Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung IV |
Dossiernummer: | D-4344/2024 |
Datum: | 22.07.2024 |
Leitsatz/Stichwort: | Asyl und Wegweisung |
Schlagwörter : | Wegweisung; Bundesverwaltungsgericht; Vorinstanz; Rückkehr; Heimat; Verfügung; Recht; Türkei; Vollzug; Wegweisungsvollzug; Stiefvater; Heimatstaat; Schweiz; Beschwerdeführers; Vorbringen; Provinz; Flüchtlingseigenschaft; Behörde; Staat; Situation; Behandlung; Familie |
Rechtsnorm: | Art. 25 BV ;Art. 49 BV ;Art. 52 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 65 VwVG ;Art. 83 AIG ;Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: |
Abteilung IV D-4344/2024
Besetzung Einzelrichterin Contessina Theis,
mit Zustimmung von Richter Lorenz Noli; Gerichtsschreiberin Aglaja Schinzel.
Parteien A. , geboren am (…), Türkei,
vertreten durch Marek Wieruszewski, (…), Beschwerdeführer,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl und Wegweisung;
Verfügung des SEM vom 6. Juni 2024 / N (…).
Der Beschwerdeführer – ein minderjähriger türkischer Staatsangehöriger kurdischer Ethnie – verliess gemäss eigenen Angaben seinen Heimatstaat am 4. November 2023 und reiste am 10. November 2023 in die Schweiz ein, wo er am 14. November 2023 um Asyl nachsuchte.
Anlässlich der Erstbefragung für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (EB UMA) vom 22. Januar 2024 und der gleichentags durchgeführten Anhörung erklärte der Beschwerdeführer im Wesentlichen, er sei kurdischer Alevite und stamme aus B. , Provinz Gaziantep, wobei er die meiste Zeit seines Lebens in C. gelebt habe. Er sei bei seiner Mutter und seinem Stiefvater aufgewachsen. Ein Halbbruder würde bei einem Onkel leben, zwei Halbschwestern bei den Eltern. Das Haus seiner Eltern sei durch das Erdbeben in der Türkei zerstört worden, in der Folge habe die Familie in einem Containerdorf gelebt. Da der Stiefvater ihn oft verprügelt habe, habe er sich selten zu Hause aufgehalten und oft in der Autowerkstatt seines Arbeitgebers geschlafen. Seinen leiblichen Vater kenne er nicht, sein Stiefvater habe ihn adoptiert. Er habe die Schule für seine Ausreise in die Schweiz in der zwölften Klasse abgebrochen, wobei er seit der
Klasse ein Ferngymnasium besucht und bereits seit der 5. Klasse gearbeitet habe.
Zur Begründung seines Asylgesuchs machte der Beschwerdeführer geltend, sein Stiefvater habe von ihm verlangt, die Schule abzubrechen und ihn gezwungen, mit ihm auf dem Markt zu arbeiten. Er habe ihn regelmässig verprügelt, weshalb er sich oft in der Werkstatt, wo er gearbeitet habe, aufgehalten habe. Dort seien aber immer wieder Razzien durchgeführt worden, weil sein Chef, der Besitzer, Kurde sei. Der Beschwerdeführer sei anlässlich einer solchen Razzia einmal auf die Wache mitgenommen worden. Er habe auch die religiöse Gedenkstätte Cemevi und das Kulturzentrum der HDP regelmässig besucht. Dort seien ebenfalls Razzien durchgeführt worden, wobei er einmal verprügelt und auf die Wache mitgenommen worden sei. Ferner habe er in den sozialen Medien Posts über das Kurdentum und das Alevitentum geteilt und sei schliesslich deswegen ausgereist. Zwei Tage nach seiner Ausreise habe die Polizei bei seiner Familie eine Razzia durchgeführt und nach ihm gefragt. Bei einer Rückkehr befürchte er, wegen seiner Posts festgenommen zu werden. Weiter machte der Beschwerdeführer gesundheitliche Probleme geltend, so habe er
Probleme beim Atmen und Spuren der körperlichen Misshandlung. Auch psychisch gehe es ihm nicht gut.
Mit Verfügung vom 16. Mai 2024 – eröffnet am 10. Juni 2024 – lehnte das SEM das Asylgesuch des Beschwerdeführers ab, ordnete die Wegweisung aus der Schweiz an und verfügte den Vollzug derselben.
Mit Eingabe seines Rechtsvertreters vom 4. Juli 2024 erhob der Beschwerdeführer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Darin wurde beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben, dem Beschwerdeführer sei die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihm sei Asyl zu gewähren, eventualiter sei die Unzulässigkeit und Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs festzustellen und die Vorinstanz sei anzuweisen, den Beschwerdeführer vorläufig aufzunehmen.
In prozessualer Hinsicht wurde beantragt, dem Beschwerdeführer sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und es sei von der Erhebung eines Kostenvorschusses abzusehen.
Die vorinstanzlichen Akten lagen dem Bundesverwaltungsgericht am
Juli 2024 in elektronischer Form vor (vgl. Art. 109 Abs. 2 AsylG). Gleichentags bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Eingang der Beschwerde.
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls – in der Regel und auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG [SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 2 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).
Über offensichtlich unbegründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden (Art. 111 Bst. e AsylG). Wie nachstehend aufgezeigt wird, handelt es sich um ein solches Rechtsmittel, weshalb das Urteil nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG).
Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.
Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden (Art. 3 Abs. 1 AsylG). Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken (Art. 3 Abs. 2 AsylG).
Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG).
Die Vorinstanz stellte im angefochtenen Entscheid im Wesentlichen fest, Übergriffe durch Dritte oder Befürchtungen, künftig solchen ausgesetzt zu sein, seien nur dann flüchtlingsrechtlich relevant, wenn der Staat nicht schutzwillig oder schutzfähig sei. Zwar sei die familiäre Situation des Beschwerdeführers sicherlich schwierig und belastend, jedoch handle es sich dabei nicht um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung und der Beschwerdeführer habe sich an die Behörden wenden können, um Schutz zu beantragen. Ausserdem sei es ihm selbst gelungen, sich der Situation zu entziehen, indem er eine Arbeit gefunden und seitens seines Arbeitgebers Unterstützung erhalten habe. Ferner sei er auch von einem Onkel sowie soweit möglich von seiner Mutter unterstützt worden. Betreffend die politischen Vorbringen führte die Vorinstanz aus, er habe geltend gemacht, zweimal im Rahmen von Razzien mitgenommen worden zu sein, wobei ihm beim letzten Mal gesagt worden sei, er solle nicht mehr posten. Hätten die Behörden ein ernsthaftes Interesse an seiner Person gehabt, wäre es kaum bei einer Verwarnung geblieben. Ausserdem habe er keinerlei Dokumente eingereicht, die auf laufende Ermittlungen oder gar eine Fahndung hindeuten würden und es handle sich um eine reine Mutmassung seinerseits, dass er bei einer Rückkehr festgenommen würde. Es sei somit nicht davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr etwas zu befürchten hätte. Ferner würden auch Zweifel an der Glaubhaftigkeit der diesbezüglichen Aussagen bestehen, zumal er nicht nachvollziehbar und substanziiert habe erklären können, wie es zu seinem Engagement für die HDP gekommen sei und was er dort genau gemacht habe. Auf den sozialen Medien würden sich ausserdem keine entsprechenden Einträge finden. Seine Vorbringen würden somit den Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG nicht standhalten, weshalb sein Asylgesuch abgewiesen werde.
Dem wurde in der Beschwerde entgegengehalten, der Beschwerdeführer sei als ethnischer Kurde und Alevit aus der Provinz Gaziantep in der Türkei vielfältigen Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt gewesen. Sein Stiefvater habe ihn körperlich und psychisch misshandelt, was schwere traumatische Erfahrungen hinterlassen habe. Ferner sei er mehrmals Opfer von polizeilicher Gewalt geworden. Seine politischen Aktivitäten hätten ihn in den Fokus der türkischen Behörden gerückt.
Nach Prüfung der Akten gelangt das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass die angefochtene Verfügung zu stützen ist. Die Vorinstanz
ist darin mit ausführlicher, ausgewogener und überzeugender Begründung zum Schluss gelangt, dass die Vorbringen des Beschwerdeführers weder den Anforderungen an die flüchtlingsrechtliche Relevanz noch – in Bezug auf die politischen Aktivitäten – denjenigen an die Glaubhaftigkeit standhalten. Die Beschwerde vermag dem nichts entgegenzusetzen, was zu einer anderen Einschätzung führen würde, zumal sich die dortigen Ausführungen in einer kurzen Zusammenfassung seiner Vorbringen erschöpfen. Insbesondere ist die Vorinstanz in ihren Ausführungen zu stützen, wonach die Vorbringen betreffend den gewalttätigen Stiefvater nicht asylrelevant sind. Auch in Bezug auf die politischen Vorbringen ist mit dem SEM festzuhalten, dass diese sehr niederschwellig ausgefallen sein dürften, zumal es dem Beschwerdeführer weder gelingt, sich ausführlich dazu oder zu seiner politischen Motivation zu äussern, noch allfällig heikle Posts in den sozialen Medien ersichtlich sind. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann daher vollumfänglich auf die zutreffenden Erwägungen des SEM verwiesen werden (vgl. angefochtene Verfügung Ziff. II).
Gesamthaft betrachtet ist es dem Beschwerdeführer daher nicht gelungen, eine Verfolgung im Heimatstaat im Sinne von Art. 3 AsylG glaubhaft zu machen. Das SEM hat demzufolge die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers zu Recht verneint und das Asylgesuch folgerichtig abgelehnt.
Lehnt das SEM das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit der Familie (Art. 44 AsylG).
Der Beschwerdeführer verfügt insbesondere weder über eine ausländerrechtliche Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Erteilung einer solchen. Die Wegweisung wurde demnach ebenfalls zu Recht angeordnet (vgl. BVGE 2013/37 E. 4.4; 2009/50 E. 9, je m.w.H.).
Beim Geltendmachen von Wegweisungsvollzugshindernissen gilt gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts der gleiche Beweisstandard wie bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft; das heisst, sie sind zu beweisen, wenn der strikte Beweis möglich ist, und andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (vgl. BVGE 2011/24 E. 10.2 m.w.H.).
Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunftsoder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83 Abs. 3 AIG).
So darf keine Person in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land gezwungen werden, in dem ihr Leib, ihr Leben oder ihre Freiheit aus einem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet ist oder in dem sie Gefahr läuft, zur Ausreise in ein solches Land gezwungen zu werden (Art. 5 Abs. 1 AsylG; vgl. ebenso Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [FK, SR 0.142.30]).
Gemäss Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (FoK, SR 0.105) und der Praxis zu Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Die Vorinstanz wies in ihrer angefochtenen Verfügung zutreffend darauf hin, dass das Prinzip des flüchtlingsrechtlichen Non-Refoulement nur Personen schützt, die die Flüchtlingseigenschaft erfüllen. Da es dem Beschwerdeführer nicht gelungen ist, eine asylrechtlich erhebliche Gefährdung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen, kann der in Art. 5 AsylG verankerte Grundsatz der Nichtrückschiebung im vorliegenden Verfahren keine Anwendung finden. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in den Heimatstaat ist demnach unter dem Aspekt von Art. 5 AsylG rechtmässig.
Sodann ergeben sich weder aus den Aussagen des Beschwerdeführers noch aus den Akten Anhaltspunkte dafür, dass er für den Fall einer Ausschaffung in den Heimatstaat dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer nach Art. 3 EMRK oder Art. 1 FoK verbotenen Strafe oder Behandlung ausgesetzt wäre. Gemäss der Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie jener des UN-Anti-Folterausschusses müsste der Beschwerdeführer eine konkrete Gefahr ("real
risk") nachweisen oder glaubhaft machen, dass ihm im Fall einer Rückschiebung Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde (vgl. Urteil des EGMR Saadi gegen Italien vom 28. Februar 2008, Grosse Kammer 37201/06, §§ 124–127 m.w.H.). Nach den vorstehenden Ausführungen gelingt ihm das nicht. Wie den nachfolgenden Erwägungen entnommen werden kann, liegt auch keine Verletzung der Bestimmungen des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (nachfolgend: Kinderrechtskonvention, KRK; SR 0.107) vor. Schliesslich lässt auch die allgemeine Menschenrechtssituation im Heimatstaat den Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt nicht als unzulässig erscheinen.
Nach dem Gesagten ist der Vollzug der Wegweisung sowohl im Sinne der asylals auch der völkerrechtlichen Bestimmungen zulässig.
Gemäss Art. 83 Abs. 4 AIG kann der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimatoder Herkunftsstaat aufgrund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AIG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verpflichten Art. 3 und 22 der KRK die asylrechtlichen Behörden das Kindeswohl im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung als gewichtigen Aspekt zu berücksichtigen. Das SEM ist bezüglich unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender verpflichtet insbesondere abzuklären, ob diese zu ihren Eltern oder anderen Angehörigen zurückgeführt werden können und ob jene in der Lage sind, ihre Bedürfnisse abzudecken (vgl. BVGE 2021 VI/3 m.w.H.).
Zur Begründung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs führte die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung an, weder die in der Türkei herrschende politische Situation noch andere Gründe würden gegen die Zumutbarkeit einer Rückführung dorthin sprechen. Namentlich herrsche – auch nach der Niederschlagung des Militärputschversuches vom 15./16. Juli 2016 keine landesweite Situation allgemeiner Gewalt, welche einen Wegweisungsvollzug in die Türkei als generell unzumutbar erscheinen lassen würde.
Anfang Februar 2023 führten schwere Erdbeben im Südosten der Türkei zu Tausenden von Todesopfern und zur Zerstörung weiter Teile der
Infrastruktur. In der Folge verhängte der türkische Staatspräsident Erdogan den Ausnahmezustand in den elf betroffenen Provinzen. Am 9. Mai 2023 wurde der für die betroffenen Provinzen ausgerufene Ausnahmezustand vom türkischen Staatspräsidenten aufgehoben. Aufgrund der aktuellen Lage in den von den Erdbeben betroffenen Provinzen sei die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs in die betroffenen Provinzen im Einzelfall zu prüfen (vgl. Referenzurteil des BVGer E-1308/2023 vom 19. März 2024 E. 11.2.7/11.3.1).
Aus dem Prinzip des übergeordneten Kindeswohls lasse sich zwar kein Recht auf eine Aufenthaltsbewilligung oder eine vorläufige Aufnahme ableiten, jedoch müsse das Kindeswohl bei der Interessensabwägung im Rahmen der Prüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs berücksichtigt werden. Vorliegend sei – aufgrund der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers – daher zu prüfen, ob er bei einer Rückkehr in angemessener Weise von einem Familienmitglied oder subsidiär von Dritten beziehungsweise durch eine adäquate Einrichtung angemessene Betreuung erhalten würde. Vorliegend sei vom Bestehen eines tragfähigen familiären Netzwerks auszugehen, welches den Beschwerdeführer bei der Rückkehr unterstützen und Hilfe gewähren könne. So verfüge er über eine gute Schulbildung sowie Arbeitserfahrung. Er habe eine Ausbildung als Automechaniker gemacht und sei als solcher tätig gewesen. Zu seinem damaligen Chef habe er ein sehr gutes Verhältnis gehabt und sei von diesem unterstützt worden. Ausserdem pflege er ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter und verfüge über einen Onkel, welcher ihn ebenfalls unterstütze. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände sei davon auszugehen, dass er trotz seiner familiären Probleme ein stabiles Beziehungsnetz im Heimatland habe, welches ihn bei seiner Rückkehr empfangen und unterstützen könne. In der Folge sei der Vollzug der Wegweisung zumutbar, zumal auch keine Hinweise auf eine medizinische Notlage bestünden und er in seiner Heimat bereits früher Zugang zu medizinischer Behandlung gehabt habe. Es stehe ihm frei, hierfür medizinische Rückkehrhilfe zu beantragen.
In der Beschwerde wird demgegenüber geltend gemacht, für eine medizinische Behandlung würden ihm die finanziellen Mittel fehlen und sein soziales Umfeld könne ihn nicht unterstützen. In der Schweiz könnten die «best interests oft he child» besser gewahrt werden als in der Türkei. Ausserdem würden ihm bei einer Rückkehr erneut Misshandlungen durch den Stiefvater sowie durch die Polizei drohen. Es handle sich um eine systematische Benachteiligung, wobei der türkische Staat nicht schutzfähig sei. Ferner fehle es an einem stabilen Familiennetz. Sein Onkel und sein
Chef könnten keine kontinuierliche Unterstützung leisten. Vor diesem Hintergrund erscheine der Wegweisungsvollzug insgesamt als unzumutbar.
Nach Durchsicht der Akten stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die vorinstanzlichen Erwägungen nicht zu beanstanden sind. Der Beschwerdeführer macht geltend, Kontakt und ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter und weiteren Verwandten in der Türkei zu haben. Auch wenn sich die Situation mit dem Stiefvater schwierig gestaltet, ist es ihm zuzumuten, entsprechende Hilfe zu suchen um sich diesem zu entziehen (was ihm offensichtlich in der Vergangenheit bereits gelungen ist). In der Folge ist mit der Vorinstanz vom Bestehen eines tragfähigen familiären Netzes auszugehen; Hinweise auf eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls sind hingegen nicht ersichtlich.
Schliesslich besteht auch keine medizinische Notlage, zumal der Beschwerdeführer angab, bereits früher Zugang zum Gesundheitssystem gehabt zu haben. Auch finden sich in den Akten keine Belege für eine allfällige medizinische Notlage. Betreffend die finanziellen Herausforderungen bei der Gesundheitsversorgung in der Türkei ist er erneut auf die Möglichkeit der medizinischen Rückkehrhilfe aufmerksam zu machen (vgl. Art. 93 Abs. 1 Bst. d AsylG, Art. 75 der Asylverordnung 2 über Finanzierungsfragen vom 11. August 1999 [AsylV 2, SR 142.312]).
Nach dem Gesagten erweist sich der Vollzug der Wegweisung auch als zumutbar.
Schliesslich obliegt es dem Beschwerdeführer, sich bei der zuständigen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr notwendigen Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG und dazu auch BVGE 2008/34 E. 12), weshalb der Vollzug der Wegweisung auch als möglich zu bezeichnen ist (Art. 83 Abs. 2 AIG).
Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Wegweisungsvollzug zu Recht als zulässig, zumutbar und möglich bezeichnet. Eine Anordnung der vorläufigen Aufnahme fällt somit ausser Betracht (Art. 83 Abs. 1–4 AIG).
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig sowie vollständig feststellt (Art. 106 Abs. 1 AsylG) und – soweit diesbezüglich überprüfbar – angemessen ist. Die Beschwerde ist abzuweisen.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ist ungeachtet der geltend gemachten prozessualen Bedürftigkeit abzuweisen, da sich die Beschwerdebegehren entsprechend den vorstehenden Erwägungen als aussichtslos erwiesen haben (Art. 65 Abs. 1 VwVG). Angesichts des direkten Entscheids in der Sache erweist sich der Antrag auf Verzicht der Erhebung eines Kostenvorschusses als gegenstandslos.
Demzufolge wären die Verfahrenskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Aufgrund seiner Minderjährigkeit ist gestützt auf Art. 6 Bst. b des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) indessen auf die Erhebung von Verfahrenskosten zu verzichten.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wird abgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.
Die Einzelrichterin: Die Gerichtsschreiberin:
Contessina Theis Aglaja Schinzel
Versand:
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