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Bundesverwaltungsgericht Urteil BVGE 2015/30

Urteilsdetails des Bundesverwaltungsgerichts BVGE 2015/30

Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung V
Dossiernummer:BVGE 2015/30
Datum:01.09.2015
Leitsatz/Stichwort:Vollzug der Wegweisung
Schlagwörter : Kinder; Kindes; Mutter; Recht; Schweiz; Beschwerde; Kindeswohl; Verfügung; Wegweisung; Vorinstanz; Beschwerdeführerinnen; Wiedererwägung; Serbien; Behörde; Rechtsprechung; Entscheid; Behörden; Wegweisungsvollzug; Wegweisungsvollzugs; Sachverhalt; Verfahren; Bundesverwaltungsgericht; Kindeswohls; Familie; Aufenthalt
Rechtsnorm: Art. 22 KRK ;Art. 308 ZGB ;Art. 31 ZGB ;Art. 48 VwVG ;Art. 49 VwVG ;Art. 61 VwVG ;
Referenz BGE:112 Ib 183
Kommentar:
-

Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts

30

Auszug aus dem Urteil der Abteilung V

i. S. A. und B. gegen Staatssekretariat für Migration

E4596/2015 vom 1. September 2015

Beschwerde durch zwei Kinder gegen einen abweisenden Wiedererwägungsentscheid des Staatssekretariats für Migration. Verhalten der im ordentlichen Verfahren noch beteiligt gewesenen Mutter als Wiedererwägungsgrund. Mangelnde Berücksichtigung des Kindeswohls und ungenügende Sachverhaltsabklärung für die Beurteilung der Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs.
Art. 69 Abs. 4 und Art. 83 Abs. 4 AuG. Art. 111b AsylG. Art. 3 KRK.
  1. Nichtbeachten der Rechtsprechung zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls für Kinder im Familienverbund (E. 7.2) und in analogiam derjenigen für unbegleitete Minderjährige (E. 7.3).
  2. Zur Ermittlung des Kindeswohls sind die Situation in der Schweiz und die konkret zu erwartende Unterbringung und Versorgung (in physischer und psychosozialer Hinsicht) im Heimatort abzuklären. Kassation wegen ungenügender Sachverhaltsfeststellung (E. 7.4 und 8).
Recours déposé par deux enfants contre une décision négative rendue en matière de réexamen par le Secrétariat d'Etat aux migrations. Comportement de la mère, alors partie à la procédure ordinaire, comme motif de réexamen. Défaut de prise en considération de l'intérêt supérieur de l'enfant et établissement insuffisant des faits pour juger de l'exécutabilité du renvoi.
Art. 69 al. 4 et art. 83 al. 4 LEtr. Art. 111b LAsi. Art. 3 CDE.
  1. Non-respect de la jurisprudence relative à la primauté de l'intérêt supérieur de l'enfant, pour les enfants vivant en milieu familial (consid. 7.2) et, par analogie, de celle ayant trait aux mineurs non accompagnés (consid. 7.3).
  2. Dans l'examen de l'intérêt supérieur de l'enfant, il convient de clarifier la situation en Suisse ainsi que les conditions d'hébergement et de prise en charge concrètes (sur les plans physique et
psychosocial) dans le pays d'origine. Cassation en raison de l'établissement insuffisant des faits (consid. 7.4 et 8).
Ricorso interposto da due figli contro una decisione di riesame negativa della Segreteria di Stato della migrazione. Comportamento della madre, allora parte al procedimento ordinario, quale motivo di riesame. Carente considerazione dell'interesse superiore del fanciullo e accertamento insufficiente dei fatti nel giudizio sull'esecuzione dell'allontanamento.
Art. 69 cpv. 4 e art. 83 cpv. 4 LStr. Art. 111b LAsi. Art. 3 Convenzione sui diritti del fanciullo.
  1. Inosservanza della giurisprudenza sulla considerazione prioritaria dell'interesse superiore del fanciullo per i minorenni in seno alla famiglia (consid. 7.2) e per analogia di quella dei minorenni non accompagnati (consid. 7.3).
  2. Per l'accertamento dell'interesse superiore del fanciullo vanno chiarite la situazione in Svizzera nonché le condizioni di alloggio e di presa a carico (dal punto di vista fisico e psicosociale) che ci si può concretamente attendere nel Paese d'origine. Cassazione per accertamento insufficiente dei fatti (consid. 7.4 e 8).

Die beiden minderjährigen Beschwerdeführerinnen verliessen ihren Heimatstaat Serbien zusammen mit ihrer Mutter am 14. Dezember 2013 und reisten am 15. Dezember 2013 in die Schweiz ein, wo sie gleichentags um Asyl nachsuchten.

Die gegen die ablehnende Verfügung des Bundesamtes für Migration (BFM; heute: Staatssekretariat für Migration, SEM) vom 22. Januar 2014, durch die Mutter der Beschwerdeführerinnen erhobene, alle drei Personen betreffende, Beschwerde vom 30. Januar 2014 wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 11. Februar 2014 abgewiesen.

Mit Schreiben vom 29. Mai 2014 gelangte eine sich mit Vollmacht der Mutter legitimierende Vertreterin an die Kindesund Erwachsenenschutzbehörde (KESB) des Aufenthaltskantons der Kinder mit einem im Namen der Mutter gestellten Gesuch um vorübergehende Vertretung der elterlichen Sorge, da diese sich in einem sehr schlechten physischen und psychischen Zustand befände. Die Kinder (Beschwerdeführerinnen) wurden am

18. Juni 2014 auf Wunsch der Mutter im Waisenhaus fremdplatziert. Die Mutter lebt seither alleine.

Mit Entscheid der KESB vom 6. November 2014 wurde für die beiden Beschwerdeführerinnen eine Erziehungsund Verfahrensbeistandschaft im Sinne von Art. 308 Abs. 1 und 2 ZGB errichtet.

Der von der KESB für die Beschwerdeführerinnen eingesetzte Verfahrensbeistand gelangte mit Eingabe vom 17. Dezember 2014 ans BFM und ersuchte in deren Namen um Wiedererwägung der Verfügung vom

22. Januar 2014.

Mit Verfügung vom 29. Juni 2015 am 1. Juli 2015 eröffnet wies das SEM das Wiedererwägungsgesuch ab und erklärte die Verfügung vom

22. Januar 2014 als rechtskräftig und vollstreckbar.

Dagegen erhoben die Beschwerdeführerinnen mit Eingabe vom 27. Juli 2015 beim Bundesverwaltungsgericht durch ihren Rechtsvertreter Beschwerde und beantragten die vollumfängliche Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung vom 29. Juni 2015 und die dementsprechende Feststellung der Nichtvollziehbarkeit ihrer Wegweisung sowie ihre vorläufige Aufnahme.

Das Gericht heisst die Beschwerde insoweit gut, als die Aufhebung der angefochtenen Verfügung wegen ungenügender Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz zur Beurteilung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs beantragt wird. Die Sache wird zur Wiederaufnahme des Verfahrens und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Aus den Erwägungen:

5.
    1. Das SEM begründete seinen abweisenden Entscheid einerseits mit der Verneinung der direkten Anwendbarkeit der Bestimmungen des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (KRK, SR 0.107), das heisst ihres sogenannten « self-executing »-Charakters. Auf eine Bestimmung eines von der Schweiz ratifizierten internationalen Übereinkommens könne nur dann direkt Bezug genommen werden, wenn die Norm inhaltlich hinreichend bestimmt und klar sei, um im Einzelfall die Grundlage eines konkreten Entscheides zu sein (unter Verweis auf BGE aus den 1980er-Jahren: BGE 112 Ib 183; 106 Ib 182 E. 3). Die erforderliche Bestimmtheit gehe vor allem blossen Programmartikeln ab. Sie fehle auch bei Bestimmungen, die eine Materie nur in Umrissen

      regeln oder blosse Leitgedanken enthalten würden, von denen sich der Gesetzgeber der vertragsschliessenden Staaten leiten lassen solle. Gemäss Botschaft vom 29. Juni 1994 betreffend den Beitritt der Schweiz zum Übereinkommen von 1989 über die Rechte des Kindes (BBl 1994 V 1, 20) seien die verschiedenen in der KRK enthaltenen Bestimmungen über den Schutz und die Unterstützung des Kindes im Allgemeinen zu wenig präzis, um einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch zu begründen. Zum Schutz und zur Unterstützung minderjähriger Asylsuchender und Flüchtlinge enthalte insbesondere Art. 22 KRK nur Programmsätze, wonach sich die Staaten verpflichten würden, einerseits im Rahmen des innerstaatlichen Rechts die geeigneten Massnahmen zu treffen und andererseits an den internationalen Bemühungen mitzuarbeiten, um die familiären Beziehungen dieser Personen zu bestimmen (unter Verweis auf Art. 20 KRK; BBl 1994 V 1, 49; CHRISTINA HAUSAMMANN, Die Konvention über die Rechte des Kindes und ihre Auswirkungen auf die schweizerische Rechtsordnung, 1991, S. 13 ff.; bzw. zur Anwendung von Art. 22 Abs. 2 KRK auf die abweichende, nicht näher begründete Meinung von NICOLAS WISARD, Les renvois et leur exécution en droit des étrangers et en droit d'asile, 1997,

      S. 432). Die Behörden seien folglich gehalten, die Tragweite der erwähnten Verpflichtungen im innerstaatlichen Recht zu konkretisieren. Diese Verpflichtungen seien gegenwärtig im Rahmen gewisser gesetzlicher und reglementarischer Normen im Ausländerund Asylrecht präzisiert (insb. Art. 83 AuG, SR 142.20; Art. 46 und Art. 17 Abs. 2bis AsylG, SR 142.31; Weisung des SEM betreffend Asylverfahren vom 1. Januar 2008, Ziff. 1.3, Stand 01.07.2015); im ZGB sei der Schutz der ausländischen Minderjährigen während ihres Aufenthaltes in der Schweiz ebenfalls geregelt. Diese Bestimmungen würden den internationalen Verpflichtungen der Schweiz genügen. Diese Programmsätze seien auch Leitgedanken für die schweizerischen Behörden in gesetzgeberischer und verwaltungsrechtlicher Hinsicht. Der Vollzug der Wegweisung sei somit nur dann unzulässig, wenn er auf einer Bestimmung des schweizerischen Rechts oder einer Behördenpraxis beruhe, die mit den allgemeinen Richtlinien der KRK, namentlich mit Art. 22, nicht vereinbar sei, was vorliegend nicht der Fall sei.

    2. Zum anderen stellte das SEM fest, dass die von den kantonalen Behörden eingeleiteten Verfahrensschritte, namentlich die Errichtung einer Beistandschaft und die Fremdplatzierung, auch von den serbischen Behörden ergriffen werden könnten, zumal Serbien über die entsprechenden Verwaltungsstellen verfüge. So stelle das Zentrum für Soziale Wohlfahrt des jeweiligen Wohnortes Informationen für die (Herkunfts-)Stadt, das

Dorf oder die Region zur Verfügung. Diese Zentren seien auch zuständig für die Versorgung und Unterstützung sozial benachteiligter Bürger, beispielsweise für die Versorgung und Betreuung benachteiligter Kinder ohne Eltern, eine Unterbringung in einer Wohlfahrtseinrichtung oder Pflegefamilie sowie allfällige Ausbildungshilfen und andere Sozialleistungen. In der betroffenen Region sei es zudem üblich, wenn immer möglich Lösungen im näheren und weiteren familiären Umfeld zu finden. Die jahrelange Unterstützung der Familie durch die serbische Sozialhilfe zeige sodann, dass die bestehenden Strukturen Serbiens greifen würden. Sodann seien die Beschwerdeführerinnen erst vor rund eineinhalb Jahren im Alter von zehn und sieben Jahren in die Schweiz eingereist. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt mit ihrer Mutter in Schweizer Asylunterkünften würden sie sich erst seit einem Jahr in geregelten Strukturen befinden. Angesichts dieses kurzen Zeitraumes und des jungen Alters der Beschwerdeführerinnen könne nicht von einer hiesigen Verwurzelung gesprochen werden. Die Wegweisung sei folglich auch unter diesem Aspekt zumutbar. « Fernerhin » sei eine begleitete Rückkehr der Familie sowie eine Empfangnahme und Weitervermittlung durch die Schweizer Vertretung vor Ort zu gegebener Zeit planbar. Angesichts dieser Ausführungen vermöge auch der durch die eingereichten Arztberichte belegte Gesundheitszustand der Mutter die Schlussfolgerung des SEM nicht zu beeinflussen.

Zusammenfassend würden keine Gründe vorliegen, welche die Rechtskraft der Verfügung vom 22. Januar 2014 beseitigen könnten. Das Wiedererwägungsgesuch sei deshalb abzuweisen.

6.
    1. Diesen vorinstanzlichen Erwägungen wird in der Beschwerde im Wesentlichen entgegengehalten, dass gemäss Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei der Prüfung der Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs gemäss Art. 83 Abs. 4 AuG das Kindeswohl zu beachten sei. Dies ergebe sich aus einer völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 3 Abs. 1 KRK und erfordere eine Prüfung sämtlicher Umstände, welche im Hinblick auf das Kindeswohl und den Wegweisungsvollzug wesentlich seien (m.H. auf BVGE 2009/51 E. 5.6 und 2009/28 E. 9.3.2).

    2. Ein im Zusammenhang mit dem Kindeswohl zu prüfender wesentlicher Umstand sei die grundlegende Änderung der gesundheitlichen Situation der Mutter seit Erlass der Verfügung vom 22. Januar 2014. Mangels Vollmacht der Mutter sei zwar kein Wiedererwägungsgesuch für sie eingereicht worden. Aktenkundig sei indes, dass ihr Gesundheitszustand sich in der Zwischenzeit derart verschlechtert habe, dass sie sich nicht

      mehr um ihre Kinder kümmern könne, was wiederum ein Wiedererwägungsgrund für die ganze Familie darstelle. Im angefochtenen Entscheid vom 29. Juni 2015 sei die Vorinstanz aber weder auf die Schwere der Krankheit eingegangen, noch habe sie deren Auswirkungen auf die Kinder geprüft, obwohl der Gesundheitszustand der Mutter unbestrittenermassen einen Einfluss auf die Situation der Kinder gehabt habe. Die Mutter sei aufgrund ihres Krankheitsbildes nicht in der Lage, sich in der Schweiz, geschweige denn in Serbien, um den Verbleib und die Betreuung der Kinder zu kümmern. Aufgrund dessen hätten die Beschwerdeführerinnen von der KESB « freiwillig » (mit Zustimmung der Mutter) im Waisenhaus untergebracht werden müssen. Dies bedeute, dass sich die Institutionen in Serbien ebenfalls von alleine einschalten müssten, um für das Kindeswohl zu sorgen, da die Mutter alleine offensichtlich nicht dazu in der Lage sei. Auch im Fall der Existenz geeigneter Institutionen im Heimatstaat sei fraglich, ob eine Unterbringung (freie Plätze im Heim etc.) tatsächlich erfolgen könne und wie die Betreuungssituation konkret ausgestaltet würde.

    3. Weitere zu prüfende Umstände seien ferner der Zeitpunkt der Einschulung, das Alter der Kinder sowie die Dauer des Schulbesuches und die sozialen Netzwerke in der Schweiz. ( ) In der Schweiz sei zum Schutz der Kinder und deren Wohl eine Beistandschaft angeordnet worden. Seither hätten sie sich kindgerecht entwickeln können, würden in die Schule gehen, Deutsch sprechen und hätten soziale Kontakte zu anderen Kindern. Auch wenn sie erst eineinhalb Jahre in der Schweiz seien, könne man von einer Verwurzelung der Kinder sprechen. Ausser der erhaltenen finanziellen Unterstützung durch die serbische Sozialhilfe hätten die serbischen Behörden seinerzeit nichts unternommen, um den Kindern zu helfen. Die Betreuungssituation in Serbien sei nicht geregelt und es gebe keine Hinweise, dass die Kinder dort mit ihrer Mutter in eine Wohnung oder ohne sie in ein Heim ziehen könnten. Würden sie nunmehr nach Serbien ausgeschafft, müssten sie mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder auf der Strasse leben, ohne dass Massnahmen zum Kindesschutz getroffen würden. Gemäss Art. 315 ZGB sei die Kindesschutzbehörde am Wohnort oder gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen zuständig. Die Zuständigkeit der KESB des derzeitigen Wohnund Aufenthaltsorts der Kinder könne somit erst beendet werden, wenn die serbischen Behörden Kindesschutzmassnahmen zur Wohnund Betreuungssituation ergreifen würden.

    4. Zusammenfassend habe sich die Schweiz trotz nicht direkter Anwendbarkeit der Bestimmungen der KRK mit der Ratifizierung verpflichtet, das Kindeswohl bei allen staatlichen Massnahmen zu beachten. Die besondere Bedürftigkeit von Kindern sei in der schweizerischen Gesetzgebung verankert, und ihnen müsse besonderer Schutz gewährt werden. Gemäss bundesverwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung müssten neue Tatsachen bei Wiederwägungsgesuchen unter dem Blickwinkel des Kindeswohls geprüft werden. Diese Prüfung habe die Vorinstanz nicht vorgenommen und lediglich darauf verwiesen, dass die KRK nicht anwendbar sei und es in Serbien grundsätzlich Institutionen gebe, welche sich um bedürftige Kinder kümmern würden. Das Kindeswohl sei vorliegend aber zweifellos betroffen und bedürfe einer näheren Prüfung. Die mit Wiedererwägungsgesuch vom 17. Dezember 2014 vorgebrachte Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs aufgrund der Beachtung des Kindeswohls müsse demnach durch die Vorinstanz materiell beurteilt werden.

7.
    1. Das Bundesverwaltungsgericht stellt nach Würdigung der Akten zunächst fest, dass eine ausserordentliche Fallkonstellation vorliegt.

      Zu Recht ist die Mutter der Beschwerdeführerinnen vom SEM mangels eigenen Gesuchs oder Bevollmächtigung eines Rechtsvertreters formell nicht als Gesuchstellerin in das Wiedererwägungsgesuch einbezogen worden; sie hat mithin am vorinstanzlichen Wiedererwägungsverfahren nicht teilgenommen und wäre auch nicht legitimiert, im Sinne von Art. 48 Abs. 1 Bst. a VwVG Beschwerde zu erheben. Beschwerde gegen den abweisenden Wiedererwägungsentscheid vom 29. Juni 2015 führen somit lediglich die beiden Kinder.

      Es ist aber festzustellen, dass die Mutter im ordentlichen Asylverfahren Beteiligte war, und dass sie mit ihrem (teilweise krankheitsbedingten) Verhalten im Wesentlichen die neuen Tatsachen (so u.a. die Fremdplatzierung und die Errichtung der Erziehungsund Verfahrensbeistandschaft) geschaffen hat, aufgrund derer um Wiedererwägung der Verfügung vom

      22. Januar 2014 im Hinblick auf die Anordnung der vorläufigen Aufnahme der Kinder wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs ersucht wird. Die Fremdplatzierung und -betreuung beziehungsweise die Trennung von der Mutter hätten zudem bewirkt, dass die Kinder sich erstmals kindgerecht entwickeln konnten, was vorher angesichts der massiven, und allenfalls weiter akzentuierten, (gesundheitlichen) Probleme der Mutter nicht möglich gewesen sei. Aus Behördensicht müsse der faktisch bereits

      vollzogene Obhutsentzug formell angeordnet werden, sollte die Mutter die Kinder wieder zu sich nehmen wollen.

      Damit hätte die Vorinstanz wie in der Beschwerde zu Recht gerügt trotz des Ausschlusses der Mutter im Wiedererwägungsverfahren die mit dieser zusammenhängenden Umstände bei der Prüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nicht vollkommen ausblenden dürfen. Vielmehr führt diese spezielle Fallkonstellation zur Beachtung der Praxis in zweierlei Hinsicht, nämlich die Rechtsprechung zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls für Kinder im Familienverbund (vgl. E. 7.2) und analog diejenige für unbegleitete Minderjährige (vgl. E. 7.3).

    2. In einem weiteren Schritt stellt das Bundesverwaltungsgericht an dieser Stelle fest, dass die von der Vorinstanz einleitend gemachten Ausführungen zum Programmcharakter der Bestimmungen der KRK und insbesondere zu deren Umsetzung im nationalen Recht sich im vorliegenden Fall als irrelevant erweisen. Es mag sein, dass den meisten Bestimmungen der KRK kein justiziabler Anspruch zuzusprechen ist und sie nicht « selfexecuting » sind (bezüglich Art. 3 KRK in Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK] 1998 Nr. 13

      E. 5.d.bb offen gelassen). Dass Art. 22 KRK vorliegend nicht anwendbar ist, ergibt sich im Übrigen bereits daraus, dass die Beschwerdeführenden keine Flüchtlinge und auch nicht mehr Asylsuchende sind. Die Vorinstanz führt weiter selbst an, die Behörden seien gehalten, die Tragweite der erwähnten Verpflichtungen im innerstaatlichen Recht zu konkretisieren, und verweist auf einige Gesetzesbestimmungen, die sich allerdings nicht konkret mit der Wegweisung Minderjähriger befassen. Eine Konkretisierung der Pflicht der « vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls » gemäss Art. 3 Abs. 1 KRK fehlt indes in der Begründung der Verfügung.

      Nach geltender Rechtsprechung sind indes bei der Auslegung von Art. 83 Abs. 4 AuG im Lichte von Art. 3 Abs. 1 KRK unter dem Aspekt des Wohls des Kindes namentlich folgende Kriterien im Rahmen einer gesamtheitlichen Beurteilung von Bedeutung: Alter, Reife, Abhängigkeiten, Art (Nähe, Intensität, Tragfähigkeit) seiner Beziehungen, Eigenschaften seiner Bezugspersonen (insb. Unterstützungsbereitschaft und -fähigkeit), Stand und Prognose bezüglich Entwicklung/Ausbildung sowie der Grad der erfolgten Integration bei einem längeren Aufenthalt in der Schweiz (vgl. BVGE 2009/51 E. 5.6; 2009/28 E. 9.3.2, jeweils m.w.H.). Wohl werden von der Vorinstanz einige wenige Kriterien aus dem von der Rechtsprechung vorgegebenen Katalog gewürdigt, so das Alter sowie die zu kurze Aufenthaltsdauer in der Schweiz und erst vor einem Jahr erfolgte Überführung in

      geregelte Strukturen, um damit auf eine mangelnde hiesige Verwurzelung zu schliessen. Damit wird sie den Anforderungen der Rechtsprechung zur umfassenden Würdigung sämtlicher für das Kindeswohl relevanter Kriterien indes in keiner Weise gerecht. Ausgeblendet werden insbesondere Kriterien wie Abhängigkeiten, Art der Beziehungen, Eigenschaften der Bezugspersonen (Unterstützungsbereitschaft und -fähigkeit) sowie Stand und Prognose bezüglich Entwicklung und Ausbildung alles Gesichtspunkte, die in der vorliegenden Fallkonstellation allenfalls zugunsten einer Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs sprechen könnten. Um Wiederholungen zu vermeiden wird auf die entsprechenden zutreffenden Ausführungen in der Beschwerdeschrift (vgl. E. 6) verwiesen, welche vollumfänglich zu bestätigen sind.

      Im Zusammenhang mit den Kriterien « Art der Beziehungen » und « Eigenschaften der Bezugspersonen » ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Vorinstanz es versäumt haben dürfte, die KESB und die von ihr eingesetzten Beistände darüber zu informieren, dass die Grosseltern der Beschwerdeführerinnen ebenfalls in ihrem derzeitigen Wohnund Aufenthaltsort niedergelassen sind und zwischen diesen und der Familie gemäss Angaben der Kindsmutter in Serbien ein regelmässiger Kontakt aufrechterhalten worden ist. Den Akten sind nur Hinweise zum persönlichen Zerwürfnis der Kindsmutter mit ihren Verwandten ( ) zu entnehmen, aber keine Angaben zum Verhältnis der Kinder zu ihren Grosseltern und ihrer Tante, mit welcher sie in ihrem Heimatort im gleichen Haus gewohnt haben sollen. Zur Klärung dieser Fragen bedarf es somit offensichtlich weiterer Abklärungen.

      Schliesslich ist auch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Anhörung von Kindern im Verwaltungsverfahren hinzuweisen, wonach eine Vertretung der Kinder durch die Eltern ausreicht, sofern sich deren Interessen decken, und diesfalls auf eine Anhörung der Kinder verzichtet werden kann, wenn ihr Standpunkt in den schriftlichen Eingaben genügend zum Ausdruck gekommen ist (vgl. BVGE 2012/31). Dass im vorliegenden Fall die Interessen der Kinder sich mit denjenigen der Mutter decken, erscheint fraglich; jedenfalls kommt der Standpunkt der Kinder aufgrund der Aktenlage nach Ansicht des Gerichts nicht rechtsgenügend zum Ausdruck. So steht im Wiedererwägungsgesuch des Verfahrensbeistands, dass « über die Zustände im Heimatland niemand genau Bescheid wisse und die Aussagen allesamt sehr wirr seien ». Zur Erhebung des vollständigen Sachverhalts sowohl in Bezug auf die Verhältnisse in Serbien als auch das Verhältnis zu den in der Schweiz wohnhaften Grosseltern der

      Beschwerdeführerinnen erscheint eine Anhörung der fast dreizehnbeziehungsweise neunjährigen Kinder ohne die Mutter, indes im Beisein des Verfahrensbeistandes, nach Ansicht des Gerichts wohl als unabdingbar (vgl. dazu ausführlich: RUMO-JUNGO/SPESCHA, Kindeswohl, Kindesanhörung und Kindeswille in ausländerrechtlichen Kontexten, AJP 2009 S. 11031115).

    3. Aufgrund der oben beschriebenen speziellen Fallkonstellation ist vorliegend zudem die einschlägige Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anordnung des Wegweisungsvollzugs von unbegleiteten Minderjährigen zumindest analog heranzuziehen. Danach ist die Vorinstanz von Amtes wegen verpflichtet, spezifische Abklärungen der persönlichen Situation unter dem Blickwinkel des Kindeswohls vorzunehmen, widrigenfalls der Sachverhalt nicht als korrekt und vollständig festgestellt gilt im Hinblick auf den Entscheid über die Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs (vgl. EMARK 2006 Nr. 24 E. 6 und 1998 Nr. 13 E. 5.e). Ferner hat die zuständige Behörde gemäss Art. 69 Abs. 4 AuG vor einer Ausschaffung von unbegleiteten minderjährigen Personen sicherzustellen, dass diese im Rückkehrstaat einem Familienmitglied, einem Vormund oder einer Aufnahmeeinrichtung übergeben werden, welche den Schutz des Kindes gewährleisten. Wie in der Beschwerdeschrift richtig ausgeführt, durfte das SEM im vorliegenden Fall sich keinesfalls darauf beschränken, pauschal auf das grundsätzliche Vorliegen entsprechender sozialer Institutionen in Serbien zu verweisen. Vielmehr ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass der Mutter aus Behördensicht die elterliche Obhut aus Kinderschutzgründen auch offiziell zu entziehen wäre, sollte diese die Kinder wieder zu sich nehmen wollen (vgl. E. 7.1), dass die Beschwerdeführerinnen sich in einer ähnlichen Situation wie unbegleitete Minderjährige befinden und die entsprechende oben zitierte Rechtsprechung zumindest analog zur Anwendung kommen muss.

      Das SEM hat deshalb die Pflicht, von Amtes wegen konkreter abzuklären, ob die Beschwerdeführerinnen in ein familiäres Umfeld zurückgeführt beziehungsweise ob sie wo dies nicht möglich ist oder dem Wohl des Kindes nicht entspricht anderweitig untergebracht werden können. Der pauschale und unverbindliche Hinweis auf die Planbarkeit einer begleiteten Rückkehr der Familie sowie die Empfangnahme und Weitervermittlung durch die Schweizer Vertretung vor Ort zu gegebenem Zeitpunkt genügt diesen Anforderungen in keiner Weise. Es kann in diesem Sinne auch auf

      die zutreffenden Ausführungen in der Beschwerde (vgl. E. 6.2 f.) zur konkreteren Abklärungspflicht des SEM bezüglich Betreuung und Unterbringung durch die serbischen Behörden vor Ort verwiesen werden.

      Dass diese konkreten Abklärungen inklusive der allfälligen Übernahmezusicherungen der geeigneten serbischen Institutionen vor Erlass einer wegweisenden SEM-Verfügung vorgenommen beziehungsweise eingeholt werden müssen, damit sie einer gerichtlichen Überprüfung offenstehen können, ergibt sich direkt aus Art. 31 VGG in Verbindung mit Art. 5 VwVG: Solche Sachverhaltselemente sind Voraussetzung und Teil der

      anfechtbaren Verfügung, und stellen nicht etwa von der Rechtsmittelinstanz nicht mehr überprüfbare Vollzugsmodalitäten dar (vgl. dazu in analogiam die im Zusammenhang mit sog. Dublin-Verfahren geltende Rechtsprechung; BVGE 2015/4 E. 4.3).

    4. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Vorinstanz in Verletzung von Art. 12 in Verbindung mit Art. 49 Bst. b VwVG den Sachverhalt unvollständig erstellt hat. Abklärungsbedürftig ist sowohl die Situation hier in der Schweiz als auch die für die Kinder konkret zu erwartende Unterbringung und Versorgung (in physischer und psychosozialer Hinsicht) in Serbien.

8.
    1. Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück. Eine Kassation und Rückweisung an die Vorinstanz ist insbesondere angezeigt, wenn weitere Tatsachen festgestellt werden müssen und ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen ist. Die Entscheidungsreife kann zwar grundsätzlich auch durch die Beschwerdeinstanz hergestellt werden, wenn dies aus prozessökonomischen Gründen angebracht erscheint (vgl. BVGE 2012/21

      E. 5); sie kann und soll aber die Grundlagen des rechtserheblichen Sachverhalts nicht gleichsam an Stelle der verfügenden Verwaltungsbehörde erheben, zumal die Partei bei diesem Vorgehen eine Instanz verlöre. Vorliegend ist aufgrund des oben Gesagten keinesfalls von einer bestehenden oder leicht herstellbaren Entscheidungsreife auszugehen. Es bleibt noch einiges an Abklärungen zu treffen und allenfalls an praktischen Absprachen vorzukehren, deren Ergebnisse für den Entscheid über die Durchführbarkeit des Wegweisungsvollzugs zu berücksichtigen sind. Auch ist hinsichtlich eigener Abklärungen durch die Beschwerdeinstanz angesichts der seit 1. Februar 2014 geltenden Kognitionsbeschränkung des Bundesverwaltungsgerichts in Asylsachen (vgl. Art. 106 Abs. 1 AsylG bzw. Streichung von Art. 106 Abs. 1 aBst. c AsylG) immer dort besondere Zurückhaltung geboten, wo die Angemessenheit bei der Beurteilung eine Rolle spielt, da diese vom Bundesverwaltungsgericht weder bezogen auf die angefochtene Verfügung überprüft noch hinsichtlich eines neuen Sachverhaltselements (erstmals) geprüft werden darf. Bei der Inrechnungstellung aller relevanten Umstände im Zusammenhang mit dem Kindeswohl dürfte dem Ermessen und der Angemessenheit eine bedeutsame Rolle zukommen. Eine Kassation erscheint mithin angezeigt.

    2. Die Beschwerde ist demzufolge gutzuheissen. Die angefochtene Verfügung ist aufzuheben und die Sache zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung sowie zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. ( )

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