2009 Strafprozessrecht 57
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11 Art. 9 BV; Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK; Art. 14 Abs. 7 Interna- tionaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UNO-Pakt II); Art. 37 Abs. 1 lit. b OHG. Doppelbestrafungsverbot ("ne bis in idem") Der Grundsatz "ne bis in idem" verbietet in Folge eines Strassenver- kehrsunfalles eine Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung nicht, wenn in derselben Strafuntersuchung gestützt auf denselben Sachverhalt bereits ein rechtskräftiger Strafbefehl wegen Verletzung des Strassenver- kehrsgesetzes ergangen ist, sofern die Beschuldigte nicht auf den Ab- schluss des Verfahrens mit dem rechtskräftigen Strafbefehl vertrauen durfte.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 21. Juli 2009, i.S. H.F.
Sachverhalt
Infolge eines Strassenverkehrsunfalles wurde das gegen die Be-
schuldigte eröffnete Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverlet-
zung mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 18. Februar 2009
eingestellt und dieselbe mit Strafbefehl des Bezirksamts Zofingen
vom 24. Februar 2009 wegen Verletzung des Strassenverkehrsgeset-
zes mit einer Busse von Fr. 200.00 bestraft. Während der Strafbefehl
unangefochten in Rechtskraft erwuchs, wurde die Einstellungsverfü-
gung in Gutheissung einer ersten Beschwerde des Beschwerdefüh-
rers von der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts
aufgehoben und die Staatsanwaltschaft angewiesen, Anklage wegen
fahrlässiger Körperverletzung gemäss Art. 125 Abs. 1 StGB zu erhe-
ben. Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin mit Verfügung vom
9. Juni 2009 das Strafverfahren erneut ein mit der Begründung, eine
Anklage verletze den Grundsatz "ne bis in idem", da gestützt auf den
zu beurteilenden Sachverhalt bereits ein Strafbefehl erlassen worden
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sei. Dagegen erhob der Beschwerdeführer erneut Beschwerde, wel-
che Gegenstand des vorliegenden Entscheides bildet.
Aus den Erwägungen
2.
Die Staatsanwaltschaft stützt ihre neuerliche Einstellungsverfü-
gung auf das Argument, eine Verurteilung der Beschuldigten wegen
fahrlässiger Körperverletzung würde den Grundsatz "ne bis in idem"
verletzen.
Der Grundsatz "ne bis in idem" bildet nach der bundesgerichtli-
chen Rechtsprechung Teil des Bundesstrafrechts und lässt sich direkt
aus der Bundesverfassung ableiten (Urteil des Bundesgerichts vom
10. September 2003 6P.51/2003 mit weiteren Hinweisen). Er ergibt
sich im Übrigen aus Art. 14 Abs. 7 des UNO-Paktes II über bürgerli-
che und politische Rechte. Explizit wird er in Art. 4 des 7. Zusatzpro-
tokolls zur EMRK festgehalten. Abs. 1 dieser Bestimmung lautet:
"Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach
dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig
verurteilt freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren
desselben Staates erneut verfolgt bestraft werden."
Der Grundsatz "ne bis in idem" verbietet also nicht nur die dop-
pelte Bestrafung in derselben Sache, sondern bereits die doppelte
Strafverfolgung (dazu Jürg-Beat Ackermann / Stefan Ebensperger,
Der EMRK-Grundsatz "ne bis in idem" - Identität der Tat oder
Identität der Strafnorm, in: AJP 1999, 823 ff. 833 und FN 78 und 79
mit zahlreichen Hinweisen und Jürg-Beat Ackermann, Art. 6 EMRK
und Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls; insbesondere die Garantie ne bis
in idem, in: Daniel Thürer, EMRK: Neuere Entwicklungen, Zürich/
Basel/Genf 2005, S. 31 ff., 32 sowie BGE 122 I 257, E. 3). Der Be-
schuldigte soll nicht zwei Mal in derselben Sache den Zwängen der
Strafverfolgung ausgesetzt sein.
3.
(...)
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4.
4.1.
Voraussetzung für die Sperrwirkung des Grundsatzes "ne bis in
idem" ist die Identität der Person und der Tat (BGE 122 I 257, E. 3).
Im vorliegenden Fall stützten sich die Vorwürfe gegen die Beschul-
digte bezüglich den SVG-Delikten und dem Tatbestand der fahrlässi-
gen Körperverletzung auf denselben Lebenssachverhalt (Abbiegen
ohne Betätigung des Blinkers, welches zur Kollision mit dem Fahr-
zeug des Beschwerdeführers und schliesslich zu seiner Verletzung
führte). Daraus folgert die Staatsanwaltschaft offenbar eine Tatidenti-
tät hinsichtlich diesen Delikten.
4.2.
Wie das Merkmal der Tatidentität zu verstehen ist, wird in Leh-
re und Rechtsprechung allerdings kontrovers beurteilt. Im Wesentli-
chen geht es dabei um die Frage, ob Tatidentität die Identität des
Sachverhalts die Identität der anwendbaren Rechtsnormen be-
deutet (Vgl. die "opinion dissidente" des Richters Repik im Ent-
scheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)
vom 30. Juli 1998 i.S. Oliveira gegen die Schweiz). In der Diskus-
sion um die Praxis des EGMR haben sich dazu die Stichworte "einfa-
che" und "doppelte Identität" etabliert, wobei vereinfachend nach der
These der "einfachen Identität" gleiche Lebenssachverhalte für eine
Tatidentität ausreichen, während nach der These der "doppelten Iden-
tität" zusätzlich auch die angewendeten Rechtsnormen identisch sein
müssen (Vgl. Ackermann/Ebensperger a.a.O.; Ackermann a.a.O; Ent-
scheid des Bundesgerichts vom 10. September 2003, 6P.51/2003,
E. 10.1.).
4.3.
Sowohl das Bundesgericht wie auch der EGMR haben sich in
jüngeren Entscheiden für das Konzept der "doppelten Identität"
ausgesprochen und zwar der EGMR in einem Verfahren gegen die
Schweiz, welchem ein dem vorliegenden sehr ähnlicher Sachverhalt
zugrunde lag.
(...)
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4.4.
Grosse Ähnlichkeiten zwischen dem vorliegenden Fall und dem
Oliveira-Fall des EGMR sind unverkennbar. (...)
Auch im vorliegenden Fall wäre es sicher wünschenswert ge-
wesen, wenn das Bezirksamt Zofingen mit dem Ausfällen des Straf-
befehls wegen der SVG-Delikte bis zur Rechtskraft der Einstellungs-
verfügung betreffend fahrlässige Körperverletzung zugewartet hätte,
so dass im nun eingetretenen Falle der Aufhebung der Einstellungs-
verfügung eine Beurteilung der SVG-Delikte und des Vorwurfs der
fahrlässigen Körperverletzung durch dieselbe Instanz hätte stattfin-
den können. Fraglich ist, ob durch dieses nicht zweckgemässe Vorge-
hen die Ahndung der möglichen fahrlässigen Körperverletzung un-
möglich geworden ist, weil sie gegen das Verbot des "ne bis in idem"
verstossen würde.
5.
Das Bundesgericht hat in BGE 122 I 257 ebenfalls festgehalten,
dass das Verbot des "ne bis in idem" für echt konkurrierende Tatbe-
stände nicht gelte und sich damit wie der EGMR im Fall Oliveira für
das Konzept der "doppelten Identität" ausgesprochen (E. 7 dieses
Entscheides; bestätigt im Urteil vom 10. September 2003
6P.51/2003, E.10.6.). Das Bundesgericht hat in diesem Entscheid
weiter ausgeführt, der Grundsatz "ne bis in idem" wäre verletzt,
wenn der Beschuldigte strenger bestraft würde, weil die echt konkur-
rierenden Delikte von verschiedenen Behörden statt von einer einzi-
gen Behörde beurteilt würden. Dementsprechend müsste das Gericht
auch im vorliegenden Fall, wenn es zu einer Verurteilung wegen
fahrlässiger Körperverletzung käme, die Strafe in analoger Anwen-
dung von Art. 49 Abs. 2 StGB so bemessen, dass die Beschuldigte
nicht schwerer bestraft würde, als wenn die strafbaren Handlungen
gleichzeitig beurteilt worden wären.
6.
6.1.
Eine Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" auf den vor-
liegenden Fall würde aber nicht nur der jüngeren Rechtsprechung des
EGMR und des Bundesgerichts, sondern auch dem Sinn und Zweck
dieses Grundsatzes widersprechen. Der Grundsatz "ne bis in idem"
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will verhindern, dass eine Person für die selbe Straftat mehrmals
(und damit insgesamt übermässig) bestraft mehrmals den (damit
unverhältnismässigen) Belastungen der Strafverfolgung ausgesetzt
ist. Zudem könnte man auch von einem Schutz des Vertrauens des
Täters darin sprechen, dass die Tat mit der ein Mal ausgesprochenen
Strafe gesühnt sein und der Staat seinen Strafanspruch damit ver-
wirkt haben wird.
6.2.
Im vorliegenden Fall sind bis zur Überweisung der Akten vom
Bezirksamt Zofingen an die Staatsanwaltschaft mit dem Antrag auf
Einstellung des Verfahrens betreffend fahrlässige Körperverletzung
nicht zwei, sondern ein Untersuchungsverfahren geführt worden.
Erst nach Abschluss der Untersuchung kam es zu einer Zweiteilung
des Verfahrens insofern, als das Bezirksamt Zofingen den Strafbefehl
wegen der SVG-Delikte und die Staatsanwaltschaft eine Einstel-
lungsverfügung betreffend fahrlässige Körperverletzung erliessen,
wobei letztere auf Beschwerde hin aufgehoben und die Staatsanwalt-
schaft angewiesen wurde, Anklage zu erheben. Die Ausstellung des
Strafbefehls war für die Beschuldigte mit keinen weiteren Untersu-
chungshandlungen sonstigen Einschränkungen ihrer persönli-
chen Freiheit verbunden, welche über die blosse Kenntnisnahme des
Strafbefehls hinausgegangen wären. Damit kann nicht davon gespro-
chen werden, dass die Beschuldigte durch die Gabelung des Ver-
fahrens einer wesentlich erhöhten Belastung ausgesetzt worden wäre,
welche als doppelte Strafverfolgung vom Grundsatz "ne bis in idem"
erfasst würde. Wie der Beschwerdeführer geltend macht, ist die Si-
tuation der Beschuldigten mit jener in einem Verfahren vergleichbar,
in welchem der Beschuldigte die Verurteilung in einem Punkt akzep-
tiert, so dass sie in diesem Punkt nach § 221 StPO rechtskräftig wird,
in einem anderen Punkt aber mit einem Rechtsmittel anficht (nur,
dass in einem solchen Falle der Beschuldigte selber die Zweiteilung
herbeiführt, was im vorliegenden Verfahren nicht der Fall ist).
6.3.
Im Übrigen konnte die Beschuldigte im vorliegenden Verfahren
auch nicht darauf vertrauen, dass ihr Verhalten mit dem Strafbefehl
des Bezirksamts Zofingen strafrechtlich vollständig beurteilt worden
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wäre. Die Einstellungsverfügung vom 18. Februar 2009 und der
Strafbefehl vom 24. Februar 2009 wurden ihr mit derselben Gerichts-
urkunde zugestellt (...). Es war damit für die Beschuldigte klar er-
kennbar, dass mit dem Strafbefehl das Verfahren noch nicht abge-
schlossen war, sondern betreffend der fahrlässigen Körperverletzung
eine Einstellungsverfügung ergangen war, die mit einem Rechtsmit-
tel angefochten werden konnte. [...]Die Beschuldigte wusste damit,
dass eine Strafverfolgung wegen fahrlässiger Körperverletzung ge-
gen sie geführt wurde und dass diese Strafverfolgung mit dem sich
nur auf SVG-Delikte beziehenden Strafbefehl nicht abgeschlossen
war.
6.4.
(...)
6.5.
Falls die Beschuldigte im vorliegenden Verfahren vom Gericht
der fahrlässigen Körperverletzung für schuldig befunden wird, kann
das Gericht die bereits erfolgte Verurteilung wegen den SVG-Delik-
ten berücksichtigen und die Strafe so bemessen, dass sie nicht
schwerer ausfällt, als wenn alle Delikte zusammen beurteilt worden
wären.
6.6.
Die Beschuldigte wird damit im vorliegenden Fall durch die
(wenn auch nicht zweckmässige) Verfahrensführung nicht wesentlich
mehr belastet, als wenn sämtliche Tatvorwürfe von derselben Instanz
beurteilt worden wären. Ausserdem könnte eine allfällige zusätzliche
Strafe so ausgefällt werden, dass die Beschuldigte durch den Verfah-
rensgang keine Schlechterstellung erfährt. Damit würde die Anwen-
dung des Grundsatzes "ne bis in idem" auf einen solchen Fall keinem
legitimen Schutzbedürfnis der Beschuldigten dienen, weshalb er dem
staatlichen Strafanspruch nicht entgegenstehen kann.
7.
Wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht, wäre eine
Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" auf den vorliegenden
Fall auch mit seinen Rechten als Geschädigter aus dem Opferhilfege-
setz schwer vereinbar. Gemäss Art. 37 Abs. 1 lit. b OHG kann das
Opfer einer Straftat den Entscheid eines Gerichts verlangen, wenn
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das Verfahren nicht eingeleitet eingestellt wird. Von diesem
Recht hat der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall Gebrauch ge-
macht, indem er die Einstellungsverfügung vom 18. Februar 2009
mit Beschwerde angefochten hat, wobei die Beschwerde mit Ent-
scheid der Beschwerdekammer in Strafsachen vom 27. Mai 2009
gutgeheissen wurde. Der Beschwerdeführer konnte nicht davon aus-
gehen, dass er zur Vermeidung einer Einstellung zusätzlich gegen
den sich nur auf die SVG-Delikte beziehenden Strafbefehl vom 24.
Februar 2009 hätte Einsprache erheben müssen, wie in der ange-
fochtenen Einstellungsverfügung geltend gemacht wird. Mit dieser
Einstellungsverfügung werden damit tatsächlich seine Rechte aus
dem Opferhilfegesetz ausgehebelt. Im Übrigen ist es ohnehin zwei-
felhaft, ob er zu einer Einsprache gegen den Strafbefehl überhaupt
legitimiert gewesen wäre. Erstens ist seine Opferstellung in Bezug
auf die abstrakten Gefährdungsdelikte des SVG nicht ohne weiteres
gegeben, zweitens bezieht sich Art. 37 Abs. 1 lit. b OHG nur auf
Verfahren, die nicht eingeleitet eingestellt werden, während der
Strafbefehl vom 24. Februar 2009 einzig eine Verurteilung enthält,
und drittens sieht § 197 Abs. 1 StPO eine Einsprachelegitimation des
Geschädigten nur vor, soweit privatrechtliche Ansprüche geltend
gemacht werden, was der Beschwerdeführer im vorliegenden Ver-
fahren nicht getan hat. Auch das Opferhilfegesetz steht der Anwen-
dung des Grundsatzes "ne bis in idem" auf den vorliegenden Fall
damit klar entgegen.