Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung II |
Dossiernummer: | B-5393/2019 |
Datum: | 28.01.2020 |
Leitsatz/Stichwort: | Übriges |
Schlagwörter : | Vorinstanz; Zwangsmassnahme; Zwangsmassnahmen; AFZFG; Fremdplatzierung; Fremdplatzierungen; Bundesverwaltungsgericht; Verfügung; Recht; Bundesgesetz; Gesuch; Behörde; Opfer; Bundesgesetzes; Aufarbeitung; Parteien; Geltungsbereich; Verfahren; Wiedergutmachung; Schweiz; Richter; Justiz; Solidaritätsbeitrag; Vorfälle; ätten |
Rechtsnorm: | Art. 48 BGG ;Art. 48 VwVG ;Art. 52 VwVG ;Art. 63 VwVG ;Art. 64 VwVG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | - |
Abteilung II B-5393/2019
Besetzung Richter Christian Winiger (Vorsitz),
Richter Jean-Luc Baechler, Richterin Eva Schneeberger, Gerichtsschreiber Reto Finger.
Parteien A. ,
( ),
( ),
Beschwerdeführer,
gegen
Bundesrain 20,
3003 Bern, Vorinstanz.
Gegenstand Solidaritätsbeitrag für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981.
Am 13. Dezember 2017 reichte A. (nachfolgend: Beschwerdeführer) ein Gesuch um Gewährung eines Solidaritätsbeitrags für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 ein. Zur Begründung verwies der Beschwerdeführer unter anderem auf Erlebnisse im kantonalen Jugendheim Platanenhof, in der Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain sowie in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen, die er als Jugendlicher habe erdulden müssen. Der Beschwerdeführer führte in umfangreichen Schreiben sinngemäss und zusammenfassend aus, in diesen Institutionen regelmässig in seiner physischen und psychischen Integrität misshandelt worden zu sein. Die Vorfälle hätten sich zwar alle nach 1981 ereignet. Jedoch sei es eine Illusion zu glauben, dass die Misshandlungen in den entsprechenden Institutionen mit den neuen Bestimmungen zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung im Jahr 1981 von einem Tag auf den anderen aufgehört hätten. Dem Beschwerdeführer sei ab 1984 massives Leid zugefügt worden, welches, mindestens unter menschlichen Gesichtspunkten, ebenfalls zu entschädigen sei, auch wenn sich die Vorfälle erst nach 1981 zugetragen hätten.
Mit Verfügung vom 20. September 2019 trat das Bundesamt für Justiz (nachfolgend: Vorinstanz) nicht auf das Gesuch ein. Die Vorinstanz verwies dabei auf die eingereichten Unterlagen und die mit dem Beschwerdeführer geführten Telefonate, aus denen hervorgehe, dass die entsprechenden Vorfälle allesamt nach 1981 erfolgt seien und somit ausserhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 liegen würden. Für einen Solidaritätsbeitrag für Ereignisse nach 1981, wie dies der Beschwerdeführer fordere, fehle es an einer gesetzlichen Grundlage.
Gegen diese Verfügung der Vorinstanz vom 20. September 2019 erhob der Beschwerdeführer am 11. Oktober 2019 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und wies erneut darauf hin, dass die Misshandlungen keinesfalls im Jahr 1981 aufgehört hätten. Zusätzlich reichte der Beschwerdeführer weitere Unterlagen aus dem Staatsarchiv Thurgau ins Recht, insbesondere Protokolle der Vormundschaftsbehörde Horn, welche sich auf den Zeitraum 1984 bis 1988 beziehen.
Am 18. Oktober 2019 stellte der Beschwerdeführer ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege.
Mit Eingabe vom 18. November 2019 reichte die Vorinstanz die gesamten Akten ein. Mit dem Verweis auf den zeitlichen Geltungsbereich des Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 verzichtete die Vorinstanz auf eine weitere Stellungnahme.
Mit einer unaufgeforderten Eingabe vom 28. November 2019 liess der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht Screenshots von Zeitungsartikeln und Leserkommentaren zum Thema "Verdingkinder" zukommen.
Auf die weiteren Ausführungen der Parteien wird, soweit erforderlich, in den nachfolgenden Erwägungen Bezug genommen.
Das Bundesverwaltungsgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind und ob auf die Beschwerde einzutreten ist (Urteil des BVGer B-3797/2015 vom 13. April 2016 E.1.1, auszugsweise publiziert in BVGE 2017/IV/4; BVGE 2007/6 E.1, je mit Hinweisen).
Gemäss Art. 31 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (VGG, SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG, SR 172.021), sofern sie von Behörden erlassen wurden, die gemäss Art. 33 VGG als Vorinstanzen gelten und überdies keine Ausnahme nach Art. 32 VGG vorliegt. Das Bundesamt für Justiz gehört zu den Behörden nach Art. 33 Bst. d VGG und ist daher Vorinstanz im Sinne des Gesetzes.
Nach Art. 32 Abs. 2 Bst. a VGG ist die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht unzulässig, wenn die angefochtene Verfügung nach einem anderen Bundesgesetz durch Einsprache oder durch Beschwerde an eine Behörde im Sinne von Art. 33 Bst. c bis f VGG anfechtbar ist.
Nach Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 30. September 2016 über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG, SR 211.223.13) können Beschwerdeführer, deren Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag von der Vorinstanz abgelehnt
wurde, innert 30 Tagen Einsprache bei der zuständigen Behörde erheben. Art. 6 Abs. 3 Bst. a der Verordnung vom 15. Februar 2017 zum Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen (AFZFV, SR 211.223.131) sieht vor, dass ein Gesuch dann offensichtlich unbegründet ist, wenn die angegebene fürsorgerische Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung klar ausserhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des AFZFG liegt.
Die Vorinstanz trat mit ihrer Verfügung vom 20. September 2019 nicht auf das Gesuch des Beschwerdeführers ein. Sie verwies dabei auf den vom Gesuchsteller geschilderten Sachverhalt, welcher sich nach 1981 zugetragen habe.
Art. 6 Abs. 3 Bst. a AFZFV hätte aber bei einer solchen Ausgangslage eine materielle Prüfung bzw. die Abweisung des Gesuches erfordert, wogegen dem Beschwerdeführer die Möglichkeit der Einsprache bei der Vorinstanz (Art. 8 Abs. 1 AFZFG) und nicht die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Art. 32 Abs. 2 Bst. a VGG) offen gestanden hätte (vgl. zum Ganzen: Botschaft vom 4. Dezember 2015 zur Volksinitiative «Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen [Wiedergutmachungsinitiative]» und zum indirekten Gegenvorschlag [Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981], BBl 2016 129).
Auf eine Rückweisung an die Vorinstanz ist trotzdem mit Verweis auf prozessökonomische Überlegungen ausnahmsweise zu verzichten. Der von der Vorinstanz vertretene Standpunkt ist bekannt. In den eingereichten Akten und den Stellungnahmen der Vorinstanz gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vorinstanz ihre Position ändern würde, wenn sie erneut über die Sache zu befinden hätte, weshalb eine Rückweisung unter diesen
besonderen Umständen einem "Leerlauf" gleichkäme (vgl. dazu MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 2. Aufl. 2013, S. 51 Rz. 2.56).
Zur Beschwerde ist nach Art. 48 Abs. 1 VwVG berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen hat oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat, durch die angefochtene Verfügung besonders berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Abänderung hat. Der Beschwerdeführer ist als Adressat der angefochtenen Verfügung zur Beschwerde legitimiert.
Die Eingabefrist sowie die Anforderungen an Form und Inhalt der Beschwerdeschrift sind gewahrt (Art. 50 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 VwVG).
Auf die Beschwerde ist daher einzutreten.
Die angefochtene Verfügung ist Ausgangspunkt des Beschwerdeverfahrens. Streitgegenstand ist das Rechtsverhältnis, welches den Gegenstand der angefochtenen Verfügung bildet, und zwar in dem Ausmass, als die Regelung des Rechtsverhältnisses nach den Parteianträgen des Beschwerdeverfahrens noch streitig ist (BVGE 2009/37 E. 1.3.1). Beschwerdebegehren, die neue, in der angefochtenen Verfügung nicht geregelte Fragen aufwerfen, überschreiten den Streitgegenstand und sind deshalb unzulässig (SEETHALER/ PORTMANN, in: Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], Praxiskommentar VwVG, 2. Aufl. 2016, N 38 zu Art. 52). Soweit der Beschwerdeführer sinngemäss eine Entschädigung geltend machen wollte, welche sich auf eine andere gesetzliche Grundlage als das AFZFG stützt, so könnte ein solcher Anspruch nicht im vorliegenden Verfahren geprüft werden.
Der Beschwerdeführer macht sinngemäss geltend, die Missstände bei den für die administrativen Versorgungen zuständigen Behörden seien nicht im Jahr 1981 beseitigt gewesen. Er selber sei in den Jahren 1984 bis 1988 mehrfach Opfer von widerrechtlich erfolgten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen gewesen. Eine Verlängerung des zeitlichen Geltungsbereichs des AFZFG über das Jahr 1981 hinaus würde es auch ihm ermöglichen, eine Entschädigung für das ihm zugeführte Leid zu beantragen.
Das AFZFG bezweckt die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 zugefügt worden ist (Art. 1 Abs. 1 AFZFG). Es gilt auch für Personen, die von Massnahmen betroffen waren, welche vor 1981 veranlasst, aber erst danach vollzogen worden sind (Art. 1 Abs. 2 AFZFG). Ganz allgemein gilt das AFZFG für alle Menschen, die in der Schweiz, gestützt auf vor dem 1. Januar 1981 geltendes kantonales-öffentliches Recht, auf Art. a406 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. Dezember 1907 (ZGB, AS 24 233) oder Art. a89 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. Dezember 1937 (StGB, AS 54 757), durch eine kantonale oder kommunale Behörde einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme (Art. 2 Bst. a AFZFG) unterzogen oder fremdplatziert (Art. 2 Bst. b AFZFG) wurden. Das Gesetz ist somit nur anwendbar auf fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, welche vor dem 1. Januar 1981 angeordnet wurden. An diesem Stichdatum traten die neuen Bestimmungen des ZGB zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung in Kraft. Die Abgrenzung ist deshalb erforderlich, weil der Gesetzgeber ausschliessen wollte, dass Anordnungen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen nach 1981 - unabhängig von ihrem möglichen Unrechtsgehalt - ebenfalls unter das AFZFG fallen (vgl. zum Ganzen: Botschaft vom 4. Dezember 2015 zur Volksinitiative
«Wiedergutmachung für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen [Wiedergutmachungsinitiative]» und zum indirekten Gegenvorschlag [Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981], BBl 2016 122).
Aus den vom Beschwerdeführer eingereichten Unterlagen geht hervor, dass die Fremdplatzierungen und Zwangsmassnahmen, welche dem Beschwerdeführer widerfahren sind, allesamt nach 1981 veranlasst und umgesetzt wurden: So ordnete beispielsweise die zuständige kantonale Behörde ( ) 1984 die Einweisung des Beschwerdeführers in die geschlossene Abteilung des kantonalen Jugendheims Platanenhof an. ( ) 1985 erfolgte der Beschluss zur Überweisung in die Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain, in die der Beschwerdeführer ( ) 1985 eintrat. ( ) 1985 wurde ein Entlassungsoder Versetzungsgesuch abgelehnt, worauf ( ) 1986 die Einweisung des Beschwerdeführers in die Psychiatrische Klinik in Münsterlingen erfolgte. Die umfangreichen Zwischenund Abschlussberichte der jeweiligen Institutionen machen unter anderem deutlich - was vom Beschwerdeführer im Übrigen auch nicht bestritten wird - dass die jeweiligen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen allesamt nach 1981 stattfanden.
Zusammenfassend ging damit die Vorinstanz zu Recht davon aus, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Vorfälle ab 1984 nicht unter den zeitlichen Geltungsbereich des AFZFG fallen. Die Beschwerde ist abzuweisen.
Auf die Auferlegung von Verfahrenskosten wird ausnahmsweise verzichtet (Art. 63 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 6 Bst. b des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]), auch weil das Verfahren bei Anwendung einer formalistischen Strenge an die Vorinstanz hätte zurückgewiesen werden müssen (vgl. E. 1.3 hiervor). Der Antrag auf unentgeltliche Prozessführung ist dadurch gegenstandlos geworden.
Dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer, welcher auch keine Parteientschädigung geltend macht, ist praxisgemäss keine Parteientschädigung zuzusprechen (vgl. Art. 64 Abs. 1 VwVG e contrario und Art. 7 Abs. 4 VGKE).
Gemäss Art. 83 Bst. x des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG, SR 173.110) ist die Beschwerde an das Bundesgericht gegen Entscheide betreffend die Gewährung von Solidaritätsbeiträgen nach dem AFZFG nur dann zulässig, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt oder aus anderen Gründen ein besonders wichtiger Fall vorliegt.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
Dieses Urteil geht an:
den Beschwerdeführer (Gerichtsurkunde)
die Vorinstanz (Ref-Nr. F-17-3968-1; Gerichtsurkunde)
das Eidgenössische Justizund Polizeidepartement EJPD (Gerichtsurkunde)
Für die Rechtsmittelbelehrung wird auf die nächste Seite verwiesen.
Der vorsitzende Richter: Der Gerichtsschreiber:
Christian Winiger Reto Finger
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach Eröffnung beim Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten geführt werden, sofern die Voraussetzungen gemäss Art. 82 ff., 90 ff. und 100 BGG gegeben sind. Die Frist ist gewahrt, wenn die Beschwerde spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben worden ist (Art. 48 Abs. 1 BGG). Die Rechtsschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten. Der angefochtene Entscheid und die Beweismittel sind, soweit sie die beschwerdeführende Partei in Händen hat, beizulegen (Art. 42 BGG).
Versand: 29. Januar 2020
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