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22 Art. 352, 363 Abs. 1 StPO; Art. 46 Abs. 3 StGB
- Das zur Beurteilung des neuen Verbrechens Vergehens zustän- dige Gericht entscheidet gemäss Art. 46 Abs. 3 StGB auch über den
Widerruf aufgrund neuer Delinquenz. Das Verfahren bei selbständi-
gen nachträglichen Entscheiden gemäss Art. 363 ff. StPO kommt
nicht zur Anwendung (E. 2.2. und 2.3).
- Eine allfällige Widerrufsstrafe ist für die Strafobergrenze von sechs Monaten gemäss Art. 352 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 StPO miteinzuberech-
nen. Steht der Widerruf einer aufgeschobenen Strafe von mehr als
sechs Monaten zur Diskussion, begeht die Staatsanwaltschaft eine
Kompetenzanmassung, wenn sie einen Strafbefehl erlässt (E. 2.6).
- Die fehlende sachliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft ist als schwerer Verfahrensfehler zu betrachten, welcher Nichtigkeit des
Strafbefehls zur Folge hat (E. 2.7).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 6. Dezember 2011 i.S. Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg gegen Gerichtspräsidium Laufenburg (SBK.2011.305).
Sachverhalt
1. Das Gerichtspräsidium Laufenburg sprach X. mit Urteil vom 21. September 2010 schuldig der Erpressung und verhängte eine Freiheitsstrafe von acht Monaten sowie eine Busse von Fr. 500.00. Für die ausgefällte Freiheitsstrafe gewährte es ihr den bedingten Vollzug unter Ansetzung einer Probezeit von fünf Jahren. Dieses Urteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft. 2. Die Verurteilte lenkte am 12. April 2011 in Zeiningen (Bezirk Rheinfelden) ein Motorfahrzeug in fahrunfähigem Zustand, wobei eine qualifizierte Akoholkonzentration festgestellt wurde. Die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg verurteilte sie deswegen mit Strafbefehl vom 19. Juli 2011 zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen Fr. 30.00, gewährte hiefür den bedingten Vollzug bei einer Probe-
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zeit von fünf Jahren und büsste die Verurteilte zusätzlich mit Fr. 800.00. Dieser Strafbefehl erwuchs unangefochten in Rechtskraft. 3. Die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg stellte am 19. September 2011 beim Gerichtspräsidium Rheinfelden den Antrag, es sei der mit Urteil des Gerichtspräsidiums vom 21. September 2010 gewährte bedingte Strafvollzug für eine Freiheitsstrafe von acht Monaten nicht zu widerrufen. Stattdessen sei die Verurteilte gemäss Art. 46 Abs. 2 StGB zu verwarnen und die Probezeit um 2.5 Jahre zu verlängern. 4. Die Präsidentin des Bezirksgerichts Rheinfelden überwies die Angelegenheit mit Verfügung vom 14. November 2011 zuständigkeitshalber ans Gerichtspräsidium Laufenburg. 5. Der Präsident des Bezirksgerichts Laufenburg trat am 18. November 2011 auf den Antrag der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg vom 19. September 2011 nicht ein und erklärte den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg vom 19. Juli 2011 für nichtig. 6. Gegen diese ihr am 21. November 2011 zugestellte Verfügung des Präsidenten des Bezirksgerichts Laufenburg vom 18. November 2011 erhob die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg mit Postaufgabe vom 21. November 2011 Beschwerde. Sie beantragte, es sei die Verfügung des Gerichtspräsidiums Laufenburg vom 18. November 2011 vollumfänglich aufzuheben, und das Gerichtspräsidium Rheinfelden sei anzuweisen, auf ihren Antrag vom 19. September 2011 einzutreten.
Aus den Erwägungen
2.2. Die Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005 äussert sich wie folgt zum Verfahren bei selb-
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ständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts (Art. 270 des Vorentwurfs zur eidgenössischen Strafprozessordnung): Das Strafrecht sieht vor allem im Zusammenhang mit dem Strafvollzug vor, dass das Gericht sein Urteil nachträglich ergänzen muss abändern kann. Solche nachträglichen richterlichen Entscheide (gelegentlich auch nachträgliche Entscheidungen Widerrufsverfahren genannt) sind nach heutiger Rechtslage Entscheide über: Die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe (Art. 36 nStGB), die Umwandlung einer gemeinnützigen Arbeit in eine Geldoder Freiheitsstrafe (Art. 39 nStGB), die Verlängerung einer stationären therapeutischen Massnahme (Art. 59 Abs. 4 nStGB), die Verlängerung einer Suchtbehandlung (Art. 60 Abs. 4 nStGB), die Verlängerung der Probezeit bei bedingter Entlassung (Art. 62 Abs. 4 nStGB), die Anordnung einer anderen Massnahme an Stelle des Strafvollzugs bei Aufhebung der Massnahme (Art. 62c Abs. 3 nStGB), die Anordnung der Verwahrung (Art. 62c Abs. 4 nStGB), die Verlängerung der ambulanten Behandlung (Art. 63 nStGB), die Anrechnung eines mit einer ambulanten Behandlung verbundenen Freiheitsentzugs auf die Strafe (Art. 63b Abs. 4 nStGB), die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme an Stelle des Strafvollzugs (Art. 63b Abs. 5 nStGB), die Verlängerung der Probezeit bei Entlassung aus der Verwahrung (Art. 64a Abs. 2 nStGB), die Anordnung der Rückversetzung in die Verwahrung (Art. 64a Abs. 3 nStGB), die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme i.S. von Art. 65 nStGB, die Anordnung von Massnahmen i.S. von Art. 95 Abs. 4 und 5 nStGB. Die vorstehend aufgeführten Entscheide können nicht im Rahmen eines Urteils ergehen, da mit Ausnahme des Widerrufs ausgesetzter bedingter Sanktionen sowie der Entlassungen nach Begehung neuer Straftaten kein neues Sachurteil ansteht. Das bedeutet, dass solche Entscheide in einem gesonderten, selbständigen Verfahren erlassen werden müssen. Dieser nachträgliche Entscheid wird vom Gericht gefällt, das das ursprüngliche Urteil ausgesprochen hat (Abs. 1 [Art. 363 Abs. 1 in der Fassung der StPO vom 5. Oktober 2007]). Soweit eine der genannten Ausnahmen zutrifft, sind hingegen die Bestimmungen dieses Kapitels nicht anwendbar; die Staatsan-
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waltschaft wird vielmehr zusammen mit der Anklage die entsprechenden Anträge stellen (Art. 327 Abs. 1 lit. g [Art. 326 Abs. 1 lit. g in der Fassung der StPO vom 5. Oktober 2007]), über die anschliessend im Hauptverfahren und im Rahmen der Urteilsfällung (Art. 79 Abs. 4 lit. d [Art. 81 Abs. 4 lit. d in der Fassung der StPO vom 5. Oktober 2007]) entschieden wird (vgl. Botschaft des Bundesrates zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 [Botschaft], S. 1297 f.; vgl. auch Begleitbericht zum Vorentwurf für eine Schweizerische Strafprozessordnung vom Juni 2001, EJPD/Bundesamt für Justiz, Bern, Juni 2001 [BeB], S. 236). 2.3. Vorliegend gibt ein in einem neuen Hauptverfahren zu beurteilendes Vergehen Anlass zur Überprüfung der bedingten Sanktion und es liegt damit eine der in der Botschaft erwähnten Ausnahmen vor. Der Widerruf aufgrund neuer Delinquenz ist wohl der häufigere Fall als der Widerruf wegen Entziehung der Bewährungshilfe Missachtung von Weisungen gemäss Art. 46 Abs. 4 i.V.m. Art. 95 Abs. 3- 5 StGB, weshalb es erstaunt, dass die Verfahren bei selbständigen nachträglichen richterlichen Entscheiden ebenfalls Widerrufsverfahren genannt werden. Da vorliegend ein neues Sachurteil ansteht, kann die Frage nach dem Widerruf im Rahmen des neuen Strafverfahrens gefällt werden und das Verfahren bei selbständigen nachträglichen Entscheiden gemäss Art. 363 ff. StPO kommt nicht zur Anwendung (vgl. dazu auch NIKLAUS SCHMID, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2009 [zit. Handbuch], § 86 N. 1390 mit den Verweisen auf die Botschaft und den Vorentwurf in Fn. 100 f., S. 620 N. 1358 Fn. 31 sowie S. 619 N. 1356 mit Fn. 24; MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, Art. 363 N. 2). Wie die Staatsanwaltschaft zutreffend ausführt, ist bei einem unselbständigen Nachverfahren die Zuständigkeitsbestimmung von Art. 46 Abs. 3 StGB massgebend. Danach entscheidet das zur Beurteilung des neuen Verbrechens Vergehens zuständige Gericht auch über den Widerruf.
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2.4. Eine getrennte Beurteilung von neuer Tat bzw. Strafe und Widerruf ist ausgeschlossen. Eine Entscheidung betreffend Widerruf im Rahmen eines Sachurteils wegen einer neuen Straftat teilt dessen Schicksal, insbesondere was die Form die dagegen möglichen Rechtsmittel betrifft (SCHMID, Handbuch, a.a.O., § 42 N. 593). Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn gemäss Art. 46 Abs. 1 StGB die bedingte Strafe widerrufen und deren Art geändert wird, um mit der neuen Strafe eine Gesamtstrafe zu bilden. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Frage der Gewährung des bedingten Strafvollzugs für die neue Strafe mit jener des Widerrufs einer Vorstrafe im Zusammenhang steht (vgl. BGE 134 IV 140 E. 4.5). 2.5. Die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg entschied vorliegend am 19. Juli 2011 mit Strafbefehl über die neue Tat. Wegen Führens eines Motorfahrzeugs in fahrunfähigem Zustand wurde (...) zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen Fr. 30.00, bedingt, sowie einer Busse von Fr. 800.00, verurteilt. Dieser Strafbefehl erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Zwei Monate später, am 19. September 2011, ging bei der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg die Rückfallmeldung der Koordinationsstelle VOSTRA ein. Gleichentags beantragte die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg beim Gerichtspräsidium Rheinfelden den Verzicht auf den Widerruf und eine Verwarnung und Verlängerung der Probezeit. 2.6. Zum Widerruf sachlich zuständig ist die Staatsanwaltschaft nur, wenn die gemäss Art. 352 StPO im Strafbefehlsverfahren möglichen Maximalstrafen nicht überschritten werden. Dies unabhängig davon, ob ein separater Widerruf allenfalls eine Gesamtstrafe nach Art. 46 Abs. 1 StGB auszufällen ist. Es sind also beim Widerruf von bedingten Strafen für die Errechnung der Strafobergrenzen die zu verhängende und die zu widerrufende Sanktion zusammenzuzählen. Dies gilt indessen nicht für eine zusätzliche Busse, welche immer möglich ist (Art. 352 Abs. 3 StPO). Die Vorinstanz sieht im Verzicht der Staatsanwaltschaft auf einen Widerrufsantrag eine unzulässige Kompetenzanmassung der
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Staatsanwaltschaft, weil der Gesetzgeber den Entscheid über einen allfälligen Widerruf Ersatzmassnahmen gemäss Art. 46 Abs. 2 StGB dem zuständigen Gericht überlasse, sofern die vorgesehene Sanktion für das neue Delikt sowie die Widerrufsstrafe die Strafbefehlskompetenz übersteige. Bei der Antragstellung sei die Einrechnung einer allfälligen Widerrufsstrafe zu berücksichtigen. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Zwar ist der Staatsanwalt grundsätzlich ebenso gut wie ein Richter bzw. Gericht in der Lage zu entscheiden, ob der bedingte Strafvollzug zu widerrufen ist allenfalls Ersatzmassnahmen anzuordnen sind, da er sich vor Ausfällung seines Strafbefehls auch mit der Persönlichkeit des Beschuldigten zu befassen hat. Die Übertragung der Widerrufskompetenz gemäss Art. 46 Abs. 3 StGB erfolgte aus der Überlegung, dass der spätere Richter, der sich vor Ausfällung seines Urteils ohnehin mit der Persönlichkeit des Angeklagten zu befassen hat, besser als der frühere Richter in der Lage ist, darüber zu entscheiden, ob der bedingte Strafvollzug zu widerrufen ob die Strafe allenfalls durch andere, in Art. 46 Abs. 2 StGB vorgesehene Massnahmen zu ersetzen sei (BGE 101 Ia 281 E. 3c S. 285 zu Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 aStGB). Eine erneute einheitliche Beurteilung des Täters und der ihn treffenden Rechtsfolgen wäre somit auch mit der Beurteilung durch den Staatsanwalt ermöglicht. Gegen eine solche Kompetenzattraktion der Staatsanwaltschaft spricht aber nebst dem Wortlaut von Art. 352 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 StPO auch der Umstand, dass die Fehlerquote bei "Strafbefehlsurteilen" besonders hoch ist und ein eigentliches Vorverfahren üblicherweise nicht durchgeführt wird (FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, Art. 352 N. 2 ff.; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009 [zit. Praxiskommentar], Vor Art. 352-357 N. 2; BeB S. 248). Vorliegend war für die Staatsanwaltschaft aus dem Strafregisterauszug ersichtlich, dass die neue Tat während der fünfjährigen Probezeit gemäss dem am 28. September 2010 eröffneten Urteil des Gerichtspräsidiums Laufenburg begangen wurde. Im Rahmen der bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden Täterkomponente hatte die Staatsanwaltschaft die Vorstrafe zu berücksichtigen und es hätte ihr dabei auffallen müssen, dass die
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neue Tat während einer laufenden Probezeit begangen wurde. Das Strafbefehlsverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass die Staatsanwaltschaft bei geringfügigen Straftaten das Strafverfahren zumeist ohne Beweisverfahren selbst mit einem urteilsähnlichen Erkenntnis abschliessen kann. Nur in diesem Bereich geniesst der Staatsanwalt richterliche Unabhängigkeit (vgl. SCHMID, Handbuch, a.a.O., § 83 N. 1352) und erhält der Strafbefehl als suspensiv bedingtes Urteil ohne Einsprache dagegen die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils (Art. 354 Abs. 3 StPO). Wenn eine Strafe von mehr als sechs Monaten im Raum steht, teilt der Gesetzgeber dem Staatsanwalt lediglich die Rolle des Antragstellers zu und die Staatsanwaltschaft muss zusammen mit der Anklage die entsprechenden Anträge betreffend (unselbständige) nachträgliche richterliche Entscheidungen stellen (vgl. BeB S. 236 und Botschaft S. 1298; Art. 326 Abs. 1 lit. g und Art. 81 Abs. 4 lit. d StPO). Demgemäss ist die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts mit der Vorinstanz der Auffassung, dass der Gesetzgeber einen formaljuristischen Ansatz verfolgt (vgl. anderslautend die Auffassung von Schmid: "Als überflüssig, ja möglicherweise irreführend erscheint das Einschiebsel 'allfällig' in Art. 352 Abs. 1 StPO; es ändert nichts daran, dass eine Addition nur erfolgt, wenn tatsächlich ein Widerruf erfolgt" [Handbuch, a.a.O., § 83 N. 1355, Fn. 23]) und eine nur allfällige Widerrufsstrafe für die Strafobergrenze mit einberechnet. Vorliegend steht der Widerruf einer aufgeschobenen Strafe von mehr als sechs Monaten zur Diskussion, weshalb die Staatsanwaltschaft durch Erlass des Strafbefehls eine Kompetenzanmassung beging. 2.7. Wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, war vorliegend das Gerichtspräsidium Rheinfelden nicht nur zur Beurteilung des Widerrufs (so zutreffend die Staatsanwaltschaft), sondern auch für die Beurteilung der neuen Tat zuständig. Insofern erfolgte die Überweisung des Verfahrens an das Gerichtspräsidium Laufenburg zu Unrecht (vgl. Verfügung des Gerichtspräsidiums Rheinfelden vom 14. November 2011).
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Die fehlende sachliche Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft ist als schwerer Verfahrensfehler zu betrachten, weshalb die Vorinstanz den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg vom 19. Juli 2011 zu Recht als nichtig erklärte (BGE 129 I 364; AGVE 2005 Nr. 14 E. 4 S. 73).