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Bundesverwaltungsgericht Urteil F-1053/2023

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts F-1053/2023

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung VI
Dossiernummer:F-1053/2023
Datum:22.08.2024
Leitsatz/Stichwort:Nationales Visum
Schlagwörter : Beschwerdeführende; Beschwerdeführenden; Afghanistan; Gefährdung; Ehemann; Person; Taliban; Urteil; Ehemannes; Vorinstanz; Pakistan; Kinder; Bundesverwaltungsgericht; Visum; BVGer; Sinne; Sachverhalt; Entführung; Aufenthalt; Personen; Situation; Frauen; Risikoprofil; Arbeit; Verfügung
Rechtsnorm: Art. 112 AIG ;Art. 48 VwVG ;Art. 49 VwVG ;Art. 50 VwVG ;Art. 52 VwVG ;Art. 62 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 64 VwVG ;Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung VI F-1053/2023

U r t e i l v o m 2 2 . A u g u s t 2 0 2 4

Besetzung Richter Sebastian Kempe (Vorsitz), Richter Daniele Cattaneo, Richterin Regula Schenker Senn,

Gerichtsschreiberin Caroline Rausch.

Parteien 1. A. _,

2. B. _,

3. C. _,

4. D. _,

5. E. _,

6. F. _,

alle vertreten durch (…)

Beschwerdeführende,

gegen

Staatssekretariat für Migration SEM,

Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.

Gegenstand Nationale Visa (aus humanitären Gründen); Verfügung des SEM vom 23. Januar 2023.

Sachverhalt:

A.

Die Beschwerdeführerin 2 (geb. 1987, afghanische Staatsangehörige) ersuchte am 20. Juli 2022 bei der Schweizerischen Botschaft in Islamabad (Pakistan) für sich und ihre Kinder (Beschwerdeführer 3-6, geb. 2016, 2018, 2020 und 2021, alle afghanische Staatsangehörige) sowie ihre Schwiegermutter (Beschwerdeführerin 1, geb. 1961, afghanische Staatsangehörige) um Ausstellung humanitärer Visa. Am 20. Juli 2022 fand die persönliche Befragung der Beschwerdeführerin 2 und am 2. August 2022 die Befragung der Beschwerdeführerin 1 bei der Schweizerischen Botschaft statt.

B.

Mit Formularverfügung vom 20. September 2022 verweigerte die Schweizerische Botschaft die Ausstellung der Visa.

C.

Die Vorinstanz wies die von den Beschwerdeführenden am 6. Oktober 2022 gegen die Formularverfügung vom 20. September 2022 erhobene

Einsprache am 23. Januar 2023 ab.

D.

Mit Rechtsmitteleingabe vom 23. Februar 2023 gelangten die Beschwerdeführenden an das Bundesverwaltungsgericht und beantragten die Aufhebung der angefochtenen Verfügung sowie die Erteilung humanitärer Visa. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner sei ihnen die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten.

E.

Mit Zwischenverfügung vom 22. März 2023 nahm das Bundesverwaltungsgericht das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege angesichts der diesbezüglichen Beschwerdeausführungen als Gesuch um unentgeltliche Prozessführung entgegen und hiess dieses gut.

F.

In ihrer Vernehmlassung vom 7. Juni 2023 beantragte die Vorinstanz die Abweisung der Beschwerde.

G.

Per 1. Juli 2023 übernahm der vorsitzende Richter das vorliegende Verfahren aus organisatorischen Gründen vom vormaligen Instruktionsrichter.

H.

In der Replik vom 5. September 2023 hielten die Beschwerdeführenden an ihren Begehren und an deren Begründung fest.

I.

Am 1. November 2023 reichte die Vorinstanz ihre Duplik ein und beantragte erneut die Abweisung der Beschwerde.

J.

Am 11. Dezember 2023 reichten die Beschwerdeführenden ein weiteres Schreiben ein.

K.

Am 15. Januar 2024 nahm die Vorinstanz dazu Stellung.

L.

Am 21. Februar 2024 und am 13. Mai 2024 wandten sich die Beschwerdeführenden erneut an das Bundesverwaltungsgericht.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Einspracheentscheide des SEM betreffend humanitäre Visa sind mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht anfechtbar (Art. 112 Abs. 1 AIG [SR 142.20] i.V.m. Art. 31 ff. VGG). Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet in diesem Bereich endgültig (Art. 83 Bst. c Ziff. 1 BGG).

    2. Das Rechtsmittelverfahren richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG nichts anderes bestimmt (vgl. Art. 37 VGG).

    3. Die Beschwerdeführenden sind als Verfügungsadressaten, die ein schutzwürdiges Interesse an der Änderung oder Aufhebung der angefochtenen Verfügung haben, zur Beschwerde legitimiert (vgl. Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen (Rechtsmittelfrist [Art. 50 Abs. 1 VwVG] und Form der Beschwerde [Art. 52 Abs. 1 VwVG]) sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

Mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht können die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes und – sofern wie vorliegend keine kantonale Behörde als Beschwerdeinstanz verfügt hat – die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 49 VwVG). Das Bundesverwaltungsgericht wendet das Bundesrecht von Amtes wegen an. Es ist gemäss Art. 62 Abs. 4 VwVG nicht an die Begründung der Begehren gebunden und kann die Beschwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder abweisen. Massgeblich ist grundsätzlich die Sachlage im Zeitpunkt seines Entscheids (vgl. BVGE 2020 VII/4 E. 2.2).

3.

    1. Als Staatsangehörige Afghanistans unterliegen die Beschwerdeführenden der Visumspflicht gemäss Art. 9 der Verordnung vom 15. August 2018 über die Einreise und die Visumerteilung (VEV, SR 142.204). Mit ihren Gesuchen beabsichtigen sie einen längerfristigen Aufenthalt, weshalb diese nicht nach den Regeln zur Erteilung von Schengen-Visa, sondern nach den Bestimmungen des nationalen Rechts zu prüfen sind (vgl. BVGE 2018 VII/5 E. 3.5 und E. 3.6.1).

    2. Gemäss Art. 4 Abs. 2 VEV kann in Abweichung von den allgemeinen Einreisevoraussetzungen (vgl. Art. 4 Abs. 1 VEV) in begründeten Fällen aus humanitären Gründen ein Visum für einen längerfristigen Aufenthalt erteilt werden. Ein solcher Fall liegt insbesondere vor, wenn die betreffende Person im Herkunftsstaat unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet ist. Praxisgemäss werden humanitäre Visa nur unter sehr restriktiven Bedingungen ausgestellt (vgl. BVGE 2015/5 E. 4.1.3). Diese werden dann als erfüllt angesehen, wenn bei einer Person aufgrund der konkreten Umstände davon ausgegangen werden muss, dass sie sich im Heimatoder Herkunftsstaat in einer besonderen Notsituation befindet, die ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich macht und es rechtfertigt, ihr – im Gegensatz zu anderen Personen in derselben Lage – ein Einreisevisum zu erteilen. Dies kann etwa bei akuten kriegerischen Ereignissen gegeben sein; oder aufgrund einer konkreten individuellen Gefährdung, die sie mehr als alle anderen Personen betrifft. Befindet sich die betroffene Person bereits in einem Drittstaat (BVGE 2018 VII/5

      E. 3.6.3) oder ist sie nach einem Aufenthalt in einem solchen freiwillig in ihr Heimatoder Herkunftsland zurückgekehrt (vgl. Urteil des BVGer F-4658/2017 vom 7. Dezember 2018 E. 4.3) und hat sie die Möglichkeit,

      sich erneut in den Drittstaat zu begeben, ist in der Regel davon auszugehen, dass keine Gefährdung mehr besteht. Gleiches gilt, wenn die Person nachweislich die Möglichkeit hat, sich in einen Drittstaat zu begeben, ohne zuvor dort gewesen zu sein (Urteil des BVGer F-840/2024 vom 26. Juni 2024, E. 3.2). Das Visumsgesuch ist unter Berücksichtigung der aktuellen Gefährdung, der persönlichen Umstände der betroffenen Person und der Lage im Heimatoder Herkunftsland sorgfältig zu prüfen (vgl. BVGE 2018 VII/5 E. 3.6.3; Urteil des BVGer F-2470/2022 vom

      29. November 2023 E. 3.2 m.H.).

    3. Im Hinblick auf das Beweismass ist zu betonen, dass für die Erteilung eines humanitären Visums eine im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Satz 2 VEV relevante Gefährdung offensichtlich gegeben sein muss (vgl. BVGE 2018 VII/5 E. 3.6.3; 2015/5 E. 4.1.3; Urteile des BVGer F-4626/2012 vom 13. April 2023 E. 3.3; F-4827/2012 vom 13. März 2023 E. 3.4; F-1077/2022 vom

      21. Januar 2024 E. 5.4.2, zur Publikation vorgesehen; BBl 2010 4455, 4490) und mithin der volle Beweis zu erbringen ist (vgl. Urteil F-1077/2022 E. 5.4.1).

    4. Bei der Beurteilung der Sicherheitslage in Afghanistan lassen sich Gruppen von Personen definieren, die aufgrund ihrer Exponiertheit einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind. Dazu gehören vor allem Personen, die der gestürzten afghanischen Regierung oder der internationalen Gemeinschaft nahestehen oder als Unterstützer derselben wahrgenommen werden, sowie westlich orientierte oder der afghanischen Gesellschaftsordnung aus anderen Gründen nicht entsprechende Personen (vgl. bspw. Urteile des BVGer F-4178/2022 vom 25. August 2023 E. 8.3, F-4156/2022 vom 4. Juli 2023 E. 6.2, je m.H.).

    5. Eine Reflexgefährdung – wie sie die Beschwerdeführenden vorliegend mit Blick auf ihren Sohn/Ehemann/Vater geltend machen – liegt vor, wenn nach den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls die Angehörigen einer im Sinne von Art. 4 Abs. 2 VEV gefährdeten Person allein oder unter anderem aufgrund dieser Angehörigkeit ihrerseits als entsprechend gefährdet zu qualifizieren sind. Wird der gefährdeten Person ein humanitäres Visum erteilt, führt dies indes nicht «automatisch» dazu, dass ihre An-gehörigen als reflexgefährdet zu betrachten und auch diesen die Einreise in die Schweiz zu bewilligen wäre (vgl. Urteil des BVGer F 3560/2023 vom

      7. März 2024 E. 5.3.2). Vielmehr gelten auch hier die strengen beweisrechtlichen Anforderungen der Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 2 VEV (BVGE 2018 VII/5 E. 3.6.3; Urteil des BVGer F 1838/2022 vom

      13. September 2023 E. 6.1; vgl. oben E. 3.3). Geklärt werden muss, ob den fraglichen Angehörigen aufgrund ihres individuellen Gefährdungsprofils – welches es unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände einschliesslich ihrer konkreten Beziehung zur gefährdeten Person und deren konkreten Gefährdungslage zu ermitteln gilt – ihrerseits eine Gefährdung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 VEV zu attestieren und ihnen entsprechend ein humanitäres Visum zu erteilen ist. Wird dies verneint, bleibt gegebenenfalls für die betroffenen Angehörigen je einzeln zu prüfen, ob die Verweigerung des Visums bei gleichzeitiger Erteilung eines solchen an die gefährdete Person mit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit vereinbar ist (Urteile des BVGer F 3370/2022 vom 26. Juni 2023 E. 5.4, F 137/2021 vom

      22. September 2021 E. 5.4).

    6. Festzuhalten bleibt, dass das freiwillige Aufsuchen einer Schweizer Auslandsvertretung zwecks Beantragung eines humanitären Visums seitens der Schweiz keine internationale Schutzpflicht begründet. Die gesuchstellende Person unterstellt sich damit nicht der Hoheitsgewalt der Eidgenossenschaft (siehe Urteil des EGMR M.N. u.a. gegen Belgien vom 5. Mai 2020, Grosse Kammer 3599/18, §§ 96 ff.; Urteil des BVGer F-1077/2022 vom 21. Februar 2024 E. 4.4 m.w.H.).

4.

    1. Die Beschwerdeführenden rügen in ihrer Beschwerde, dass die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt in Bezug auf ihre Gefährdungslage in Afghanistan sowie die Gefahr einer Rückschiebung von Pakistan nach Afghanistan nicht korrekt erstellt habe. In ihrer Stellungnahme vom

      21. Februar 2024 machen sie ferner geltend, die Vorinstanz habe auch das Rückschaffungsrisiko von Iran (wo sie sich seit Ende 2023 befinden) nach Afghanistan nicht hinreichend abgeklärt.

    2. Gemäss Art. 12 VwVG stellt die Behörde den Sachverhalt von Amtes wegen fest (Untersuchungsgrundsatz) und bedient sich nötigenfalls der unter Buchstaben a–e jener Bestimmung aufgelisteten Beweismittel. Der Untersuchungsgrundsatz findet seine Grenze in der Mitwirkungspflicht der Parteien (Art. 13 VwVG). Die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts kann nach Art. 49 Bst. b VwVG gerügt werden. Unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn der Verfügung ein falscher und aktenwidriger Sachverhalt zugrunde gelegt wird oder Beweise falsch gewürdigt worden sind; unvollständig ist sie, wenn nicht alle für den Entscheid wesentlichen Sachumstände berücksichtigt werden (vgl. BVGE 2014/2 E. 5.1).

    3. Die Vorinstanz hat den rechtserheblichen Sachverhalt im Hinblick auf die Gefährdungslage der Beschwerdeführenden in Afghanistan hinreichend abgeklärt. Sie hat sich unter Bezugnahme auf die Schilderungen der Beschwerdeführenden und die Aktenlage mit deren konkreter individueller Situation und Gefährdung in ihrem Herkunftsland auseinandergesetzt. Ob die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt sodann auch hinsichtlich der Rückschiebungsgefahr nach Afghanistan aus ihrem aktuellen Aufenthaltsstaat (Iran) hinreichend abgeklärt hat, kann für das vorliegende Urteil offenbleiben (vgl. E. 11). Da sie sich derzeit nicht mehr in Pakistan befinden, muss auch die Rüge betreffend das Rückschaffungsrisiko von Pakistan nach Afghanistan nicht behandelt werden.

5.

    1. Die Vorinstanz führte zur Begründung ihres Entscheids im Wesentlichen aus, es sei bei den Beschwerdeführenden keine unmittelbare und ernsthafte Notlage ersichtlich, die ihr Leib und Leben konkret gefährde und damit ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich erscheinen lasse.

    2. Die Beschwerdeführenden machten hauptsächlich geltend, wegen der Entführung des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2 (vgl. E. 6), ihrer Situation als auf sich allein gestellte Frauen mit vielen Kindern (vgl. E. 7) sowie der früheren Tätigkeit der Beschwerdeführerin 2 (vgl. E. 8) einer besonderen Notsituation ausgesetzt zu sein.

6.

    1. Die Beschwerdeführenden brachten vor, der Ehemann der Beschwerdeführerin 2 habe im Präsidentenpalast als Sicherheitsbeauftragter des damaligen Präsidenten gearbeitet und sei aus diesem Grund von den Taliban verhaftet worden. Da sie keine Kenntnis von seinem Wohlergehen hätten, sei davon auszugehen, dass er nicht mehr am Leben sei. Sie machten aufgrund dieser Ereignisse eine Reflexverfolgung geltend.

    2. Die Beschwerdeführenden reichten mit der Beschwerdeschrift mehrere Unterlagen ein, um die ehemalige Tätigkeit des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2 als Sicherheitsbeauftragter im Präsidentenpalast zu belegen. Es liegen Ausweise vor, welche seine Tätigkeit als (…) bestätigen. Im Jahre 2020 wurde er zum (…) befördert. Zudem liegen eine Kursbestätigung für die Absolvierung des Kurses «West gun and soldier principle rules» und ein Waffenausweis vor.

    3. Der Ehemann der Beschwerdeführerin 2 weist als Mitarbeiter der früheren Regierung ein erhöhtes abstraktes Risikoprofil auf (vgl. dazu SEM, Focus Afghanistan – Verfolgung durch Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15. Februar 2022, Bern, S. 10; ˂ www.sem.admin.ch ˃ Internationales & Rückkehr ˃ Herkunftsländerinformationen ˃ Asien und Nahost ˃, abgerufen am 14.08.2024 [SEM, Risikoprofile]). Damit gehört er einer Personengruppe an, bei der davon auszugehen ist, dass sie in Afghanistan einem erhöhten Verfolgungsrisiko ausgesetzt ist, und für welche sich die Gefährdungslage seit der im August 2021 erfolgten Übernahme der Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet durch die Taliban und dem inzwischen vollständigen Abzug der amerikanischen und anderen ausländischen Streitkräfte erheblich akzentuiert hat.

    4. In Bezug auf das Datum der Festnahme des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2 und die darauffolgenden Geschehnisse machten die Beschwerdeführenden widersprüchliche Angaben:

      1. Während in den ersten Eingaben ein Zeitraum um April bis Mai 2022 als Datum der Verhaftung genannt wird (vgl. Eingaben vom 10. Juni 2022 und vom 7. Juli 2022) nannte die Beschwerdeführerin 2 bei ihrer persönlichen Befragung in der Botschaft (am 20. Juli 2022) den 8. März 2021 als Datum der Entführung. Die Beschwerdeführerin 1 wiederum erwähnte in ihrer Befragung (am 2. August 2022) den 8. März 2022, und dieses Datum ist auch der Beschwerdeschrift entnehmen. In der Einsprache vom 6. Oktober 2022 gaben die Beschwerdeführenden hingegen den Januar 2022 an.

      2. Zudem erklärte die Beschwerdeführerin 2 bei der persönlichen Anhörung am 20. Juli 2022, die Familie habe sich nach der Festnahme ihres Ehemannes am 8. März 2021 zwei bis drei Monate bei einer Freundin versteckt, bevor sie für ein Jahr in ihr Haus zurückgekehrt sei. Da die Taliban im Juni 2022 noch zwei Mal zurückgekehrt seien, habe sie Afghanistan mit zwei Kindern verlassen. Ihre beiden anderen Kinder seien später mit der Beschwerdeführerin 1 nachgekommen.

      3. In grundsätzlicher Übereinstimmung damit führte die Beschwerdeführerin 1 bei der persönlichen Befragung am 2. August 2022 aus, dass die Taliban sowohl vor als auch nach der Entführung ihres Sohnes am 8. März 2022 mehrmals bei ihnen zu Hause gewesen seien. Nach der Entführung hätten sie ihre Adresse geändert und sie sei mit zwei Kindern zu einer ihr bekannten Person geflohen, während die Beschwerdeführerin 2 mit den

        zwei anderen Kindern nach Pakistan geflohen sei. Sie habe die Kinder später zur Grenze gebracht und sei selbst aber in Afghanistan geblieben. Am

        20. Juli 2022 sei sie auch nach Pakistan gereist.

      4. In der Beschwerdeschrift brachte die Beschwerdeführerin 2 dann neu vor, dass sie und ihr Ehemann nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 nach Pakistan geflohen seien und sich am (…) 2022 bei Sharp (Society for Human Rights and Prisoners Aid) registriert hätten. Da sie sich den Aufenthalt in Pakistan nicht hätten leisten können und dort keinen Schutz erhalten hätten, seien sie nach Afghanistan zurückgekehrt. Nach der Festnahme ihres Ehemannes am 8. März 2022 habe sie einen Brief an die Regierung geschrieben, der unbeantwortet geblieben sei. Die Taliban hätten sie danach noch zwei Mal zuhause aufgesucht, sie sei alleine nach Pakistan geflohen und habe die Kinder bei der Beschwerdeführerin 1 gelassen. Die Kinder seien dann am 19. Juli 2022 nach Pakistan gekommen bzw. sie habe sie dann nach Pakistan geholt.

    5. Um die Festnahme des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2 zu beweisen, reichten die Beschwerdeführenden ein an die Regierung gerichtete Schreiben ein, in welchem sie um Informationen über den Verbleib des Ehemannes ersuchten. Zudem liegt ein Haftbefehl gegen den Ehemann vor.

    6. Nach dem Gesagten bestehen gewisse Zweifel an der vorgebrachten Entführung des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2. Denn die Vorbringen der Beschwerdeführenden sind nicht nur in den jeweiligen Verfahrensstufen, sondern auch zwischen der Beschwerdeführerin 1 und der Beschwerdeführerin 2 von Widersprüchlichkeiten geprägt. Insbesondere bleibt nicht nur das Datum der Festnahme unklar, sondern auch die Aussagen über die Geschehnisse danach ergeben kein klares Bild. Das Vorbringen, die Widersprüche seien auf Missverständnisse zwischen den Beschwerdeführenden und den Dolmetschern zurückzuführen, überzeugt in dieser Pauschalität nur beschränkt. Den zum Beleg eingereichten Schreiben (vgl. E. 6.5), deren Authentizität unklar bleibt, ist sodann zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin 2 die Regierung nach dem Verbleib ihres Ehemannes gefragt hat und dass die Taliban einen Haftbefehl gegen ihren Ehemann verfügt haben. Damit deuten sie – Authentizität vorbehalten – im Sinne von Indizien darauf hin, dass sich die geltend gemachte Entführung des Ehemannes durch die Taliban effektiv ereignet hat. Zu belegen vermögen sie diese indes nicht.

Selbst bei Wahrunterstellung folgt indes aus der mutmasslichen Entführung des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2 für sich allein noch nicht, dass die Beschwerdeführenden aufgrund ihrer Beziehung zu ihm im Sinne einer Reflexverfolgung als konkrete Einzelpersonen in Afghanistan einer unmittelbaren ernsthaften Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt wären. Rechtsgenügende Anhaltspunkte für gezielte Repressalien, Drohungen oder sonstige Verfolgungshandlungen gegenüber den Beschwerdeführenden 2–6 als Angehörige des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2 werden weder substantiiert vorgebracht noch ergeben sich solche aus den Akten. Im Übrigen erscheinen in der geltend gemachten Entführungssituation gezielte Repressalien gegen die Familie des Entführten – anders als Repressalien gegen die Familie einer durch die Taliban im Sinne von Art. 4 Abs. 2 VEV gefährdeten Person, derer diese noch nicht habhaft geworden sind – auch nicht ohne Weiteres plausibel (vgl. zum Ganzen vorne E. 3.5).

7.

    1. Des Weiteren brachten die Beschwerdeführenden vor, in Afghanistan allein aufgrund ihres weiblichen Geschlechts bedroht zu sein.

    2. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 kontinuierlich verschlechtert hat. Davon sind jedoch alle Frauen und Mädchen in Afghanistan – und nicht einzig die Beschwerdeführenden individuell – in ähnlicher Weise betroffen. Das blosse Merkmal des weiblichen Geschlechts reicht auch unter Berücksichtigung der aktuellen Machtverhältnisse in Afghanistan nicht aus, um im konkreten Einzelfall offensichtlich eine unmittelbare, ernsthafte und konkrete Gefährdung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 VEV zu begründen. Eine besonders gelagerte Gefährdungssituation im Vergleich zu anderen in Afghanistan lebenden Personen, namentlich auch anderen Frauen und Mädchen, vermochten die Beschwerdeführenden nicht aufzuzeigen. Auch die in der Beschwerde zitierten Berichte zur allgemeinen Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan lassen keine Rückschlüsse auf eine personenspezifische Gefährdung der Beschwerdeführenden an Leib und Leben zu. Folglich sind die Beschwerdeführenden nicht einer unmittelbaren Gefährdung ausgesetzt, die sie mehr als andere Frauen und Mädchen in Afghanistan betrifft. Nachdem nicht von einer Reflexverfolgung aufgrund ihrer Beziehung zum mutmasslich durch die Taliban entführten Ehemann der Beschwerdeführerin 2 auszugehen ist (vorstehend E. 6.6), sind sie mit den gleichen Schwierigkeiten wie zahlreiche verwitwete Frauen und deren Kinder in Afghanistan konfrontiert (vgl. Urteil des BVGer F-1451/2022 vom 27. März 2024

      E. 8.4 [zur Publikation vorgesehen]). Mithin ist eine Gefährdung der Beschwerdeführenden im Sinne von Art. 4 Abs. 2 VEV auch unter dem Gesichtspunkt ihres Frauseins zu verneinen.

    3. Der mit Eingabe vom 13. Mai 2024 vorgebrachte Übergriff auf die Beschwerdeführerin 2, die am (…) 2024 in Iran von einer Gruppe von sechs Männern als «dreckige Afghanin» beschimpft und angegriffen worden sei und mehrere Knochenbrüche erlitten habe, vermag an der vorstehenden Beurteilung der hier vorab zu beurteilenden Situation der Beschwerdeführenden bei einer Rückkehr nach Afghanistan nichts zu ändern, da er sich im Iran ereignete (zur Situation in Iran vgl. nachfolgend E. 11.).

8.

    1. Schliesslich machten die Beschwerdeführenden geltend aufgrund der früheren Arbeitstätigkeit der Beschwerdeführerin 2 einer unmittelbaren ernsthaften Gefährdung ausgesetzt zu sein.

    2. Im vorinstanzlichen Verfahren gab die Beschwerdeführerin 2 mit Eingaben vom 10. Juni 2022 und 7. Juli 2022 sowie mit Einsprache vom 6. Oktober 2022 jeweils an, Journalistin zu sein und mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zusammengearbeitet zu haben. In ihrer Eingabe vom

      5. Juli 2022 erwähnte sie derweil nur die Arbeit für NGOs.

      Bei der persönlichen Anhörung am 20. Juli 2022 präzisierte sie, dass sie als Telefonistin und Projektmitarbeiterin bei G. (2014-2015), als Finanzassistentin bei H. (2017-2020) und als Fernsehreporterin

      beim Fernsehsender I.

      (Anfang 2021-August 2021) gearbeitet

      habe. In der Beschwerdeschrift hingegen erwähnte sie in Bezug auf ihre Erfahrung bei NGOs Tätigkeiten bei J. als Verwaltungsassistentin (2010-2013) und bei K. einer globalen humanitären Organisation, die sich für die Beendigung des Welthungers einsetzt, als Finanzund Verwaltungsassistentin (2017-2020). In Bezug auf ihre journalistische Tätigkeit gab sie an, dass sie «zuletzt» für den Fernsehsender I. als «temporary contract reporter» gearbeitet habe und von ihrem Vorgesetzten gebeten worden zu sei, in einer Reportage über die Grausamkeiten und Verbrechen der Taliban zu berichten. Sie sei eine Taliban-kritische Journalistin gewesen. Eine Zeitspanne für diese Tätigkeit nannte sie nicht.

    3. Die Beschwerdeführerin 2 reichte als Beweismittel für die geltend gemachten Berufserfahrungen Arbeitsbestätigungen der Organisationen J. » (2010-2013), K. (2017-2020) sowie I. (2017-

      2020) ein. Des Weiteren reichte sie einen Badge datiert vom Jahr 2014 mit ihrem Namen und der Organisation L. ein.

    4. Aus den vorgebrachten, indes wenig spezifizierten früheren Arbeitstätigkeiten der Beschwerdeführerin 2, namentlich ihrer journalistischen Tätigkeit, lässt sich auf ein gewisses abstraktes Risikoprofil schliessen (vgl. SEM, Risikoprofile, S. 26 ff.). Von einem hohen Risikoprofil – wie es etwa solchen Zivilpersonen zukommen kann, deren Tätigkeit sie offenkundig in der afghanischen Gesellschaft und/oder gegenüber den Taliban exponiert hat – kann indes keine Rede sein. Was sodann ihre konkrete Gefährdung angeht, nennt die Beschwerdeführerin 2 keine konkrete Situation, in welcher sie persönlich in das Visier der Taliban geraten sei. Aus dem festgestellten – nicht hohen – abstrakten Risikoprofil der Beschwerdeführerin 2 folgt für sich allein genommen nicht, dass sie und im Sinne einer Reflexgefährdung allenfalls auch ihre Angehörigen einer konkreten individuellen Gefährdung ausgesetzt wären. Eine besondere, visumrelevante Gefährdungssituation ist nach dem Gesagten auch in dieser Hinsicht nicht ausgewiesen.

Anzumerken bleibt, dass diesbezüglich die Aussagen der Beschwerdeführerin 2 im Rahmen der persönlichen Anhörung in der Botschaft von den Angaben in der Beschwerdeschrift abweichen. Denn sie erwähnte im Zusammenhang mit ihrer Arbeitserfahrung bei NGOs andere Arbeitsorte. Auffallend ist auch, dass sie zwar angab, von Anfang 2021 bis zur Machtübernahme der Taliban (sprich August 2021) als Journalistin gearbeitet zu haben (vgl. persönliche Befragung vom 20. Juli 2022), die eingereichten Unterlagen aber eine Arbeitsbestätigung mit dem Zeitraum 2017-2020 enthalten (vgl. E. 8.3).

9.

Nach dem Gesagten ist bei einer Gesamtwürdigung der Umstände – namentlich unter kombinierter Berücksichtigung der früheren Tätigkeit des Ehemannes der Beschwerdeführerin 2, des weiblichen Geschlechts der Beschwerdeführenden und auch der früheren Tätigkeiten der Beschwerdeführerin 2 – nicht von einer unmittelbaren, ernsthaften und konkreten Gefährdung der Beschwerdeführenden in Afghanistan auszugehen, die ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich machen würde. Gegen eine solche spricht zuletzt auch, dass die Beschwerdeführenden gemäss eigenen Angaben nach ihrer Rückschaffung von Pakistan nach Afghanistan von dort aus in den Iran ausgereist sind, ohne von den Taliban aufgegriffen worden zu sein.

10.

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass bei einer Rückkehr der Beschwerdeführenden in ihren Herkunftsstaat Afghanistan eine Gefahr für Leib und Leben im Sinne von Art. 4 Abs. 2 VEV und der diesbezüglichen Rechtsprechung zu verneinen ist.

11.

Unter diesen Umständen erübrigt sich die Prüfung, ob die Beschwerdeführenden in ihrem aktuellen Aufenthaltsstaat Iran der Gefahr einer zwangsweisen Rückschaffung nach Afghanistan ausgesetzt sind. Offenbleiben kann auch, wie es sich mit einer allfälligen Gefährdung im Aufenthaltsstaat Iran verhält.

12.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführenden die Voraussetzungen für die Ausstellung eines humanitären Visums nicht erfüllen. Die angefochtene Verfügung erweist sich somit im Lichte von Art. 49 VwVG als rechtmässig und die Beschwerde ist abzuweisen.

13.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten den unterliegenden Beschwerdeführenden aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Das mit der Beschwerde gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wurde jedoch mit Zwischenverfügung 22. März 2023 gutgeheissen. Es sind ihnen daher keine Verfahrenskosten aufzuerlegen. Eine Parteientschädigung fällt ausgangsgemäss ausser Betracht (Art. 64 Abs. 1 VwVG).

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

3.

Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.

Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden und die Vorinstanz.

Der vorsitzende Richter: Die Gerichtsschreiberin:

Sebastian Kempe Caroline Rausch

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