rechtsöffnung, im Gegensatz zur provisorischen, nur in ganz eingeschränktem Umfang die Einrede erheben, die Vollstreckung des Urteils (nicht das Urteil selbst) sei rechtsmissbräuchlich (BGer., ZBJV 1994, 382; AppHof BE, SJZ 1990, 292; gegen jede Berücksichtigung von Rechtsmissbruch: OGer. ZH, SJZ 1975, 165). Zudem hat er die Einrede durch Urkunden zu belegen (BGer., ZBJV 1994, 382). Es ist nicht die Aufgabe des Rechtsöffnungsrichters, unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchs das zu vollstreckende Urteil zu überprüfen. Erscheint die Vollstreckung des Urteils aufgrund von Tatsachen, welche erst nach dem Urteil eingetreten sind, als rechtsmissbräuchlich, so muss der Schuldner das Urteil durch den ordentlichen Richter abändern lassen und kann nicht bloss bei der Vollstreckung die Einrede des Rechtsmissbrauchs erheben (SchKG - Staehelin, Art. 81 N 17).
In BGE 115 III 97, S. 100 führte das Bundesgericht aus, es entspreche dem Willen des Gesetzgebers, dass die Möglichkeiten des Schuldners zur Abwehr im Verfahren der definitiven Rechtsöffnung eng beschränkt seien; um jede Verschleppung der Vollstreckung zu verhindern, könne der definitive Rechtsöffnungstitel daher nur durch einen strikten Gegenbeweis, d.h. mit völlig eindeutigen Urkunden, entkräftet werden. Dies gelte gerade auch für familienrechtliche Unterhaltsforderungen, die im materiellen Recht und im Vollstreckungsrecht in verschiedener Hinsicht privilegiert seien.
4. Der Entscheid der 1. Zivilkammer des Appellationshofes des Kantons Bern vom (...) regelt nebst den Unterhaltsbeiträgen in Ziffer 3 auch das Besuchsrecht zwischen dem Appellanten und der Tochter Z rechtskräftig. Dieses Besuchsrecht wurde mit Entscheid der Gerichtspräsidentin C des Gerichtskreises D vom 6. April 2009 im Verfahren betreffend Gesuch um Vollstreckung Besuchsrecht und Einspruch gemäss Art. 409 ZPO vollstreckbar erklärt (Vernehmlassungsbeilage 2).
Die Bezahlung von Unterhaltsbeiträgen und die Gewährung des Besuchsrechts sind im schweizerischen Recht grundsätzlich unabhängig voneinander geschuldet. Auch im vorliegenden Verfahren ist entgegen den Ausführungen des Appellanten - nicht ersichtlich, inwiefern die Unterhaltsbeiträge sowie die Gewährung des Besuchsrechts in einem derart engen Zusammenhang stehen, dass es sich nicht rechtfertigt, sie losgelöst voneinander zu betrachten. Die Kammer ist der Meinung, dass die beiden Pflichten vorliegend in keinem faktischen Austauschverhältnis stehen, auch wenn sie in einem einzigen Urteil festgesetzt worden sind. Andernfalls hätte im durch den Appellanten eingeleiteten Vollstreckungsverfahren betreffend Vollstreckung des Besuchsrechts (Vernehmlassungsbeilagen 1 und 2) ebenfalls geprüft werden müssen, ob der Appellant der Bezahlung seiner Unterhalsbeiträge regelmässig und in genügender Höhe nachkommt, um das Besuchsrecht überhaupt vollstrecken zu können. Die Unterhaltsbeiträge sowie die Gewährung des Besuchsrechts sind vorliegend unabhängig voneinander geschuldet und die beiden Pflichten können somit auch unabhängig voneinander vollstreckt werden. Die Einleitung des Betreibungsverfahrens durch die Appellatin war somit nicht rechtsmissbräuchlich.
(...)
5. [...]
IV.
[...]
Hinweis:
Der Entscheid ist nicht rechtskräftig.