2000 Beschwerden gegen Einspracheentscheide der Fremdenpolizei
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118 Gestaffelter Familiennachzug - Jedes einzelne Kind hat gestützt auf Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG einen eigenen Anspruch darauf, das familiäre Zusammenleben mit den Eltern verwirklichen zu können. Es kann ausserdem verschiedene
vernünftige Gründe dafür geben, dass Geschwister einzeln nachge- zogen werden (Erw. II/3c/bb). - Eine Praxisänderung bezüglich der Bewilligung des Familiennach- zugs innerhalb derselben Familie ist nicht zulässig (Erw. II/3d).
Aus dem Entscheid des Rekursgerichts im Ausländerrecht vom 24. November 2000 in Sachen R.M. gegen einen Entscheid der Fremdenpolizei (BE.1999.00022).
Sachverhalt
A. Der Beschwerdeführer reiste 1968 erstmals als Saisonnier in
die Schweiz ein. 1970 wurde ihm die Aufenthaltsbewilligung erteilt
und seither ging er ohne Unterbruch einer Erwerbstätigkeit nach. Am
18. Februar 1980 wurde ihm die Niederlassungsbewilligung erteilt.
Am 3. Oktober 1990 wurde dem Beschwerdeführer der Nach-
zug des älteren Sohnes und am 10. Juni 1992 der Nachzug der Ehe-
frau und des jüngeren Sohnes bewilligt. Weiter stellte der Beschwer-
deführer ein Gesuch um Nachzug für seine ältere Tochter, welches
am 20. September 1994 von der Fremdenpolizei ebenfalls bewilligt
wurde.
Schliesslich stellte der Beschwerdeführer am 12. Februar 1998
ein Nachzugsgesuch für seine jüngere Tochter S., geb. 22. Juni 1982;
das letzte in der Heimat verbliebene Kind. Die Fremdenpolizei for-
derte ihn auf, verschiedene Fragen schriftlich zu beantworten. Dieser
Aufforderung kam der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 8.
September 1998 nach. Gleichzeitig erneuerte er sein Gesuch. Mit
Verfügung vom 19. Januar 1999 lehnte die Fremdenpolizei, Sektion
Aufenthalt, das Familiennachzugsgesuch ab.
B. Mit Eingabe vom 5. Februar 1999 erhob der Beschwerdefüh-
rer Einsprache. Am 15. März 1999 wies der Rechtsdienst der Frem-
denpolizei die Einsprache ab.
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C. Gegen diesen Entscheid reichte der Beschwerdeführer am 6.
April 1999 Beschwerde ein.
Aus den Erwägungen
II. 3. c) aa) Die Vorinstanz geht davon aus, dass ein gestaffelter
Familiennachzug nicht statthaft sei; laufe doch dieser dem Sinn und
Zweck der Regelung in Art. 17 Abs. 2 ANAG zuwider. Vielmehr
dienten die Bestimmungen der Ermöglichung und rechtlichen Absi-
cherung des familiären Zusammenlebens in der intakten Gesamtfa-
milie. Ebenso entspreche der gestaffelte Familiennachzug auch nicht
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die sich in ihrem unveröf-
fentlichten Entscheid vom 3. Dezember 1997 (2A.309/1997) gegen
eine Zusammenführung der Familie "au compte-gouttes" ausgespro-
chen habe.
bb) Das Rekursgericht hat sich mit dieser Frage bereits in sei-
nen Entscheiden vom 26. Januar 1999 (i.S. S.K., BE.98.00026, E. 4,
S. 13 f.) und vom 30. Juni 2000 (i.S. A.A., BE.00.00014, E. 6, S. 7
f.) auseinandergesetzt. Dabei ging es auch auf besagten bundesge-
richtlichen Entscheid ein. Dem erwähnten Entscheid lag der Sach-
verhalt zugrunde, dass der Betroffene die Existenz weiterer Nach-
kommen - der Vater gab seine Tochter als einziges Kind an ver-
schwiegen hatte (unveröffentlichter Entscheid des Bundesgerichtes
vom 3. Dezember 1997 2A.309/1997, E. 3b, S. 12). Hier ist dies
nicht der Fall; der Vorinstanz war bekannt, dass noch weitere Kinder
des Beschwerdeführers existieren. Somit ist die Sachlage des obigen
Entscheides des Bundesgerichts nicht mit derjenigen im vorliegen-
den Fall vergleichbar.
Dennoch scheint die Vorinstanz davon auszugehen, dass ein
Familiennachzugsgesuch nur bewilligt werden könne, wenn die Ver-
einigung sämtlicher Familienmitglieder gleichzeitig erfolge. Ver-
schiedene Gründe sprechen jedoch gegen diese Annahme. Die Frem-
denpolizei selber hat in den Jahren 1990, 1992 und 1994 die vom
Beschwerdeführer gestellten Gesuche um Familiennachzug gestaffelt
bewilligt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf
Familiennachzug haben sich seit dem letzten bewilligten Gesuch
nicht geändert. Gestützt auf Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG hat nach
wie vor jedes einzelne Kind einen Anspruch darauf, das familiäre
Zusammenleben mit den Eltern verwirklichen zu können. Das heute
allgemein anerkannte Selbstbestimmungsrecht eines Kindes erfor-
dert, dass es den Entscheid, mit wem es in Familiengemeinschaft
leben will, unabhängig vom Entscheid seiner allfälligen Geschwister
treffen kann. Ausserdem kann es eine ganze Reihe von vernünftigen
Gründen dafür geben, dass Geschwister einzeln nachgezogen werden
sollen: Der Wunsch nach Familiennachzug kann zum Beispiel ab-
hängig sein vom Alter der Kinder, von der jeweiligen Beziehung zu
den Eltern von den finanziellen Verhältnissen. Ein anderes Re-
sultat kann auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtes
abgeleitet werden. In BGE 124 II 361, E. 4d, S. 371 liess es diese
Frage jedenfalls offen, ebenso im unveröffentlichten Entscheid des
Bundesgerichtes vom 26. Juli 1999 (2A.123/1999).
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Zweck von Art. 17
Abs. 2 Satz 3 ANAG auch erreicht werden kann, wenn nicht alle
Kinder gemeinsam nachgezogen werden. Die offenbare Änderung
der fremdenpolizeilichen Bewilligungspraxis, derzufolge weder der
Zeitpunkt noch die Anzahl der nachzuziehenden Kinder freigestellt
wird, erweist sich damit als mit Art. 17 Abs. 2 Satz 3 ANAG unver-
einbar.
d) Selbst wenn man die Praxisänderung als zulässig erachten
würde, müsste ihre Durchsetzung im konkreten Fall untersagt wer-
den. Es geht nicht an, dass die Fremdenpolizei bei derselben Familie
jahrelang und in Übereinstimmung mit dem klaren Wortlaut von Art.
17 Abs. 2 ANAG den gestaffelten Familiennachzug zulässt, um dann
unvermittelt den Nachzug des letzten Kindes zu verweigern. Dies
würde einerseits zu einem stossenden Ergebnis führen, indem einer
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Familie die Vereinigung mit dem letzten im Heimatland verbliebenen
Kind versagt würde. Andererseits widerspräche es klar dem Sinn und
Zweck von Art. 17 Abs. 2 ANAG. Wenn schon hätte die Fremden-
polizei die Praxisänderung so gestalten müssen, dass Kindern, die
noch im Heimatland verblieben sind, der gemeinsame Nachzug ge-
stattet würde. Das dies auch für ein einzelnes Kind gelten müsste,
versteht sich von selbst. Nochmals festzuhalten ist aber, dass auch
eine derartige Praxisänderung unzulässig wäre, da sie gegen die klare
Rechtslage verstossen würde.
e) Damit besteht im vorliegenden Fall ein vorbehaltloser
Rechtsanspruch auf Bewilligung des Familiennachzuges, es sei denn,
es liege ein rechtsmissbräuchlich gestelltes Gesuch vor.