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22 § 56 Ziff. 3, 100 und 102 StPO. Art. 19 ZGB. - Die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts steht dem ur- teilsfähigen Unmündigen selbständig zu (Erw. 2 c/cc). - Für die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen bedarf der urteilsfähige Unmündige im Gegensatz zur Erhebung von Genugtu- ungsansprüchen - der Zustimmungserklärung des gesetzlichen Vertre- ters (Erw. 2 c/cc). - § 102 StPO schliesst die Einvernahme eines Zeugen, welcher die Aus- sagen anderer Personen zum gleichen Fall hat mitverfolgen können, nicht aus (Erw. 2 c/dd).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Strafkammer, vom 27. September
2000 in Sachen StA gegen R.F.
Aus den Erwägungen
2c/cc) Entgegen der Auffassung des Angeklagten konnte die
Zivilklägerin ohne Zustimmung ihres Beistands über das ihr zuste-
hende Zeugnisverweigerungsrecht entscheiden.
Nach Art. 19 Abs. 2 ZGB können urteilsfähige Unmündige oder
Entmündigte selbständig Rechte ausüben, die ihnen um ihrer Per-
sönlichkeit willen zustehen. Volle Geschäftsfähigkeit kommt den
beschränkt Handlungsunfähigen somit im gesamten Bereich zu, der
eine besondere Beziehung zur Persönlichkeit des Handelnden auf-
weist. Unter Ausübung der Rechte wird nicht nur die Geltendma-
chung eines subjektiven Rechtes verstanden, sondern die Gesamtheit
der Rechtsgeschäfte, der rechtsgeschäftlichen Handlungen und Wil-
lenserklärungen, die in irgendeiner Weise die Rechtsbeziehung des
Erklärenden eines Dritten beeinflussen. Dazu zählt insbesondere
auch die prozessuale Geltendmachung der höchstpersönlichen
Rechte. Der urteilsfähige Unmündige Entmündigte ist daher in
allen Streitigkeiten über höchstpersönliche Ansprüche im Sinne von
Art. 19 Abs. 2 ZGB prozessfähig (Pedrazzini/Oberholzer, Grundriss
des Personenrechts, 4.A., Bern 1993, S. 87 f.; Bucher, Berner Kom-
mentar, Das Personenrecht, Die natürlichen Personen, Kommentar zu
den Art. 11 - 26 ZGB, Bern 1976, N. 196 f. zu Art. 19 Abs. 2 ZGB).
Auch die Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht im Strafpro-
zess steht dem Urteilsfähigen jeden Alters selbständig zu, da die
Gründe der Gewährung eines solchen in der Person der Berechtigten
liegen und als höchstpersönlich gelten müssen (Bucher, Berner
Kommentar, a.a.O., N. 316 zu Art. 19 Abs. 2 ZGB; Hauser, Der Zeu-
genbeweis im Strafprozess mit Berücksichtigung des Zivilprozesses,
Zürich 1974, S. 147).
Im Bereich der Ausübung höchstpersönlicher Rechte kann der
Betroffene einen Vertreter bestellen, insbesondere durch Vollmacht-
erteilung einen Anwalt zur Interessenwahrung ausserhalb wie im
Rahmen eines Prozesses ermächtigen (BGE 112 IV 9 ff.; Bucher,
a.a.O., N. 196 ff. und 313 zu Art. 19 Abs. 2 ZGB). Für die Geltend-
machung von Schadenersatzansprüchen, sei es ausserprozessual, im
Zivilprozess adhäsionsweise im Strafprozess, bedarf die urteils-
fähige unmündige entmündigte Person indessen - dies im Ge-
gensatz zur Erhebung von Genugtuungsansprüchen - der Zustim-
mung des gesetzlichen Vertreters, da hier nicht mehr die Wahrung
höchstpersönlicher Rechte, sondern der Ausgleich für eine vermö-
gensmässige Einbusse angestrebt wird (Pedrazzini, a.a.O., S. 87;
Bucher, a.a.O., N. 323 zu Art. 19 Abs. 2 ZGB; ZBJV 99, S. 107). Die
Zustimmungserklärung des gesetzlichen Vertreters ist selbst bei
formbedürftigen Geschäften an keine besondere Form gebunden. Sie
kann explizit auch durch konkludentes Handeln erfolgen. Die
Zustimmung kann im Voraus erteilt werden, sie kann gleichzeitig mit
der Vornahme des Geschäftes erfolgen sie kann auch im Nach-
hinein geäussert werden (Pedrazzini, a.a.O., S. 90).
Aus diesen Ausführungen folgt, dass die Zivilklägerin ohne Zu-
stimmung ihres Beistands auf das ihr zustehende Zeugnisverweige-
rungsrecht verzichten konnte. Sie wäre auch berechtigt gewesen, die
Psychologin B. vom Berufsgeheimnis zu entbinden, sofern letztere
einem solchen unterstanden hätte. Gemäss den obigen Ausführungen
durfte sie auch selbständig einen Rechtsvertreter bzw. -vertreterin
beauftragen. Einzig für die Geltendmachung der Zivilforderung be-
nötigte sie die Zustimmung ihres Beistands. Aus einem Schreiben der
Rechtsvertreterin an das Bezirksgericht B. ergibt sich, dass am
8. September 1999 und somit kurz vor der vorinstanzlichen Verhand-
lung eine ausführliche Besprechung zwischen der Rechtsvertreterin
und der Zivilklägerin stattfand, an welcher auch ihr Beistand teil-
nahm. Zudem erklärte die Zivilklägerin vor Vorinstanz, dass ihr Bei-
stand über die Verhandlung orientiert sei. Es ist daher davon auszu-
gehen, dass dieser über das vorliegende Verfahren im Bilde war und
zudem mit der Geltendmachung der Zivilforderung einverstanden
war. Es liegt somit zumindest eine konkludente Zustimmung des
Beistands zur Geltendmachung der gestellten Schadenersatzforde-
rung vor, weshalb die Vorinstanz zu Recht auf diese eingegangen ist.
dd) Im Weiteren macht die Verteidigung mit Hinweis auf § 102
StPO geltend, die Einvernahme von H. und A. sei nicht zulässig, weil
sie bei der Einvernahme der Zivilklägerin anwesend gewesen seien
und H. die gesamte Verhandlung vom 31. August 2000 mitverfolgt
habe.
Entgegen den Ausführungen der Verteidigung schliesst § 102
StPO die Einvernahme eines Zeugen, welcher die Aussagen anderer
Personen zum gleichen Fall hat mitverfolgen können, nicht aus. Eine
solche Zeugeneinvernahme ist ohne weiteres dann zulässig, wenn
sich (wie hier) ihre Notwendigkeit erst im Verlaufe des Verfahrens
herausstellt; allerdings sind die erwähnten Kenntnisse des Zeugen bei
der Würdigung seiner Aussagen entsprechend zu berücksichtigen.