2006 Strafprozessrecht 61
[...]
15 § 56 Abs. 1 Ziff. 3, § 141 Abs. 1 , § 165 Abs. 1 StPO · Legitimation zur selbstständigen Geltendmachung von Zivilansprüchen der rückgriffsberechtigten Versicherung im Adhäsionsverfahren. Im Kanton Aargau besteht die konstante Praxis, die Aargauische Gebäude-
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versicherungsanstalt und auch andere Versicherer als Zivilkläger zuzu- lassen, wenn eine Forderung gemäss Art. 72 Abs. 1 Versicherungsver- tragsgesetz kraft Subrogation auf sie übergegangen ist respektive wenn sie gemäss § 51 Gebäudeversicherungsgesetz rückgriffsberechtigt sind (E. 3). · Das Rückgriffsrecht der kantonalen Brandversicherungsanstalten fällt gemäss ständiger Rechtsprechung unter das Bundesprivatrecht. Ein ent- sprechender Anspruch darf somit im Adhäsionsverfahren als privat- rechtlicher beurteilt werden (E. 4).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 24. August 2006 i.S. Staatsanwaltschaft und Aargauische Gebäudeversicherungsanstalt gegen H.M.G.
Das Bundesgericht hat die gegen den Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde abgewiesen (1P.759/2006).
Aus den Erwägungen
3.
3.1.
3.1.1.
Gemäss § 56 Abs. 1 Ziff. 3 StPO ist der Verletzte Geschä-
digte, wenn er privatrechtliche Ansprüche aus einer strafbaren Hand-
lung geltend macht (Zivilkläger), Partei im Strafverfahren. Als Ge-
schädigter im Sinne von § 56 Abs. 1 Ziff. 3 sowie § 141 Abs. 1 StPO
gilt, wer unmittelbar aus dem gleichen Tatgeschehen, das Gegen-
stand des Verfahrens bildet, einen Schaden ableitet (AGVE 1976
Nr. 37 S. 116 f. [...]).
Der Geschädigte hat im Hinblick auf eine von ihm im gericht-
lichen Adhäsionsprozess einzureichende Zivilklage schon im dem
Adhäsionsprozess vorgelagerten Untersuchungsverfahren gewisse
Beteiligungsund Einwirkungsrechte. Zivilkläger im prozessrechtli-
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chen Sinn ist aber nur die zum Adhäsionsbeklagten in einem Prozess-
rechtsverhältnis stehende Partei des Adhäsionsprozesses. Wenn die
Strafprozessordnung schon im Vorverfahren, wo ein Adhäsionspro-
zess noch gar nicht stattfindet und dementsprechend auch nicht von
einem Zivilkläger gesprochen werden kann, gewisse Rechte an die
Zivilklägereigenschaft anknüpft, so deshalb, weil nur derjenige, der
tatsächlich einen privatrechtlichen Anspruch geltend machen will,
am Vorverfahren soll teilnehmen dürfen. Einwirkungsrechte im Vor-
verfahren soll ausüben dürfen, wer mutmasslich vor dem Strafrichter
privatrechtliche Ansprüche stellen wird (Peter Conrad, Die Adhäsion
im aargauischen Strafprozess, Diss. Baden 1972, S. 101).
3.1.2.
Die aktuelle Lehre und Rechtsprechung gehen davon aus, dass
eine mittelbare Beeinträchtigung, die erst durch das Hinzutreten
weiterer Elemente, z.B. durch eine Schadenersatzpflicht gemäss Ver-
trag Gesetz, eintritt, keine Geschädigten-Eigenschaft begründet.
So ist die Versicherung, bei welcher der Verletzte versichert ist, nicht
in der Lage, strafprozessuale Rechte als Geschädigte auszuüben.
Hingegen kann sie kraft Subrogation (Art. 72 Abs. 1 Versicherungs-
vertragsgesetz [VVG]) die an sie übergegangenen vermögensrechtli-
chen Ansprüche adhäsionsweise im Strafverfahren geltend machen
(Hauser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht,
6. Auflage, Basel/Genf/München 2005, § 38 N 3; Niklaus Schmid,
Strafprozessrecht, 4. Auflage, Zürich 2004, N 505 S. 167; Niklaus
Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Auflage, Bern
2005, S. 252 N 583). Eine analoge Regelung besteht im Gebäudever-
sicherungsgesetz: Gestützt auf § 51 GebVG erhält die Gebäudeversi-
cherungsanstalt für die bezahlten Entschädigungssummen ein Rück-
griffsrecht auf die Fehlbaren.
3.2.
Nach dem oben Ausgeführten sind demnach bezüglich der
Zivilklägerstellung zwei Phasen zu unterscheiden, nämlich zum ei-
nen das Untersuchungsverfahren und zum anderen das Gerichtsver-
fahren. Für die Stellung als Geschädigter im Rahmen des Untersu-
chungsverfahrens ist unerheblich, ob im Ermittlungsoder Untersu-
chungsverfahren ein Schaden beweisbar nachgewiesen ist. Wer
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mutmasslich zivilrechtliche Ansprüche vor dem Strafrichter stellen
wird, soll in der Strafuntersuchung Einwirkungsrechte ausüben dür-
fen. Indessen soll nur dem unmittelbar Verletzten die Möglichkeit ge-
boten werden, dazu beizutragen, dass der Täter für die ihm zugefügte
Unbill der gesetzlichen Strafe zugeführt und das Unrecht so gesühnt
wird, weshalb nur diesem im Untersuchungsverfahren strafprozes-
suale Parteirechte zugestanden werden.
In diesem Sinne ist zwischen dem "unmittelbar" Geschädigten
und dem lediglich zur Erhebung einer Adhäsionsklage befugten "mit-
telbar" Geschädigten zu unterscheiden. Die Befugnis des mittelbar
Geschädigten setzt die Existenz einer tatbestandlich verletzten und
daher unmittelbar geschädigten Person voraus, an deren Stelle der in
ihre Rechte eingetretene bzw. kraft eines besonderen Rechtsverhält-
nisses von einer strafbaren Handlung mitbetroffene "mittelbare" Ge-
schädigte die Adhäsionsklage erheben kann (ZR 1975 [74] Nr. 47,
S. 91). Die aargauische StPO unterscheidet denn auch zwischen
"Verletztem" und "Geschädigtem" (vgl. § 56 Abs. 1 Ziff. 3 StPO).
Verletzter einer Straftat ist der Träger des unmittelbar angegriffenen
Rechtsgutes (was nicht immer einen privatrechtlichen Anspruch
auslösen muss [etwa wenn ein Delikt im Versuchsstadium stecken
bleibt]). Geschädigter ist, wer einen Vermögensschaden erlitten hat.
Conrad (a.a.O., S. 103 f.) folgert aus der separaten Erwähnung des
Geschädigten in der Strafprozessordnung, dass nicht nur derjenige, in
dessen Rechtsgut die strafbare Handlung unmittelbar eingegriffen
hat, zur Adhäsionsklage legitimiert ist, sondern jeder, der mit der
strafbaren Tat einen konnexen Anspruch hat bzw. zu haben be-
hauptet, also zum Beispiel auch der Schadenversicherer, der den
Verletzten befriedigt habe (wobei er auf Art. 72 VVG verweist), oder
der Zessionar. Conrad (a.a.O., S. 105) verweist dabei auch auf einen
veröffentlichten Entscheid des Obergerichts (AGVE 1963, Nr. 51,
S. 183 f.). Darin wird ebenfalls auf die gesetzliche Unterscheidung
von Verletztem und Geschädigtem gemäss § 56 StPO verwiesen. Die
adhäsionsweise Verfolgung von Zivilansprüchen könne nicht nur
dem Träger des durch den angewendeten Straftatbestand geschützten
Rechtsguts allein offen stehen. Als Geschädigter sei jedermann zur
Zivilklage zuzulassen, der gegen den Angeklagten privatrechtliche
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Ansprüche aus einer dem Schuldspruch zugrunde liegenden Hand-
lung zu haben behaupte.
Im vom Verurteilten zitierten nicht in der amtlichen Sammlung
veröffentlichten Bundesgerichtsentscheid (1P.620/2001) ist zwar er-
wähnt, dass mittelbare Beeinträchtigungen nicht ausreichend seien,
um sich als Zivilkläger zu konstituieren, und subrogierte Ansprüche
(vom Adhäsionsverfahren) ebenso ausgeschlossen seien. Indessen
wird weiter auch ausgeführt, ausgenommen seien Fälle, in welchen
dies die kantonale Gesetzgebung ausdrücklich zulasse (E. 2.1). Zwar
besteht im aargauischen Recht keine entsprechende Bestimmung,
indessen ist die Zulassung von Versicherungen als Zivilkläger in Ad-
häsionsprozessen zufolge Rückgriffs im Kanton Aargau als richterli-
ches Recht für die Gerichte ebenfalls bindend (vgl. zur Anerkennung
des Richterrechts als Rechtsquelle: Häfelin/Müller, Grundriss des all-
gemeinen Verwaltungsrechts, 4. Auflage, Zürich 2002, N 208 ff.).
(...)
3.3.
Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass Lehre und Recht-
sprechung auch mittelbar Geschädigte als Zivilkläger zulassen und
im Aargau eine entsprechende Praxis besteht, welche bereits im er-
wähnten AGVE aus dem Jahr 1963 veröffentlicht worden ist. Conrad
erwähnt weitere Entscheide (a.a.O., S. 103, Anm. 8), und schliesslich
sei auf das vom AVA im vorinstanzlichen Verfahren eingereichte Ur-
teil des Obergerichts vom 15. Februar 2001 verwiesen (vgl.
act. 343 ff.).
Die AGVA ist dementsprechend im vorliegenden Verfahren als
Zivilklägerin zuzulassen. Entgegen dem vorinstanzlichen Rubrum ist
aber festzuhalten, dass die Zivilklägereigenschaft der AGVA zu-
kommt, welche gemäss § 1 Abs. 1 GebVG eine juristische Person
des kantonalen öffentlichen Rechts ist.
4.
Gemäss § 165 Abs. 1 StPO ist im Adhäsionsurteil (nur) über
"privatrechtliche" Ansprüche zu entscheiden. Der Adhäsionsprozess
ist ein dem Strafverfahren angeschlossener Zivilprozess (Conrad
a.a.O., S. 37). Zu prüfen ist somit, ob der Anspruch der AGVA auf
dem öffentlichen dem Privatrecht gründet.
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4.1.
Gemäss § 1 Abs. 1 GebVG handelt es sich bei der AGVA um
eine juristische Person des kantonalen öffentlichen Rechtes. Das
Rechtsverhältnis zwischen öffentlichrechtlicher Anstalt und deren
Benützern (Innenverhältnis) kann grundsätzlich dem privaten oder
dem öffentlichen Recht unterstehen (Häfelin/Müller a.a.O., N 1327;
Reto Arpagaus, Die selbständigen öffentlichen Anstalten des Kantons
Aargau, Aarau 1968, S. 78 ff.). Das Benützungsverhältnis der AGVA
im Besonderen untersteht dem öffentlichen Recht (Arpagaus a.a.O.,
S. 96 ff.). Öffentlichrechtliche Anstalten können sich (im Aussenver-
hältnis) des Privatrechts bedienen, indem sie z.B. gemäss den Be-
stimmungen des Obligationenrechts Kaufverträge abschliessen und
Aufträge Werkverträge vergeben (Häfelin/Haller, Schweizeri-
sches Bundesstaatsrecht, 6. Auflage, Zürich 2005, N 276).
Das Rückgriffsrecht der kantonalen Brandversicherungsanstal-
ten fällt gemäss ständiger Rechtsprechung unter das Bun-
des(privat)recht (Art. 51 Abs. 2 OR). Dies wird damit begründet,
dass der Versicherte eine Prämie bezahlt und somit ein Verhältnis wie
dasjenige im Privatversicherungsrecht besteht. Es liegt bei diesem
Verhältnis keine Sozialversicherung vor, denn die Prämie wird
risikogerecht berechnet und vom Versicherten allein getragen. Bei
Fehlen eines speziellen Bundesgesetzes kommt Art. 51 Abs. 2 OR
zur Anwendung. Somit ist die Stellung der kantonalen Anstalt
derjenigen eines Privatversicherers, also aus Vertrag Haftenden,
gleichzustellen. Die kantonalen Anstalten sind zwar dem VVG
(Versicherungsvertragsgesetz) nicht unterstellt, so dass positivrecht-
lich Art. 72 VVG hier nicht anwendbar ist. Im Ergebnis ändert dies
aber nichts, da die Rechtsprechung die Tragweite dieser Bestimmung
mit derjenigen von Art. 51 Abs. 2 OR harmonisiert hat (Roland
Brehm in: Berner Kommentar, Obligationenrecht, Die Entstehung
durch unerlaubte Handlungen, Art. 41-61 OR, 3. Auflage, Bern 2006,
N 71 zu Art. 51, des Weiteren auch N 15). Art. 51 OR ist anwendbar
ohne Rücksicht darauf, wie das kantonale Recht die Subrogation der
Anstalt in die Schadenersatzansprüche des Geschädigten gegenüber
dem Schädiger regelt; durch eine kantonale Subrogationsbestimmung
kann das Rückgriffsrecht aus Art. 51 OR nicht zugunsten kantonaler
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Versicherungsanstalten und zuungunsten des Schädigers abgeändert
werden (BGE 50 II 186; BGE 77 II 243; BGE 96 II 172).
4.2.
Vorliegend steht nicht ein Anspruch zwischen der AGVA und ei-
nem ihrer Versicherten im Streit, sondern es geht um einen Anspruch
aus dem Aussenverhältnis, indem die AGVA, welche die Versiche-
rungsforderungen eines Versicherten befriedigt hat, sich am bezüg-
lich des Schadens zur AGVA in keiner rechtlichen Beziehung stehen-
den - Schädiger schadlos halten will. Wie in der Berufungsantwort
(S. 4) richtig ausgeführt wird, ist die AGVA nicht berechtigt, gegen-
über Dritten, mit denen keine öffentlich-rechtlichen Beziehungen be-
stehen, hoheitlich aufzutreten.
Gemäss § 51 GebVG besteht für die AGVA ein Rückgriffsrecht
auf die Fehlbaren für die bezahlten Entschädigungssummen, deren
Zins sowie für die Kosten der Abschätzung. Wie oben dargelegt
wurde, ist aber unabhängig von einer kantonalen Vorschrift Art. 51
OR und damit Bundeszivilrecht anwendbar. Es kann daher dahinge-
stellt bleiben, ob die erwähnte kantonale Bestimmung die Ersatz-
forderung des Geschädigten gegen den Schädiger von Gesetzes
wegen auf die zahlende Brandversicherungsanstalt übergehen lassen
will nur ein Rückgriffsrecht vorsieht, wie es Art. 51 OR schon
von Bundesrechts wegen gewährt (vgl. auch BGE 96 II 172 E. 1).
Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass es dabei entgegen den
Ausführungen in der Berufung (S. 7) nicht um eine analoge
Anwendung von Privatrecht geht, sondern dass dieses direkt zur An-
wendung kommt. Die Stellung der AGVA ist im konkreten Fall
derjenigen eines Privatversicherers gleichzustellen.