2005 Zivilprozessrecht 45
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8 § 125 Abs. 2 ZPO. Die unentgeltliche Rechtspflege ist einer Verfahrenspartei, die sie nach er- teilter Bewilligung für ein offenbar aussichtsloses mutwilliges Rechtsbegehren missbraucht, zu verweigern. Eines Widerrufs (§ 132 ZPO) bedarf es hierfür nicht.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 12. September
2005 in Sachen A. M. B.-P. gegen Baugenossenschaft S.-P.
Das Bundesgericht hat die gegen den Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde abgewiesen.
Sachverhalt
1. Die Klägerin war Mitglied der Wohnbaugenossenschaft S.-P.
und hatte durch Mietvertrag ab 1. Juli 1994 in einem dieser gehören-
den Mehrfamilienhaus eine 4 ½-Zimmerwohnung gemietet. Sie wur-
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de mit Beschluss der Generalversammlung der Wohnbaugenossen-
schaft S.-P. vom 24. Juni 1999 wegen unzumutbar rücksichtslosen
Verhaltens aus der Wohnbaugenossenschaft ausgeschlossen. Diese
kündigte ihr danach mit amtlichem Formular vom 23. August 1999
den Mietvertrag unter Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist
mit der Angabe unzumutbar rücksichtslosen Verhaltens als Kündi-
gungsgrund auf den 31. Januar 2000.
2. Die Klägerin focht den Generalversammlungsbeschluss der
Wohnbaugenossenschaft vom 24. Juni 1999 gerichtlich und die Miet-
kündigung vom 23. August 1999 bei der Schlichtungsbehörde für das
Mietwesen an und stellte, nachdem diese mit Entscheid vom 23. Ja-
nuar 2001 die Mietkündigung geschützt hatte, beim Gerichtspräsi-
dium X. durch ihren Anwalt mit Eingabe vom 2. März 2001 das Kla-
gebegehren um Aufhebung der Kündigung vom 23. August 1999 zu-
sammen mit einem Begehren um Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtspflege mit unentgeltlicher Rechtsvertretung für das eingeleite-
te summarische Verfahren.
3. Das Gerichtspräsidium X. bewilligte ihr die beantragte unent-
geltliche Rechtspflege mit unentgeltlicher Rechtsvertretung und
setzte, nachdem die beklagte Wohnbaugenossenschaft mit der Klage-
antwort die Abweisung der Klage beantragt und die Mietausweisung
verlangt hatte, nach der Antwort der Klägerin auf dieses Begehren
mit Verfügung vom 26. November 2001 das Verfahren bis zur rechts-
kräftigen Erledigung des gerichtlichen Verfahrens betreffend Anfech-
tung des Ausschlusses der Klägerin aus der Wohnbaugenossenschaft
aus.
4. Dieses Verfahren wurde durch Obergerichtsurteil vom
25. Mai 2004, worin nach umfassender Sachverhaltsabklärung der
Ausschlussgrund unzumutbar rücksichtslosen Verhaltens der Kläge-
rin als erwiesen angesehen und deren Ausschluss aus der Wohn-
baugenossenschaft bestätigt wurde, rechtskräftig erledigt. In der Fol-
ge wies das Gerichtspräsidium X. nach durchgeführter Verhandlung
vom 12. November 2004 mit Zeugenvernehmung gestützt auf den
rechtskräftig festgestellten, durch diese bestätigten Sachverhalt
unzumutbar rücksichtslosen Verhaltens der Klägerin das Klagebe-
gehren um Aufhebung der Kündigung ab und ordnete in Gutheissung
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des Ausweisungsbegehrens der beklagten Wohnbaugenossenschaft
die Ausweisung der Klägerin aus der Mietwohnung an.
5. Die Klägerin erhob dagegen Beschwerde, in der sie mit der
Aufhebung des angefochtenen Entscheids die Aufhebung der Miet-
kündigung und Abweisung des Mietausweisungsbegehrens bean-
tragte und zur Begründung ausführte, es sei durch das in den Akten
befindliche, nicht maschinenschriftlich ausgefertigte gut leserlich
und inhaltlich klar abgefasst gewesene - Verhandlungsprotokoll ihr
Akteneinsichtsrecht und Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und
mit den - umfassend abgeklärt gewesenen - Vorwürfen an ihre
Adresse masslos übertrieben, eine ,,gegen den Grundsatz von Treu
und Glauben" verstossende Kündigung ausgesprochen und im ange-
fochtenen Entscheid zu Unrecht auf den im rechtskräftigen Ober-
gerichtsurteil vom 25. Mai 2004 rechtskräftig beurteilten Sachverhalt
abgestellt worden.
Das Obergericht, 4. Zivilkammer, wies diese Beschwerde mit
Entscheid vom 12. September 2005 als ,,mutwillig" unter Kostenfol-
ge zu Lasten der Klägerin ab und verweigerte ihr die unentgeltliche
Rechtspflege mit unentgeltlicher Rechtsvertretung für diese mutwilli-
ge Beschwerdeführung.
Aus den Erwägungen:
5. Der Klägerin ist für ihre mutwillige Beschwerdeführung
keine staatliche Kostenhilfe in unentgeltlicher Rechtspflege zu
gewähren (§ 125 Abs. 2 ZPO).
5.1. Gemäss § 125 Abs. 1 ZPO kann einer Verfahrenspartei auf
deren Gesuch die unentgeltliche Rechtspflege mit staatlicher Kosten-
hilfe zur Bestreitung der Verfahrensund/oder eigenen Parteikosten
(§§ 126/127 ZPO) bewilligt werden, wenn sie ohne erhebliche
Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie notwendigen Unter-
halts die Prozesskosten, d.h. Verfahrensund/oder eigenen Parteikos-
ten (§§ 126/127 ZPO), nicht bestreiten kann. Die Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege wegen vorliegender, die Bestreitung
von Verfahrensoder eigenen Parteikosten verunmöglichenden Mit-
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tellosigkeit der Partei (§ 125 Abs. 1 ZPO) wird in gefestigter Recht-
sprechung aus prozessökonomischen Gründen unbeschränkt, d.h. für
das kantonale Verfahren erteilt, womit der Verfahrenspartei die Er-
neuerung ihres Bewilligungsgesuchs in zweiter Instanz und dieser
die Wiederholung des Bewilligungsentscheids bei in aller Regel
unverändert gebliebenen Bewilligungsvoraussetzungen erspart
bleibt. Sind diese nicht mehr gegeben, ist die erteilte Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege gemäss § 132 ZPO zu widerrufen, wo-
bei der Widerruf ex nunc wirkt und mit ihm die gewährte staatliche
Kostenhilfe für die Fortführung des Prozesses entfällt.
5.2. Gemäss § 125 Abs. 2 ZPO ist einem Gesuch - unter den
Bewilligungsvoraussetzungen des § 125 Abs. 1 ZPO - nur zu
entsprechen, wenn der Prozess nicht offenbar aussichtslos mut-
willig erscheint. § 125 Abs. 2 ZPO schliesst die unentgeltliche
Rechtspflege für eine offenbar aussichtslose mutwillige
Prozessführung aus und will offensichtlich eine offenbar aussichtslo-
se mutwillige Prozessführung auf Staatskosten und damit staat-
liche Kostenhilfe für offenbar aussichtslose mutwillige
Rechtsbegehren verhindern.
5.2.1.
Gemäss § 125 Abs. 2 ZPO ist einer mittellosen Verfahrenspartei
die unentgeltliche Rechtspflege mit staatlicher Kostenhilfe ebenso
wie für eine offenbar aussichtslose mutwillige Klage gestützt
auf ein damit eingereichtes Gesuch auch für jedes andere zu Beginn
oder im Verlaufe des kantonalen Verfahrens in erster zweiter In-
stanz eingereichte offenbar aussichtslose mutwillige Rechts-
begehren zu versagen, ohne dass etwas darauf ankommt, ob sie ihr
zuvor bewilligt worden ist. Dafür ist in einem solchen Fall kein
Widerruf (§ 132 ZPO) erforderlich, weil dieser nach erteilter Be-
willigung der unentgeltlichen Rechtspflege (gemäss § 125 Abs. 1
ZPO) unmöglich vor einem danach eingereichten offenbar aussichts-
losen mutwilligen Rechtsbegehren erfolgen kann und § 125
Abs. 2 ZPO für ein solches die unentgeltliche Rechtspflege mit
staatlicher Kostenhilfe jedenfalls ausschliesst. Würde in Fällen, in
denen die mittellose Verfahrenspartei nach erteilter Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege (§ 125 Abs. 1 ZPO) das Verfahren mit
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einem offenbar aussichtslosen Rechts-, namentlich Rechtsmittel-
begehren fortsetzt, zur Verweigerung der unentgeltlichen Rechts-
pflege deren Widerruf (§ 132 ZPO) mit Wirkung ex nunc für die
Verfahrensfortsetzung verlangt, so würde damit der Verfahrenspartei
für das eingereichte offenbar aussichtslose mutwillige Rechts-
begehren staatliche Kostenhilfe gewährt und im Falle eines offenbar
aussichtslosen mutwilligen Rechtsmittel-, namentlich Be-
schwerdebegehrens (vg. §§ 335 ff. ZPO) eine offenbar aussichtslose
oder mutwillige Prozessführung auf Staatskosten ermöglicht, was
dem Wortlaut, Sinn und Zweck des § 125 Abs. 2 ZPO zuwiderliefe.
5.2.2.
Es verhält sich in Fällen, in denen eine Partei nach der ihr we-
gen Mittellosigkeit bewilligten unentgeltlichen Rechtspflege für ein
nicht offenbar aussichtslos mutwillig gewesenes Rechtsbegeh-
ren im Verlaufe des kantonalen Verfahrens ein offenbar aussichtslo-
ses mutwilliges Rechtsbegehren einreicht, nicht so, dass durch
dieses nachträglich mutwillige Rechtsbegehren die Voraussetzungen
der Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege ,,nie gegeben wa-
ren nicht mehr gegeben sind" und daher deren Widerruf für die
Verfahrensfortsetzung zu erfolgen hätte (§ 132 ZPO), sondern so,
dass für dieses nachträglich eingereichte mutwillige Rechtsbegehren
die unentgeltliche Rechtspflege gemäss § 125 Abs. 2 ZPO zum vorn-
herein ausgeschlossen ist. Der Verfahrenspartei ist daher die unent-
geltliche Rechtspflege für das nachträglich eingereichte offenbar
aussichtslose mutwillige Rechtsbegehren schon aus diesem
Grund, aber auch deshalb zu verweigern, weil sie damit die ihr für
ein statthaftes Rechtsbegehren bzw. zur ordnungsgemässen Rechts-
durchsetzung bewilligte unentgeltliche Rechtspflege für eine mutwil-
lige Prozessführung missbraucht hat und für die ihr durch dieses
treuwidrige Verhalten entstandenen Prozesskosten nicht in unent-
geltlicher Rechtspflege auf Kosten des Staates schadlos zu halten ist.
5.2.3.
Die unentgeltliche Rechtspflege fällt jedenfalls auch für ein
nach ihrer Erteilung eingereichtes offenbar aussichtsloses oder
mutwilliges Rechtsbegehren und damit auch für die vorliegende mut-
willige Beschwerde der Klägerin ausser Betracht (so ZR 1998 Nr. 28
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S. 85 E. 10b; nicht veröffentlichter Entscheid der 4. Zivilkammer
[SU.2005.00113] vom 19. Mai 2005 in Sachen W. Bank AG gegen
H.R. W.; a. M. Alfred Bühler/Andreas Edelmann/Albert Killer, Kom-
mentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, 2. A., Aarau/Frankfurt
am Main/Salzburg 1998, N 6b zu § 132 ZPO).
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