E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Urteil Obergericht (BE)

Zusammenfassung des Urteils BK 2013 192: Obergericht

Die Beschwerdeführerin hat fristgerecht Einspruch gegen den Strafbefehl erhoben und persönlich an der Hauptverhandlung teilgenommen. Trotz ihres Nichterscheinens beim zweiten Termin der Hauptverhandlung wurde die Rückzugsfiktion gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO nicht angewendet, da sie bereits ihr Interesse am Fortgang des Verfahrens gezeigt hatte. Im Einspracheverfahren gilt eine Mitwirkungspflicht, und das unentschuldigte Fernbleiben führt zur Rückzugsfiktion. Diese Bestimmung stellt eine Ausnahme vom verfassungs- und konventionsrechtlich garantierten Anspruch auf gerichtliche Beurteilung dar. Die Vorinstanz hat die Rückzugsfiktion in diesem Fall zu Unrecht angewendet.

Urteilsdetails des Kantongerichts BK 2013 192

Kanton:BE
Fallnummer:BK 2013 192
Instanz:Obergericht
Abteilung:-
Obergericht Entscheid BK 2013 192 vom 10.09.2013 (BE)
Datum:10.09.2013
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Rückzugsfiktion (Leitentscheid)
Schlagwörter : Einsprache; Verfahren; Rückzug; Rückzugsfiktion; Befehl; Hauptverhandlung; Gericht; Recht; Beurteilung; Bundesgerichts; Oberrichter; Fernbleiben; Verfahrens; Termin; Befehlsverfahren; Anspruch; Urteil; Verfahren; Sache; Staatsanwalt; Grundsatz; Glauben; Desinteresse; Ausstandsgesuch; Gerichtspräsidentin; Interesse; Fortgang; Verfahrens; ässt
Rechtsnorm:Art. 29a BV ;Art. 356 StPO ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts BK 2013 192

BK 2013 192 - Rückzugsfiktion (Leitentscheid)
BK 2013 192

Beschluss der Beschwerdekammer in Strafsachen

Oberrichterin Schnell (Präsidentin), Oberrichter Trenkel, Oberrichter Aebi
Gerichtsschreiber Baloun

vom 20. August 2013

in der Strafsache gegen

A.
Beschuldigte/Beschwerdeführerin

Regionale Staatsanwaltschaft Berner Jura - Seeland
vertreten durch Staatsanwalt X.
Anklagebehörde

wegen Drohung / Rückzug Einsprache


Regeste
Die in Art. 356 Abs. 4 StPO stipulierte Rückzugsfiktion kann nur zum Tragen kommen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann.
Die Beschwerdeführerin erhob gegen den Strafbefehl fristgerecht Einsprache. Sie erschien persönlich am ersten Termin der Hauptverhandlung und stellte an dieser ein Ausstandsgesuch gegen die vorsitzende Gerichtspräsidentin. Damit hatte sie ihr Interesse am Fortgang des Verfahrens ausreichend kundgetan. Die Rückzugsfiktion war trotz Nichterscheinens der Beschwerdeführerin am zweiten Termin der Hauptverhandlung - nicht anwendbar.


Auszug aus den Erwägungen:
[...]
4.
4.1 Das Strafbefehlsverfahren ist mit der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) bzw. dem konventionsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu einem Gericht mit voller Überprüfungskompetenz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) vereinbar, weil es letztlich vom Willen des Betroffenen abhängt, ob er den Strafbefehl akzeptiert mit blosser Einsprache von dem ihm zustehenden Recht auf gerichtliche Beurteilung Gebrauch machen will. Die Rechtsstaatlichkeit des Strafbefehlsverfahrens lässt sich nur damit begründen, dass auf Einsprache hin ein Gericht mit voller Kognition und unter Beachtung der für das Strafverfahren geltenden Mindestrechte über den erhobenen Vorwurf entscheidet (Urteil des Bundesgerichts 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 3.1).
4.2 Die Einsprache erhebende Person trifft im Einspracheverfahren jedoch eine Mitwirkungspflicht. Bleibt sie der Hauptverhandlung unentschuldigt fern und lässt sie sich auch nicht vertreten, so gilt ihre Einsprache gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO als zurückgezogen. Im Gegensatz zum ordentlichen Verfahren führt das unentschuldigte Fernbleiben an der Hauptverhandlung im Einspracheverfahren somit zu einem vollständigen Rechtsverlust (Urteil des Bundesgerichts 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 3.3; vgl. auch Riklin, in: Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2011, Art. 355 N 2, der dies als „Ausdruck einer sachlich ungerechtfertigten Benachteiligung“ bezeichnet). Eine gerichtliche Beurteilung der im summarischen Strafbefehlsverfahren erhobenen Vorwürfe findet nicht mehr statt. Die in Art. 356 Abs. 4 StPO stipulierte Rückzugsfiktion stellt damit eine Ausnahme vom verfassungsund konventionsrechtlich garantierten Anspruch auf gerichtliche Beurteilung dar. Diese Bestimmung ist daher - unter Beachtung der verfassungsund konventionsrechtlichen Vorgaben eng auszulegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die gesetzliche Rückzugsfiktion deshalb nur zum Tragen kommen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (Urteil des Bundesgerichts 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.5.4).
4.3 Die Beschwerdeführerin hat vorliegend gegen den Strafbefehl fristgerecht Einsprache erhoben. Sie erschien persönlich an der Hauptverhandlung vom 21. März 2013 und stellte an dieser ein Ausstandsgesuch gegen die vorsitzende Gerichtspräsidentin. Damit hat sie ihr Interesse am Fortgang des Verfahrens ausreichend kundgetan. Bei dieser Sachlage kann allein aus dem Umstand, dass sie am zweiten Termin der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, nicht darauf geschlossen werden, dass sie auf ihren Anspruch auf gerichtliche Beurteilung (konkludent) verzichtet hat. Die Vorinstanz hat die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO somit zu Unrecht angewendet.

[...]
Quelle: https://www.zsg-entscheide.apps.be.ch/tribunapublikation/

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.