ABS 2019 171 - Rechtsstillstand nach Art. 60 SchKG
Obergericht
des Kantons Bern
Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen
Cour suprême
du canton de Berne
Autorité de surveillance
en matière de poursuite
et de faillite
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Entscheid
ABS 19 171
Bern, 13. Juni 2019
Besetzung Oberrichter Studiger (Präsident) und Hurni, die Oberrichterin Grütter sowie Gerichtsschreiber Knüsel
Verfahrensbeteiligte A.________
vertreten durch Fürsprecher B.________
Beschwerdeführer
gegen
Betreibungsamt Oberland, Dienststelle Oberland Ost, Schloss 5, 3800 Interlaken
Gegenstand Beschwerde gegen Zustellung des Zahlungsbefehls
Regeste:
Rechtsstillstand nach Art. 60 SchKG
Ein verhafteter Schuldner geniesst in Anwendung von Art. 60 SchKG einen Rechtsstillstand, damit er Zeit hat, sich zur Wahrung seiner Interessen einen vertraglichen Vertreter zu bestellen. Benennt er einen untauglichen Vertreter, nimmt die Betreibung ohne weitere Fristansetzung ihren Lauf und dürfen Betreibungsurkunden direkt dem Schuldner im Gefängnis zugestellt werden (E. 5 ff.).
Erwägungen:
1. Der Gläubiger (C.________) betreibt den Schuldner (A.________) für eine offenen Forderung von Fr. 10'555.45 zzgl. Akzessorien. Der entsprechende Zahlungsbefehl konnte weder per Post noch durch einen Betreibungsangestellten zugestellt werden. Nach diversen Abklärungen brachte das Betreibungsamt Oberland, Dienststelle Oberland Ost, in Erfahrung, dass der Schuldner im Regionalgefängnis Thun inhaftiert war (Vernehmlassungsbeilage [VB] 1/2).
Am 22. Oktober 2018 wurde dem Schuldner Frist nach Art. 60 SchKG zur Bestellung eines Vertreters angesetzt (VB 1/3). Der Schuldner bezeichnete D.________ Fürsprecher, Bern, als seinen Vertreter (VB 1/4). Die (rechtshilfeweise) Zustellung an den vom Schuldner bestimmten Vertreter in Bern scheiterte jedoch ebenfalls. Fürsprecher D.________ verweigerte die Annahme, weil er kein Zustellmandat für Zahlungsbefehle habe (VB 1/5).
Schliesslich konnte der Zahlungsbefehl dem Schuldner (abermals rechtshilfeweise) am 21. Februar 2019 im Regionalgefängnis Thun zugestellt werden (VB 1/6).
2. Mit E-Mail vom 11. April 2019 erhob die strafrechtliche Verteidigung des Schuldners (B.________ AG) Rechtsvorschlag, der jedoch von der Dienststelle Oberland Ost zufolge Verspätung am 2. Mai 2019 zurückgewiesen wurde (VB 1/8).
3. Dagegen erhob der Schuldner (vertreten durch seinen Strafverteidiger) am 13. Mai 2019 Beschwerde mit den Begehren um Aufhebung der angefochtenen Verfügung und um Feststellung, dass der Rechtsvorschlag rechtzeitig erhoben worden sei.
Der Schuldner rügt eine nicht ordnungsgemässe Fristansetzung gemäss Art. 60 SchKG. Er vertritt die Ansicht, dem Schuldner hätte anlässlich der Zustellung vom 21. Februar 2019 nochmals Frist nach Art. 60 SchKG angesetzt werden müssen. Er beruft sich dabei auf die Kommentierung Jaeger/Walder/ Kull/Kottmann, SchKG, N 3 zu Art. 60 SchKG. Stelle sich im nachhinein heraus, dass der Zustellempfänger den Schuldner nicht vertrete, sei die Betreibungshandlung zu annullieren und (neu) Frist anzusetzen.
4. Die Dienststelle Oberland Ost schloss am 29. Mai 2019 auf Abweisung der Begehren. Ihrer Ansicht nach war die direkte Zustellung an den Schuldner korrekt und die Erhebung des Rechtsvorschlages verspätet.
Mit Verfügung vom 3. Juni 2019 wurde dem Schuldner das rechtliche Gehör gewährt. Er liess sich nicht mehr vernehmen.
Auf die form- und fristgerechte Beschwerde ist einzutreten.
5. Zunächst ist zu prüfen, ob dem Schuldner im Gefängnis der Zahlungsbefehl zugestellt werden durfte:
Nach Art. 60 SchKG geniesst ein verhafteter Schuldner einen Rechtsstillstand, damit er Zeit hat, sich zur Wahrung seiner Interessen einen vertraglichen Vertreter zu bestellen. Hierzu setzt das Betreibungsamt dem nicht vertretenen Schuldner eine Frist an. Der Rechtsstillstand gilt bis zum Ablauf dieser Frist. Erst wenn der Verhaftete diese Frist ungenutzt verstreichen lässt, kann die Betreibung ihren Lauf nehmen und dürfen Betreibungsurkunden direkt dem sich in Haft befindlichen Schuldner zugestellt werden (Bauer, Basler Kommentar zum SchKG, 2010, N 1 und 6 zu Art. 60 SchKG).
6. Aus den von der Dienststelle Oberland Ost eingereichten Unterlagen geht hervor, dass dem Schuldner mit Schreiben vom 22. Oktober 2018 korrekt Frist gemäss Art. 60 SchKG angesetzt wurde (VB 1/3). Der Schuldner teilte dem Amt daraufhin einen Vertreter mit, der die Entgegennahme jedoch ablehnte.
7. Die Bevollmächtigung an sich ist zwar ein einseitiges Rechtsgeschäft. Abgesehen von Fällen der gesetzlichen Vertretung, richtet sich das interne Verhältnis zwischen Vertreter und Vertretenem indes nach einem obligationenrechtlichen Vertrag (Auftrag etc.). Dieses Veranlassungsgeschäft regelt die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Parteien, namentlich die Verpflichtung des Vertreters, im Interesse des Vertretenen rechtsgeschäftlich tätig zu werden (zum Ganzen vgl. Guhl, Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Auflage, § 18 N 12).
Ein solches Veranlassungsgeschäft ist hier nicht ersichtlich. Es wird auch nicht dargelegt, warum der als Vertreter bezeichnete Rechtsanwalt aus Gesetz oder Vertrag verpflichtet gewesen wäre, vermögensrechtliche Interessen des sich in Untersuchungshaft befindlichen Schuldners zu wahren. Fürsprecher Tobler war daher nicht verpflichtet, als Vertreter des Schuldners tätig zu werden.
8. Aus diesem Grund ist nicht zu beanstanden, dass die Dienststelle Oberland Ost nach Ablauf der Frist gemäss Art. 60 SchKG den Zahlungsbefehl direkt dem Schuldner zustellte. Dieser hat vielmehr selbst zu verantworten, dass er keinen tauglichen Vertreter ernannte.
9. Entgegen dem was in der Beschwerde suggeriert wird, muss dem Schuldner auch nicht wiederholt Frist angesetzt werden. Aus Art. 60 SchKG ergibt sich kein Anspruch auf mehrmalige Fristansetzung. Die in der Beschwerde zitierte Kommentarstelle betrifft einen anderen Fall. Die Ausführungen beziehen sich auf Ersatzzustellungen (Art. 64 SchKG) an Drittpersonen ohne vorgängige Vertreteranfrage und ohne Wissen um die Inhaftierung des Schuldners. Das ist mit dem hier zu beurteilenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Es wird selbst vom Schuldner nicht bestritten, dass ihm die Möglichkeit, einen Vertreter zu bezeichnen, eingeräumt worden ist.
10. Eine Verletzung von Art. 60 SchKG kann folglich ausgeschlossen werden, weshalb die Zustellung des Zahlungsbefehles am 21. Februar 2019 rechtsgültig erfolgte.
Der Rechtsvorschlag - der eingeräumtermassen erst am 11. April 2019 erhoben wurde - erweist sich demnach als verspätet. Folglich ist die angefochtene Verfügung vom 2. Mai 2019 nicht zu beanstanden, was zur Abweisung der Beschwerde führt.
11. Im betreibungs- und konkursrechtliche Beschwerdeverfahren werden weder Gerichtskosten erhoben noch Parteientschädigungen gesprochen (Art. 20a SchKG und Art. 61 Abs. 2 sowie Art. 62 Abs. 2 GebV SchKG)
Die Aufsichtsbehörde entscheidet:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Es werden keine Kosten gesprochen.
3. Zu eröffnen:
- dem Schuldner, v.d. seinen Anwalt
- dem Betreibungs- und Konkursamt Oberland
Bern, 13. Juni 2019
Im Namen der Aufsichtsbehörde
in Betreibungs- und Konkurssachen
Der Präsident:
Oberrichter Studiger
Der Gerichtsschreiber:
Knüsel
Rechtsmittelbelehrung
Gegen den Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen kann innert zehn Tagen nach der Eröffnung beim Bundesgericht Beschwerde erhoben werden. Wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung durch die kantonale Aufsichtsbehörde ist die Beschwerde jederzeit zulässig (Art. 72 Abs. 2 lit. a, Art. 95 ff., Art. 100 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005). Die Beschwerden sind an die folgende Adresse einzureichen: Schweizerisches Bundesgericht, 1000 Lausanne 14.
Der Entscheid ist rechtskräftig.
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