I. Anwaltsrecht
92 Art. 12 lit. a BGFA Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte dürfen bei ihrer Tätigkeit Kritik an der Rechtspflege üben, und es ist ihr Recht und ihre Pflicht, allfällige Missstände aufzuzeigen und Mängel des Verfahrens zu rügen. Rechtsan- wältinnen und Rechtsanwälte müssen aber im Kontakt mit der Gegen- partei und den Behörden sachlich bleiben. Persönliche Beleidigungen, Verunglimpfungen und Beschimpfungen sind zu unterlassen.
Entscheid der Anwaltskommission vom 23. Mai 2013 (AVV.2012.30).
Sachverhalt
1. (...)
Die beanzeigte Anwältin wurde betreffend folgender Äusserung
in ihrem Schreiben vom 31. Januar 2010 an Rechtsanwalt X wegen
übler Nachrede schuldig gesprochen: "In meiner langen beruflichen
Tätigkeit bin ich selten mit einem Verfahren konfrontiert worden, bei
der sich die Familie so manipulativ und charakterlos verhalten hat,
wie die Mitglieder der Familie S.."
Aus den Erwägungen
(...)
2.2.2.
Eine sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung bedingt,
dass sich der Rechtsanwalt seiner besonderen Stellung in der
Rechtspflege entsprechend einer gewissen Zurückhaltung befleis-
sigt, um einer Eskalation der Streitigkeit entgegenzuwirken (vgl.
BGE 130 II 270 E. 3.2.2 S. 277); er soll die Auseinandersetzung mit
dem Gegner dessen Rechtsvertreter nicht auf persönlicher Ebe-
ne austragen. Vom Rechtsanwalt darf erwartet werden, dass er auch
im Kontakt mit der Gegenpartei und den Behörden sachlich bleibt
und auf persönliche Beleidigungen, Verunglimpfungen und Be-
schimpfungen verzichtet (BGE 131 IV 154 E. 1.3.2 S. 158). Im Übri-
gen bleibt es dem Rechtsanwalt aber unbenommen, bei seiner Tä-
tigkeit Kritik an der Rechtspflege zu üben; es ist sein Recht und seine
Pflicht, allfällige Missstände aufzuzeigen und Mängel des Verfahrens
zu rügen (BGE 106 Ia 100 E. 8b S. 107 f.). Er darf insoweit durchaus
energisch auftreten und sich den Umständen entsprechend scharf
ausdrücken, wobei von ihm nicht verlangt werden kann, jedes Wort
genau abzuwägen (vgl. Urteil des Bundesgerichtes 2A.499/2006 vom
11. Juni 2007). Im Kontakt mit Gegenparteien hat sich der Anwalt
aber stets so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine Person und die
Anwaltschaft insgesamt gewahrt bleibt (FELLMANN BGFA-Kom- mentar, N 49 zu Art. 12). Er darf keine Aussagen machen, die für den
Prozess sachlich bedeutungslos sind und nur die Gegenpartei demüti-
gen sollen. Beleidigungen mittels Anzüglichkeiten, die nicht zur Sa-
che gehören, und unnötig ehrverletzende Äusserungen gegenüber
Gegnern und Dritten sind zu unterlassen (FELLMANN BGFA-Kom- mentar, N 50 zu Art. 12).
2.3.
Mit Urteil des Obergerichtes des Kantons Aargau vom 14. Feb-
ruar 2012 wurde die beanzeigte Anwältin der üblen Nachrede gemäss
Art. 173 Ziff.1 StGB schuldig gesprochen. Diesem ist zu entnehmen,
dass sich die beanzeigte Anwältin auf den Rechtfertigungsgrund der
gesetzlich erlaubten Handlung (Art. 14 StGB) berief.
(...)
2.5.2
(...)
Zwar ist die Anwaltskommission an einen strafrechtlichen Ent-
scheid nicht gebunden (vgl. Walter Fellmann , Anwaltsrecht, Bern
2010, N 608 [zit. Fellmann, Anwaltsrecht]), vorliegend erachtet die
Anwaltskommission die Ausführungen des Obergerichtes, wonach
der Rechtfertigungsgrund der gesetzlich erlaubten Handlung gemäss
Art. 14 StGB nicht gegeben ist, als zutreffend. Zudem lässt sich der
Stellungnahme der beanzeigten Anwältin vom 20. August 2012
nichts entnehmen, was nicht auch schon dem Obergericht des Kan-
tons Aargau zum Zeitpunkt der Urteilsfällung bekannt war. Zwar darf
die beanzeigte Anwältin wie bereits ausgeführt durchaus energisch
auftreten, sich den Umständen entsprechend scharf ausdrücken, Kri-
tik an der Rechtspflege üben und allfällige Missstände aufzeigen. In-
dem die beanzeigte Anwältin jedoch die Gegenpartei sowie deren Fa-
milie in ihrem Schreiben vom 31. Januar 2010 an den Rechtsanwalt
eines manipulativen und charakterlosen Verhaltens bezichtigte, über-
schritt sie diese Grenze, zumal die Familie der Gegenpartei mit dem
Verfahren nichts zu tun hatte und nicht daran beteiligt war. Die
Äusserung der beanzeigten Anwältin war ohne sachlichen Bezug und
dürfte ihrem Klienten wenig gedient haben. Die beanzeigte Anwältin
hat sich mit dieser Äusserung nicht nur rechtswidrig verhalten, son-
dern auch die in Art 12 lit. a BGFA statuierte Pflicht zu einer sorgfäl-
tigen und gewissenhaften Berufsausübung verletzt. Soweit die bean-
zeigte Anwältin in ihrer Stellungnahme auf ihr grosses Engagement
verweist, ist zu betonen, dass nicht ihr Engagement beanstandet wird,
sondern der Umstand, dass sie im Rahmen ihres Engagements unnö-
tige ehrverletzende Äusserungen gemacht hat. Ein grosses Enga-
gement bei der Wahrung der Interessen eines Mandanten einer
Mandantin ist auch ohne ehrverletzende Äusserung möglich.