2011 Steuerrekursgericht 292
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72 Vermögenssteuer; Dividendenentlastung für qualifizierte Beteiligungen an Unternehmungen mit Sitz im Ausland (§ 54 Abs. 3 StG) Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung folgend ist § 54 Abs. 3 StG als verfassungswidrig zu betrachten. Da das Verwaltungsgericht § 54 Abs. 3 StG trotz dessen Verfassungswidrigkeit weiterhin anwendet, ist die Norm im Sinne der Gleichbehandlung im Unrecht auf Beteiligungen an auslän- dischen Unternehmungen anzuwenden.
Aus dem Entscheid des Steuerrekusgerichtes vom 25. August 2011 in Sa-
chen U. + M.B. (3-RV.2010.85).
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Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Die Rekurrenten deklarierten im Wertschriftenund Guthaben-
verzeichnis per 31. Dezember 2007 126 B-Aktien und 180 C-Aktien
der X., einer Gesellschaft mit Sitz in Finnland. Diese 18.9-prozentige
Beteiligung wurde vom KStA, Sektion Verrechnungssteuer und
Wertschriftenbewertung, mit CHF 1'115'500.00 (Steuerwert) bewer-
tet. Die Dividendenerträge wurden mit CHF 133'110.00 angegeben.
Diese Werte sind unbestritten. Umstritten ist im Rekursverfahren
noch die Frage, ob auch für eine Beteiligung an einer ausländischen
Gesellschaft eine Steuerentlastung nach § 54 Abs. 3 StG in Frage
kommt.
(...)
2.3.
Gestützt auf die im Einspracheverfahren eingeholte Auskunft
des KStA wurden zwar neu die Beteiligungserträge gestützt auf die
bundesgerichtliche Rechtsprechung nach dem Teilsatzverfahren ge-
mäss § 45a StG besteuert. Hingegen wurde eine Herabsetzung des
Vermögenssteuerwertes der ausländischen Beteiligung nach § 54
Abs. 3 StG mit der Begründung abgelehnt, dass die Bestimmung des
aargauischen Steuergesetzes nicht vollständig mit der vom Bundes-
gericht als verfassungswidrig aufgehobenen Norm des bernischen
Steuergesetzes übereinstimme. § 54 Abs. 3 StG verlange zum einen
keine qualifizierte Beteiligung. Zum anderen diene die Bestimmung
nicht nur der Milderung der wirtschaftlichen Doppelbelastung, son-
dern auch der Standortattraktivität des Kantons und der Förderung
der KMU. Darin könne eine zulässige, rein tarifliche Massnahme
gesehen werden.
(...)
3.
3.1.
Das Bundesgericht hat sich in verschiedenen Entscheiden
(BGE 136 I 49 [Urteil vom 25. September 2009] betreffend den
Kanton Bern; BGE 136 I 65 [Urteil vom 25. September 2009] betref-
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fend den Kanton Schaffhausen; Urteil vom 25. September 2009
[2C_62/2008] betreffend den Kanton Basel-Land; Urteil vom
25. September 2009 [2C_30/2008] betreffend den Kanton Zürich)
zur Teilsatzbesteuerung geäussert.
Grundsätzlich ist auf die in der amtlichen Sammlung veröffent-
lichten Leitentscheide des Bundesgerichtes abzustellen. Publiziert
wurde in BGE 136 I 49 der Entscheid betreffend das Berner Steuer-
gesetz, welcher sich als einziger zur Verfassungsmässigkeit von Ent-
lastungen bei der Vermögenssteuer äussert. Darauf ist vorab einzuge-
hen. Die weiteren genannten Urteile befassen sich ausschliesslich mit
der Dividendenentlastung und sind insoweit weniger aussagekräftig.
In BGE 136 I 65 hat sich das Bundesgericht zusätzlich zur
Frage der Gleichbehandlung im Unrecht geäussert (vgl. Erw. 5).
(...)
3.3.
Vorab ist festzuhalten, dass sich die bundesgerichtliche Recht-
sprechung zu den kantonalen Bestimmungen zur Milderung der wirt-
schaftlichen Doppelbelastung nach der Inkraftsetzung von § 54
Abs. 3 StG per 1. Januar 2001 und den vorgenommenen Änderungen
per 1. Januar 2007 entwickelt hat. Die § 54 Abs. 3 StG zugrunde
liegende Absicht des Gesetzgebers wurde in den Materialien klar
festgehalten. Die Stärkung und Förderung der KMU, insbesondere
von Gesellschaften im Familienbesitz, stand als tarifliche Mass-
nahme im Vordergrund.
Die vom Bundesgericht angeführten Argumente, welche eine
Verfassungswidrigkeit von Art. 65 Abs. 2 des Berner Steuergesetzes
indizieren, gelten uneingeschränkt für die Überprüfung von § 54
Abs. 3 StG.
Zu beachten ist, dass sich das Bundesgericht vertieft mit der
Frage der wirtschaftlichen Doppelbelastung (und den verschiedenen
Lehrmeinungen) auseinandergesetzt hat. Eine generelle wirtschaft-
liche Doppelbelastung zwischen Kapitalund Vermögenssteuer wur-
de verneint. Das Bundesgericht hat aber die Verfassungswidrigkeit
der Entlastung bei der Vermögenssteuer gerügt, indem es - ungeach-
tet der Ausführungen zur wirtschaftlichen Doppelbelastung - das
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Fehlen von genügenden sachlichen Gründen für die Privilegierung
bemängelte.
Das Steuerrekursgericht ist auch wenn die Gründe für eine
Privilegierung wirtschaftlich nachvollziehbar sind an diese Recht-
sprechung gebunden. § 54 Abs. 3 StG kann auch nicht als rein tarifli-
che - und damit in der Tarifautonomie der Kantone liegende - Mass-
nahme verstanden werden, da mit der Halbierung des Vermögens-
steuerwertes die Bemessungsgrundlage (Steuerobjekt) betroffen ist.
Auch tarifliche Massnahmen sind verfassungskonform auszugestal-
ten.
Die in § 54 Abs. 3 StG vorgenommene Privilegierung beruht
mit gleicher (höchstrichterlicher) Begründung nicht auf genügenden
sachlichen Gründen (BGE 136 I 49, Erw. 6.2). Auch die Beschrän-
kung der Privilegierung auf Beteiligungen an inländischen Unter-
nehmungen (BGE 136 I 49, Erw. 6.2 mit Verweis auf die Ausführun-
gen zur Teilsatzbesteuerung von Dividenden) kann nicht gerechtfer-
tigt werden. § 54 Abs. 3 StG muss damit als verfassungswidrig be-
zeichnet werden.
Auch die bestehenden Abweichungen zwischen der bernischen
und der aargauischen Regelung im Wortlaut ("mit Sitz in der
Schweiz" anstelle von "inländischen") und im Inhalt (insbesondere
Beschränkung auf ein Quorum bzw. einen Minimalwert) vermögen
daran nichts zu ändern. Wie im Urteil des Bundesgerichtes ausge-
führt, sind beide Einschränkungen nicht haltbar.
(...)
4.
4.1.
Nachfolgend ist zu prüfen, welche Rechtsfolgen an die Verfas-
sungswidrigkeit zu knüpfen sind.
4.2.
Das aargauische Recht kennt die prinzipale Normenkontrolle
(vgl. § 70 ff. VRPG; § 68 ff. aVRPG). Die prinzipale Normenkon-
trolle erlaubt es dem Verwaltungsgericht, die angefochtenen Bestim-
mungen, welche dem übergeordneten Recht nicht entsprechen, auf-
zuheben (§ 73 Abs. 1 VRPG; § 71 Abs. 1 aVRPG). Führt die Auf-
hebung der rechtswidrigen Norm zu einer unbefriedigenden Rechts-
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lage, kann das Verwaltungsgericht eine befristete Übergangsregelung
erlassen (§ 73 Abs. 2 VRPG). Der Aufhebungsbeschluss ist ent-
sprechend den Regeln, die für die aufgehobene Bestimmung gelten,
zu veröffentlichen (§ 73 Abs. 3 VRPG).
Wie ausgeführt steht die prinzipale Normenkontrolle lediglich
dem Verwaltungsgericht zu. Das Steuerrekursgericht kann dagegen
nur in einem laufenden Verfahren eine inzidente Normenkontrolle,
d.h. die Kontrolle im konkreten Anwendungsfall, vornehmen. Dabei
kann es eine konkrete Norm im Einzelfall für nicht anwendbar erklä-
ren (AGVE 1988 S. 109 ff.; Michael Merker, Rechtsmittel, Klage
und Normenkontrollverfahren nach dem aargauischen Gesetz über
die Verwaltungsrechtspflege, Kommentar zu den §§ 38 - 72 VRPG,
Zürich 1998, § 68 VRPG N 54).
4.3.
Im vorliegenden Sachverhalt führt die inzidente Normenkon-
trolle aufgrund der Verfassungswidrigkeit von § 54 Abs. 3 StG zu
dessen Nichtanwendung. Eine mildere Massnahme ist nicht möglich,
da sich § 54 Abs. 3 StG nicht nur in Teilen, sondern insgesamt als
verfassungswidrig erweist. Das müsste zur Abweisung des Rekurses
führen, da vorliegend keine Rechtsgrundlage für eine Ermässigung
des Vermögenssteuerwertes auf Beteiligungen (mehr) besteht (vgl.
aber die nachfolgenden Ausführungen in Erw. 5).
5.
5.1.
Die Rekurrenten haben mit Rekurs nicht die Aufhebung von
§ 54 Abs. 3 StG verlangt. Vielmehr beantragen sie dessen Anwend-
barkeit auch für Beteiligungen an ausländischen Gesellschaften. Da-
mit machen sie sinngemäss eine Gleichbehandlung im Unrecht
geltend.
(...)
5.4.
Das Steuerrekursgericht hat das KStA (als Behörde, welche ge-
mäss § 161 Abs. 2 StG für richtige und gleichmässige Steuerveranla-
gungen sorgt) aufgefordert, sich insbesondere unter dem Aspekt der
Gleichbehandlung im Unrecht zu folgender Frage zu äussern:
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"Für den Fall, dass § 54 Abs. 3 StG vom Steuerrekursgericht aufgrund einer Verfassungswidrigkeit im konkret zu beurteilenden Einzelfall für nicht anwendbar erklärt werden sollte: Würde § 54 Abs. 3 StG (mangels Aufhebung der Norm durch das Steuerrekursgericht) in Veranlagungsverfahren, in denen die Voraussetzungen von § 54 Abs. 3 StG erfüllt werden, von den Steuerbehörden weiterhin angewendet und damit die bisherige Praxis fortgeführt" (...)
5.5.
5.5.1.
Das KStA hat sich in seiner Stellungnahme eindeutig dafür aus-
gesprochen, § 54 Abs. 3 StG auch zukünftig wortgetreu anzuwenden.
Damit bringt es zum Ausdruck, dass es § 54 Abs. 3 StG - unabhängig
davon, ob die Norm vom Steuerrekursgericht als verfassungswidrig
und damit auch als gesetzeswidrig qualifiziert werden muss weiter-
hin anwenden lässt. Damit haben die Rekurrenten einen grundsätz-
lichen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht.
5.5.2.
Das KStA verneint die Gleichbehandlung im Unrecht mit dem
Hinweis, § 54 Abs. 3 StG gebe nur einen Anspruch auf Steuerer-
mässigung für Beteiligungen an inländischen Kapitalgesellschaften
und Genossenschaften.
Das erstaunt in einem gewissen Grad. Das KStA hat sich in der
im Einspracheverfahren zu Handen der Steuerkommission abgege-
benen Stellungnahme zwar dafür ausgesprochen, den Einsprechern
die in § 54 Abs. 3 StG vorgesehene Entlastung bei der Vermögens-
steuer wegen der gesetzlich vorgesehenen Einschränkung auf inlän-
dische Kapitalgesellschaften und Genossenschaften nicht zu gewäh- ren. Hingegen hat es die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur
Dividendenentlastung bei der Einkommenssteuer wegen des im Ver-
gleich mit der beurteilten Berner Steuernorm im Wesentlichen identi-
schen Wortlautes von § 45a StG vorbehaltlos übernommen, obwohl
das Bundesgericht gerade die Einschränkung der Dividendenent-
lastung auf inländische Beteiligungen ausdrücklich als nicht zulässig
erachtet hat.
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Dieser Methodendualismus kann in Bezug auf den vorliegend
konkret zu beurteilenden Sachverhalt nicht hingenommen werden.
Die Rekurrenten haben Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht,
indem § 54 Abs. 3 StG ohne die Einschränkung auf Aktien und An-
teilscheine inländischer Kapitalgenossenschaften und Genossen-
schaften auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden ist.
5.6.
Der Rekurs ist gutzuheissen. Die Rekurrenten haben Anspruch
auf die in § 54 Abs. 3 StG vorgesehene Entlastung. Der Steuerwert
der 126 B-Aktien und der 180 C-Aktien der X. von
CHF 1'115'550.00 wird daher um 50 % herabgesetzt. Das satzbe-
stimmende Vermögen reduziert sich dementsprechend von
CHF 2'217'133.00 um CHF 557'775.00 auf CHF 1'659'358.00 (ge-
rundet CHF 1'659'000.00).