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24 Art. 4 Abs. 3 FamZG; Art. 7, 8 FamZV; Art. 13 ATSG
Ausbildungszulagen werden nur für Kinder mit Wohnsitz in der Schweiz
erbracht. Der Wohnsitz definiert sich dabei nach zivilrechtlichen Grund-
sätzen. Entgegen der Weisung des BSV darf nicht starr ab dem zweiten
Ausbildungsjahr im Ausland auf eine Wohnsitznahme im Ausland ge-
schlossen werden.
Aus dem Entscheid des Versicherungsgerichts, 3. Kammer, vom 5. Juli 2011 in Sachen J.M. gegen SVA Aargau (VBE.2011.249).
Aus den Erwägungen
1. 1.1. Seit Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Familienzulagen (FamZG) per 1. Januar 2009 sind die Grundsätze der Zulagenberechtigung nicht mehr kantonal, sondern bundesrechtlich geregelt. Ebenfalls anwendbar ist das Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; vgl. Art. 1 FamZG). 1.2. Die Familienzulagen umfassen die Kinderzulagen und die Ausbildungszulagen (Art. 3 Abs. 1 FamZG). Ausbildungszulagen werden ab dem vollendeten 16. Altersjahr bis zum Abschluss der Ausbildung ausgerichtet, längstens jedoch bis zum Ende des Monats, in dem das 25. Altersjahr vollendet wird. Für im Ausland wohnhafte Kinder besteht ein Anspruch auf Zulagen längstens bis zur Vollendung des 16. Altersjahres (Art. 4 Abs. 3 FamZG i.V.m. Art. 7 Abs. 1 lit. d der Verordnung zum FamZG [FamZV]).
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2. 2.1. Der Beschwerdeführer bezog bis Ende 2010 Kinderbzw. Ausbildungszulagen für seine beiden Töchter J. und S. (geb. 1988). Beide begannen im September 2007 eine Ausbildung in den USA; zuerst an der Universität X., J. dann ab 2008 an der Universität Y. und S. an der Z. Universität. Die Beschwerdegegnerin kam zum Schluss, J. und S. hätten seit 1. Januar 2011 Wohnsitz in den USA, weshalb ab diesem Zeitpunkt kein Anspruch mehr auf Familienzulagen bestehe. Sie stützte sich dabei auf die Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) zum Bundesgesetz über die Familienzulagen (FamZWL). Darin hält das BSV fest, für Kinder, die eine Ausbildung im Ausland absolvierten, welche länger als ein Jahr dauere, bestehe in der Regel ab Beginn des zweiten Jahres im Ausland kein Anspruch auf Familienzulagen mehr (Rz. 301 FamZWL). Die Weisung wurde mit Geltung ab 1. Januar 2011 in die Wegleitung eingefügt. 2.2. In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Verwaltungsweisungen für den Sozialversicherungsrichter nicht verbindlich sind. Er soll sie bei seiner Entscheidung jedoch mit berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Er weicht andererseits insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 126 V 64 E. 4b S. 68). 2.3. 2.3.1. Während Art. 4 Abs. 3 FamZG noch von im Ausland wohnhaf- ten Kindern spricht, konkretisiert dies Art. 7 und 8 FamZV als Wohn- sitz im Ausland. Eine Wohnsitzdefinition enthält das FamZG bzw. die FamZV nicht, jedoch das ATSG, welches durch den Verweis in Art. 1 FamZG lückenfüllend zur Anwendung gelangt. Gemäss Art. 13 Abs. 1 ATSG bestimmt sich der Wohnsitz einer Person nach den Art. 23 - 26 des Zivilgesetzbuches (ZGB).
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Weil Art. 13 Abs. 1 ATSG ausdrücklich auf die zivilrechtliche Regelung verweist, hat die Auslegung des Wohnsitzbegriffs nach zivilrechtlichen Grundsätzen (und nicht unter Berücksichtigung von sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten) zu erfolgen (UELI KIESER, Kommentar zum ATSG, 2. Aufl. 2009, N. 8 zu Art. 13 ATSG). Damit ist die zu Art. 23 bis Art. 26 ZGB entwickelte Rechtsprechung massgebend für die Bestimmung des im Sozialversicherungsrecht massgebenden Wohnsitzes. Für die Begründung eines Wohnsitzes müssen somit zwei Merkmale erfüllt sein: ein objektives äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die Absicht dauernden Verbleibens, wobei dieses letztgenannte Element aufgrund von erkennbaren Umständen objektiv bestimmt werden muss (KIESER, a.a.O., N. 8 zu Art. 13 ATSG mit Hinweisen). 2.3.2. Der Aufenthalt an einem Ort zum Zweck des Besuchs einer Lehranstalt begründet keinen Wohnsitz (Art. 26 ZGB). Diese Bestimmung schliesst die Wohnsitznahme am Studienort zwar nicht aus, begründet aber eine widerlegbare Vermutung, der Lebensmittelpunkt der betreffenden Person sei nicht dorthin verlegt worden. So wird hinsichtlich des Aufenthaltsortes zu Studienzwecken angenommen, dass Studenten, die regelmässig an den Wochenenden und in den Semesterferien zu ihren Eltern zurückkehren, den Wohnsitz der Eltern, bei denen sie früher gewohnt haben, beibehalten. Demgegen- über wird eine Wohnsitzverlegung an den Studienort bejaht, wenn zu diesem eine enge Beziehung besteht und Beziehungen zum bisherigen Wohnsitz stark gelockert sind; das kann sich insbesondere darin zeigen, dass der Student nur noch selten, namentlich auch nicht mehr in den Semesterferien, zu seinen Eltern zurückkehrt (Urteil des Bundesgerichts 2P.222/2006 vom 21. Februar 2007 E. 4.1. mit Hinweisen). 2.4. 2.4.1. Nach dem Gesagten besteht im Falle von J. und S., welche beide von September 2007 bis Mai 2011 ein Studium in den USA absolvierten, die tatsächliche Vermutung, dass sie während ihrer Ausbildungszeit keinen Wohnsitz in den USA begründet haben. Wie der
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Beschwerdeführer ausführt, verbrachten J. und S. ihre Semesterferien, welche jeweils von Mai bis September dauerten, immer in der Schweiz. Auch in der übrigen Zeit reisten sie mehrmals pro Jahr in die Schweiz, da beide in der gleichen Sportart im Schweizer Nationalteam spielen und entsprechend für Trainings und Wettkämpfe anreisen mussten. Allein die Tatsache, dass Sportler in einem Nationalteam spielen, lässt allerdings keine Schlüsse auf den Wohnsitz zu, kommt es doch dabei allein auf die Staatsangehörigkeit an und werden die einzelnen Mitglieder des Teams nur sporadisch zusammengezogen. Dass J. und S. aber in den Semesterferien zu ihren Eltern in die Schweiz zurückkehrten und es deren Absicht war bzw. ist, die weitere Ausbildung nach Mai 2011 in der Schweiz zu absolvieren, lässt auf eine enge und andauernde Bindung an die Schweiz schliessen. Es ist unter diesen Umständen davon auszugehen, dass sich die beiden insbesondere wegen der Möglichkeit, während vier Jahren in der amerikanischen College-Meisterschaft zu spielen, von 2007 bis 2011 in den USA aufhielten. Um dort zu spielen, bedarf es der Zugehörigkeit zu einer amerikanischen Universität, weshalb J. und S. eine entsprechende Ausbildung aufnahmen. Nach den vier Jahren, d.h. nach Ablauf der Spielberechtigung in den USA, reisten beide gemäss den Ausführungen des Beschwerdeführers in die Schweiz zurück, obwohl zumindest für J. der Studiengang noch bis Mai 2012 angedauert hätte. Zudem bewarben sie sich für das Wintersemester 2011 für ein Studium an einer Schweizer Hochschule bzw. Universität. In Würdigung der konkreten Tatsachen im Einzelfall ist davon auszugehen, dass die Absicht von J. und S. nicht darin bestand, in den USA ihren neuen Lebensmittelpunkt zu begründen dort engere Bindungen einzugehen. Vielmehr wurde der Auslandaufenthalt stets als befristet angesehen, zum Zweck der Ausbildung, und vor allem, um Sport und Ausbildung optimal zu kombinieren und sportlich zu profitieren. Ihre enge Beziehung zur Schweiz wurde während den vier Jahren nie wesentlich gelockert bzw. gar aufgelöst. 2.4.2. Gemäss den vorstehenden Erwägungen erweist sich die Weisung des BSV, wonach generell ab dem zweiten Ausbildungsjahr im
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Ausland von einer Wohnsitznahme im Ausland auszugehen ist, als zu starr bzw. insbesondere unter Miteinbezug von Art. 26 ZGB als nicht sachgerecht. Die Weisung wurde vom BSV denn auch vorrangig aus Praktikabilitätsgründen erlassen. So wurde seitens des BSV auf eine Mail-Anfrage der Beschwerdegegnerin ausgeführt: "Die Lösung wurde v.a. auch als Praktikabilitätsgründen so gewählt, weil nicht bei jedem Kind, dass länger im Ausland weilt, abgeklärt werden kann, ob es nun aufgrund der objektiv erkennbaren Umstände den Wohnsitz noch in der Schweiz bereits im Ausland hat." In seiner Antwort führt das BSV zwar auch Art. 26 ZGB an, geht jedoch nicht auf den Inhalt dieser Bestimmung ein. Zwar steht es den Einzelgesetzen frei zu erklären, ob der Wohnsitz überhaupt massgebend ist andere Anknüpfungen zu wählen (etwa den Wohnort) strengere Voraussetzungen festzulegen (etwa den tatsächlichen Aufenthalt; UELI KIESER, a.a.O., N. 12 zu Art. 13 ATSG). Tun sie das wie im Falle des Familienzulagengesetzes aber nicht, so haben sie sich an Art. 13 ATSG und den dazugehörigen Verweis zu halten. Für Abweichungen rein aus Praktikabilitätserwägungen bleibt dabei kein Raum.