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Bundesverwaltungsgericht Urteil D-5672/2014

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-5672/2014
Datum:06.01.2016
Leitsatz/Stichwort:Nichteintreten auf Asylgesuch (kein Asylgesuch gemäss AsylG) und Wegweisung
Schlagwörter : Beschwerde; Recht; Vertrauensperson; Beschwerdeführer; Hende; Person; Verfügung; Rechtsvertretung; TestV; Minderjährige; Verfahren; Begleitet; Bundes; Beiordnung; Verzicht; Unbegleitete; Verzichtet; Sachverhalt; Rechtlich; Kindes; Asylsuchende; Behörde; Trete; Minderjährigen; Bundesverwaltungsgericht; Verfahrens; Schutz; Testphase; Vorinstanz
Rechtsnorm: Art. 29 BV ; Art. 306 ZGB ; Art. 32 VwVG ; Art. 327 ZGB ; Art. 35 VwVG ; Art. 49 VwVG ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 65 VwVG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar zugewiesen:
BENJAMIN SCHINDLER, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Zürich, 2008
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV D-5672/2014

U r t e i l  v o m  6.  J a n u a r  2 0 1 6

Besetzung Richterin Contessina Theis (Vorsitz), Richter Martin Zoller, Richter Gérald Bovier, Gerichtsschreiberin Eva Hostettler.

Parteien A. , geboren am ( ), Marokko,

vertreten durch MLaw Lukas Marty, Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende, Testbetrieb VZ Zürich, ( ),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM; zuvor Bundesamt für Migration, BFM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung; Verfügung des BFM vom 26. September 2014 / N ( ).

Sachverhalt:

A.

Der damals minderjährige Beschwerdeführer reiste am 22. August 2014 in die Schweiz ein und ersuchte am 25. August 2014 um Asyl.

Mit Zwischenverfügung vom 25. August 2014 eröffnete das BFM dem Beschwerdeführer, dass er in Anwendung von Art. 4 Abs. 3 der Verordnung über die Durchführung von Testphasen zu den Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich vom 4. September 2013 (TestV; SR 142.318.1) dem Verfahrenszentrum Zürich zugewiesen und sein Asylgesuch dort behandelt werde.

B.

Gemäss Erklärung vom 27. August 2014 verzichtete der Beschwerdeführer auf die ihm zugewiesene Rechtsvertretung im Sinne von Art. 25 Abs. 1 TestV (vgl. act. A11/1).

C.

Am 19. September 2014 befragte ihn das BFM zur Person und am

24. September 2014 wurde er zu seinen Asylgründen angehört. Dabei brachte er im Wesentlichen vor, er habe seinen Heimatstaat im Juni 2011 verlassen und sei auf dem Seeweg nach Italien gelangt, wo er bis zu seiner Weiterreise in die Schweiz gelebt und gearbeitet habe. Er habe einfach nach Europa kommen wollen und habe nie Probleme mit den marokkanischen Behörden gehabt. Marokko sei ein schönes Land. In Italien habe er keine Arbeit mehr gefunden, deshalb sei er in die Schweiz gekommen. Zudem leide er an ( ).

D.

Mit Verfügung vom 26. September 2014 - eröffnet am 2. Oktober 2014 - trat das BFM gemäss Art. 31a Abs. 3 AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht ein, wies ihn aus der Schweiz weg und beauftragte den zuständigen Kanton mit dem Vollzug.

E.

Mit Eingabe vom 3. Oktober 2014 beantragte der Beschwerdeführer - handelnd durch seinen neu mandatierten Rechtsvertreter - beim Bundesverwaltungsgericht, die angefochtene Verfügung sei im Wegweisungspunkt aufzuheben respektive zur angemessenen Sachverhaltsfeststellung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und um Verzicht auf die

Erhebung eines Kostenvorschusses. Der Eingabe war eine Vollmacht, vom

30. September 2014 datierend, beigelegt.

F.

Mit Verfügung vom 7. Oktober 2014 hiess die Instruktionsrichterin das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG gut und verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Der Vorinstanz wurde Gelegenheit eingeräumt, bis zum 22. Oktober 2014 eine Vernehmlassung einzureichen und sich unter anderem dazu äussern, dass dem minderjährigen Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren keine Vertrauensperson zugeordnet worden war, da er auf eine Rechtsvertretung verzichtet hatte sowie zur Relevanz des Überein-kommens vom

20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK; SR 0.107) für die Beurteilung des Wegweisungsvollzugs Stellung zu nehmen.

G.

( ).

H.

In seiner Vernehmlassung vom 22. Oktober 2014 beantragte das BFM die Abweisung der Beschwerde.

I.

Mit Verfügung vom 27. Oktober 2014 wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit eingeräumt, bis zum 11. November 2014 eine Replik einzureichen.

J.

Am 11. November 2014 replizierte der Beschwerdeführer.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das BFM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und

      entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel - so auch vorliegend - endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

    2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG und das AsylG nichts anderes bestimmen (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG). Aufgrund der Zuweisung des Beschwerdeführers in die Testphase des Verfahrenszentrums in Zürich kommt zudem die Verordnung vom 4. September 2013 über die Durchführung von Testphasen zu den Beschleunigungsmassnahmen im Asylbereich (TestV, SR 142.318.1) zur Anwendung (Art. 1 und Art. 4 Abs. 1 TestV i.V.m. Art. 112b Abs. 3 AsylG).

    3. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung; er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 38 TestV; Art. 48 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

Mit Beschwerde kann vorliegend die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 106 Abs. 1 AsylG).

3.

Bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das BFM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen (Art. 31a AsylG), ist die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2011/9 E. 5 S. 116 m.w.H). Die Vorinstanz prüft die Frage der Wegweisung und des Vollzugs materiell, weshalb dem Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich volle Kognition zukommt. Erachtet die Beschwerdeinstanz den Nichteintre-tensentscheid als unrechtmässig, enthält sie sich einer selbständigen materiellen Prüfung, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück (vgl. BVGE 2007/8 E. 2.1 S. 73 m.w.H.).

4.

    1. Zur Begründung seiner Verfügung vom 26. September 2014 führte das BFM im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe am 27. August 2014 auf die ihm zugewiesene Rechtsvertretung und damit auch auf seine Vertrauensperson verzichtet. Der Beschwerdeführer habe Marokko gemäss eigenen Angaben ausschliesslich aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und explizit zu Protokoll gegeben, keine Probleme mit den heimatlichen Behörden gehabt zu haben. Da die Voraussetzungen von Art. 18 AsylG nicht erfüllt seien, trete das BFM auf das Asylgesuch nicht ein. Der Vollzug der Wegweisung sei als zulässig und auch zumutbar zu qualifizieren, herrsche doch keine Situation allgemeiner Gewalt und verfüge er über ein funktionierendes Beziehungsnetz bestehend aus Eltern und Geschwister.

    2. In der Beschwerdeschrift vom 3. Oktober 2014 wir dem im Wesentlichen entgegengehalten, er habe sich, nachdem die ihm zugewiesene Rechtsvertreterin am 27. August 2014 die Mandatsverzichtserklärung unterschrieben habe, an verschiedene Personen gewandt, woraufhin er mehrmals zu Beratungsterminen auf der Rechtsberatungsstelle eingeladen worden sei, er diese Termine jedoch nicht wahrgenommen habe. Aus den Anhörungsprotokollen sei nicht ersichtlich, ob die gemäss jüngster bundesverwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung geforderten Massnahmen zum Schutz des Kindeswohles bei der Befragung vorliegend eingehalten worden seien. Ebenso stelle sich die Frage nach den rechtlichen Konsequenzen eines Verzichts auf eine Vertrauens-person durch einen unbegleiteten Minderjährigen. Schliesslich sei der Verfügung in Bezug auf die Beurteilung der Zumutbarkeit des Weg-weisungsvollzugs auch keine eingehende Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl zu entnehmen.

    3. In seiner Vernehmlassung vom 22. Oktober 2014 hielt das BFM fest, der Beschwerdeführer habe im erstinstanzlichen Verfahren mehrmals und unmissverständlich auf die ihm zustehende Rechtsvertretung und somit auch auf eine Vertrauensperson verzichtet. Da der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt einer allfälligen Rückkehr volljährig sein werde und eine Rückkehr in seinen Heimatstaat ohnehin nur auf freiwilliger Basis möglich sei, sei aus verfahrensökonomischen Gründen darauf verzichtet worden, die erforderlichen Massnahmen (konkrete Abklärungen vor Ort zum familiären Umfeld, Sicherstellung des Empfangs bei der Ankunft) zu ergreifen. Zudem habe der Beschwerdeführer wiederholt zu Protokoll gegeben, Marokko sei ein gutes Land, er habe keinerlei Probleme gehabt,

      mithin auch nirgends geltend gemacht worden sei, er sei in wirtschaftlich unzumutbaren Verhältnissen aufgewachsen.

    4. In seiner Replik vom 11. November 2014 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, entgegen den Ausführungen der Vorinstanz könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Verzicht eines unbegleiteten Minderjährigen auf eine Rechtsvertretung auch den Verzicht auf eine Vertrauensperson beinhalte. Sodann sei es sehr bedenklich, wenn aus prozessökonomischen Gründen auf die Anwendung von Kindesschutzmassnahmen verzichtet werde.

5.

5.1 In der Beschwerde werden verschiedene formelle Rügen erhoben, welche vorab zu beurteilen sind, da sie allenfalls geeignet sind, eine Kassation der vorinstanzlichen Verfügung zu bewirken. Der Beschwerdeführer macht sinngemäss geltend, die angefochtene Verfügung sei wegen unrichtiger und unvollständiger Sachverhaltsfeststellung sowie wegen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufzuheben und die Akten zur Vornahme entsprechender Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

5.2

      1. Wie im Verwaltungsverfahren allgemein, gilt auch im Asylverfahren der Untersuchungsgrundsatz und die Pflicht zur vollständigen und richtigen Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 12 VwVG). Die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts kann nach Art. 49 Bst. b VwVG beziehungsweise Art. 106 Abs. 1 Bst. b AsylG gerügt werden. "Unrichtig" ist die Sachverhaltsfeststellung beispielsweise dann, wenn der Verfügung ein aktenwidriger oder nicht weiter belegbarer Sachverhalt zugrunde gelegt wurde. "Unvollständig" ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn die Behörde trotz der geltenden Untersuchungsmaxime den Sachverhalt nicht von Amtes wegen abgeklärt hat, oder nicht alle für den Entscheid wesentlichen Sachumstände berücksichtigt wurden (vgl. dazu BENJAMIN SCHINDLER, in: Christoph Auer/Markus Müller, Benjamin Schindler, VwVG, Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Zürich/St. Gallen 2008, Rz. 28 zu Art. 49, S. 676 f.). Ihre Grenze findet die Untersuchungspflicht allerdings in der Mitwirkungspflicht der Asylsuchenden (vgl. Art. 8 AsylG; BVGE 2009/50 E. 10.2.1 S. 734; 2008/24 E. 7.2 S. 356 f.).

      2. Ferner verlangt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 29 VwVG, Art. 32 Abs. 1 VwVG), dass die verfügende Behörde die Vorbringen des Betroffenen tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt, was sich entsprechend in der Entscheidbegründung niederschlagen muss (vgl. Art. 35 Abs. 1 VwVG). Für das Asylverfahren wird der Anspruch auf rechtliches Gehör in Art. 29 AsylG näher konkretisiert, als dass Asylsuchende zu den Asylgründen mündlich anzuhören sind. Die Anhörung soll Gewähr bieten, dass die asylsuchende Person ihre Asylgründe vollständig darlegen kann und diese von der Asylbehörde korrekt erfasst werden, wobei die mündliche Befragung insbesondere auch dazu dient, gezielte Rückfragen zur Erhebung des Sachverhalts zu stellen und Missverständnisse zu klären (vgl. BVGE 2007/30 E. 5.5.1 und 5.5.2 S. 365 f.; WALTER KÄLIN, Grundriss

        des Asylverfahrens, Basel/Frankfurt a.M.1990, S. 256 f.).

      3. Schliesslich soll die Begründung der Verfügung den Betroffenen ermöglichen, den Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anzufechten, was nur der Fall ist, wenn sich sowohl die Betroffenen als auch die Rechtsmittelinstanz über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen können, wobei sich die verfügende Behörde allerdings nicht ausdrücklich mit jeder tatbestandlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss, sondern sich auf die wesentlichen Gesichtspunkte beschränken kann. Die Begründungsdichte richtet sich dabei nach dem Verfügungsgegenstand, den Verfahrensumständen und den Interessen des Betroffenen, wobei bei schwerwiegenden Eingriffen in die rechtlich geschützten Interessen der Betroffenen - und um solche geht es bei der Frage der Gewährung des Asyls - eine sorgfältige Begründung verlangt wird (vgl. BVGE 2008/47 E. 3.2 S. 674 f., EMARK 2006 Nr. 24 E. 5.1. S. 256).

5.3

      1. Aus der Minderjährigkeit einer asylsuchenden Person resultieren gewisse Schutzverpflichtungen, welchen im Asylverfahren Rechnung zu tragen ist.

      2. Die im Rahmen des vorinstanzlichen Verfahrens bestehende Minderjährigkeit des Beschwerdeführers wird vorliegend vom BFM nicht bestritten, wobei auch für das Gericht kein Anlass besteht, diesbezüglich an der Glaubhaftigkeit der Vorbringen des Beschwerdeführers zu zweifeln (vgl. EMARK 2004 Nr. 30; BVGE 2009/54 E.4.1). Demnach ist hinsichtlich der Beurteilung der Verfahrensgarantien für Minderjährige im vorinstanzlichen Verfahren von der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 1a Bst. d der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) auszugehen.

      3. Steht die Minderjährigkeit einer unbegleiteten asylsuchenden Person fest, ist die zuständige Behörde gehalten, angemessene Massnahmen zum Schutz ihrer Rechte zu ergreifen. Unbegleitete minderjährige Asylsuchende verfügen regelmässig - da sie aus ihrem angestammten geographischen, sprachlichen, kulturellen und sozialen Umfeld herausgerissen wurden - nicht über die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse, um ihre Rechte im Asylund Wegweisungsverfahren selbstständig wahrnehmen zu können. Aufgrund ihrer altersbedingten Unerfahrenheit sind sie jedoch auch in anderen Bereichen auf Unterstützung angewiesen, weshalb sie besonderen staatlichen Schutzes bedürfen. Die allgemeine Schutzpflicht des Staates gegenüber Kindern ergibt sich unter anderem aus Art. 11 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101) und dem Übereinkommen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (vgl. zum Ganzen MICHELLE COTTIER, Achter Titel: Die Wirkung des Kindesverhältnisses in: Andrea Büchler/Dominique Jakob [Hrsg.], ZGB Kurzkommentar, Basel 2012, S. 786-846, 787). Die nationalrechtliche Umsetzung des zivilrechtlichen Kindesschutzes erfolgt primär im Schweizerischen Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (ZGB, SR 210). Die schweizerischen Behörden sind grundsätzlich dazu verpflichtet, jeder minderjährigen Person ohne rechtliche Vertretung eine Vormundschaft (Art. 327 f. ZGB) oder eine Beistandschaft (Art. 306 ff. ZGB) zu errichten (vgl. zum Ganzen EMARK 1998 Nr. 13 E.4b; 1999 Nr. 2 E. 5; eingehend zu dieser Thematik siehe SYLVIE COSSY, Le statut du requérant d'asile mineur non accompagné dans la procédure d'asile, [thèse], Lausanne, 2000, Rn. 490 f.).

      4. Neben den allgemeinen zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen kennt das Asylgesetz eine weitere Schutzverpflichtung für unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Gemäss Art. 17 Abs. 3 AsylG i.V.m. Art. 7 Abs. 2 AsylV 1 hat die zuständige kantonale Behörde einer unbegleiteten minderjährigen asylsuchenden Person - falls nicht sofort vormundschaftliche Massnahmen im Sinne einer Beistandoder Vormundschaft ergriffen werden können - für die Dauer des Asylund Wegweisungsverfahrens, längstens bis zur Ernennung eines Beistandes oder Vormundes oder bis zum Eintritt der Volljährigkeit, von Amtes wegen unverzüglich - jedenfalls vor der ersten Anhörung - eine rechtskundige

        Person beizuordnen. Die Aufgaben einer Vertrauensperson sind vielfältig und umfassen neben der Wahrung der Interessen der minderjährigen Person im Asylverfahren auch andere administrative und organisatorische Aufgaben (bspw. Sicherstellung einer allfälligen medizinischen Behandlung oder soziale Betreuung am Wohnort), was sich bereits aus der Überlegung ergibt, dass die eingesetzte Vertrauensperson mangels Errichtung einer Vormundschaft beziehungsweise einer Beistandschaft wohl zumindest teilweise deren Aufgaben wahrnehmen muss (vgl. EMARK 2003 Nr. 1 E. 3c f.; siehe auch UNHCR, Guidelines on policies and procedures in dealing with unaccompanied children seeking asylum, Februar 1997, gefunden auf <http://www.unhcr.org/3d4f91cf4.htm l> [zuletzt besucht am 17. November 2014])). Dies ergibt sich auch explizit aus Art. 7 Abs. 3 AsylV1, indem ganz allgemein festgehalten wird, dass die Vertrauensperson die unbegleitete minderjährige Person im Asylverfahren begleitet und unterstützt. Eine Verbeiständung respektive Beiordnung einer Vertrauensperson dient jedoch nicht nur dem Schutz der Rechte eines unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, sondern ist auch im Sinne einer effizienten Verfahrensabwicklung angezeigt (vgl. zum Ganzen EMARK 1998 Nr. 13 E. 4b; 2003 Nr. 1 E. 3b). Eine Missachtung der Verpflichtung zur Beiordnung einer Vertrauensperson im erstinstanzlichen Verfahren ist als Verletzung des rechtlichen Gehörs zu behandeln und führt

        • da eine Heilung nur in Ausnahmefällen zulässig ist - in der Regel zur Kassation der angefochtenen Verfügung (vgl. EMARK 1999 Nr. 2 E. 5; 1999 Nr. 18 E. 5d; vgl. zum Ganzen auch zur Publikation vorgesehenes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts BVGE E-1928/2014 vom 24. Juli 2014).

      5. Gemäss Testphasenverordnung finden das Asylgesetz und das AuG Anwendung, sofern die Testphasenverordnung bei der Ausgestaltung des erstinstanzlichen Asylund Wegweisungsverfahrens vom Asylgesetz sowie damit zusammenhängenden Finanzierungsfragen nichts Abweichendes vorsieht (Art. 7 TestV; Art. 112b AsylG). Gemäss Art. 5 TestV besteht in der Testphase eine Personalunion von Rechtsvertretung und Vertrauensperson, solange wie sich die unbegleitete minderjährige asylsuchende Person in einem Zentrum des Bundes aufhält. Die gemäss Art. 25 TestV jeder asylsuchenden Person für die Erstbefragung in der Vorbereitungsphase und für das weitere Asylverfahren zugewiesene Rechtsvertretung nimmt somit in der Testphase ebenso die Aufgaben der Vertrauensperson wahr (vgl. auch Art. 28 Abs. 1 Bst. e TestV). Gemäss Art. 25 TestV kann die asylsuchende Person ausdrücklich auf die Zuweisung einer Rechtsvertretung verzichten. Abgesehen vom Umstand,

dass die Rechtsvertretung in der Testphase ebenso die Aufgaben der Vertrauensperson wahrnimmt, bestehen keine weiteren Unterschiede zu den verfahrensrechtlichen Schutzverpflichtungen im regulären Asylverfahren, mithin finden auch die in der Rechtsprechung diesbezüglich entwickelten Grundsätze vorliegend Anwendung.

5.4

      1. Im vorliegenden Verfahren hat der Beschwerdeführer auf die Beiordnung einer Rechtsvertretung im Sinne von Art. 25 TestV verzichtet (vgl. act A11/1). Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Verzichtserklärung vom 27. August 2014 lediglich die Unterschrift der dem Beschwerdeführer zugewiesenen Rechtsvertreterin zu entnehmen ist, mithin fragwürdig erscheint, ob diese Vorgehensweise den Anforderungen an einen ausdrücklichen Verzicht - beispielsweise durch eigenhändige Unterschrift des Beschwerdeführers - zu genügen vermag. Im Lichte der nachstehenden Ausführungen kann dies vorliegend jedoch offen ge-lassen werden.

      2. Gemäss den vorliegenden Akten hat das BFM - aus zeitlichen und administrativen Gründen - darauf verzichtet, dem Beschwerdeführer eine Begleitperson bereitzustellen (vgl. act. A20/1), wobei davon auszugehen ist, dass unter dem Begriff der Begleitperson der dem Asylrecht geläufigere Begriff der Vertrauensperson zu verstehen ist. Aufgefordert sich in der Vernehmlassung zu diesem Umstand zu äussern, hielt das BFM fest, der Beschwerdeführer habe unmissverständlich und mehrmals die ihm zustehende Rechtsvertretung und damit eine Vertrauensperson abgelehnt. Hinsichtlich des angeblichen Verzichts des Beschwerdeführers auf Beiordnung einer Vertrauensperson widerspricht sich das BFM somit zunächst selber, als dass es einmal aus zeitlichen und administrativen Gründen auf die Beiordnung einer Vertrauensperson verzichtet haben will, und ein andermal ausführt, der Beschwerdeführer habe mit seinem Verzicht auf eine Rechtsvertretung ebenso auf eine Vertrauensperson verzichtet. Ob der Beschwerdeführer darüber unterrichtet wurde, dass ein Verzicht auf eine Rechtsvertretung - gemäss Auffassung des BFM - ebenso zum Verzicht auf die Beiordnung einer Vertrauensperson führt, entzieht sich der Kenntnis des Gerichts und kann aufgrund der vorliegenden Akten nicht überprüft werden.

      3. Unbesehen des Umstandes, wer (das BFM oder der Beschwerdeführer) denn nun auf die Beiordnung einer Vertrauensperson verzichtet haben will, ist festzustellen, dass ein solcher Verzicht nicht mit

        den oben genannten völkerund landesrechtlichen Schutzverpflichtungen im Einklang zu stehen vermag. Bei der Beiordnung einer Vertrauensperson für unbegleitete asylsuchende Minderjährige handelt es sich um eine zwingend anzuordnende Massnahme zur Sicherstellung der Wahrung der Verfahrensrechte und -pflichten für unbegleitete Minderjährige im Asylverfahren. Währenddem der Urteilsfähigkeit einer unbegleiteten minderjährigen asylsuchenden Person im Rahmen der konkreten Ausgestaltung des Mandates der Vertrauensperson Rechnung zu tragen sein dürfte, bedarf es für die Beiordnung einer Vertrauensperson als solche nicht der Zustimmung der unbegleiteten minderjährigen Person, wird damit

        • mit der Beiordnung als solche - doch auch in keiner Weise in die Persönlichkeitsrechte des Kindes eingegriffen.

        Der zwingende Charakter dieser Massnahme ergibt sich bereits aus der Überlegung, dass es sich um eine asylrechtliche Übergangslösung für die Ergreifung von zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen (Vormundschaft oder Beistandschaft) durch die zuständigen kantonalen Behörden handelt und der Gesetzgeber explizit keinen spezialgesetzlichen Vorrang vor dem Kindesschutzrecht des ZGB konzipieren wollte (vgl. EJPD, Gutachten vom 25. Februar 2005, Ausgestaltung der Hilfe in Notlagen [Art. 12 BV] für minderjährige Asylsuchende mit einem Nichteintretensentscheid, VPB 2008 Nr. 2008.2 S. 15 f.). Andererseits muss sich die unbegleitete minderjährige asylsuchende Person beispielsweise Fehlleistungen der Vertrauensperson nicht anrechnen lassen, da sie gemäss ständiger Rechtsprechung keinen Einfluss auf die Auswahl der Vertrauensperson hat (EMARK 2006 Nr. 14 E. 6), mithin in der bisherigen Rechtsprechung bereits implizit davon ausgegangen wurde, dass die Beiordnung einer Vertrauensperson eine von staatlicher Seite anzuordnende Schutzmassnahme darstellt, die nicht der Mitwirkung der minderjährigen Person bedarf.

        Schliesslich würde der Aufgabenbereich der Vertrauensperson - welcher deutlich mehr als nur die Wahrung der rechtlichen Interessen der minderjährigen Person umfasst und sich vielmehr am ganzheitlich zu schützenden Wohl des Kindes orientiert - im Rahmen der Testphase erheblich eingeschränkt, wenn der Aufgabenbereich der Rechtsvertretung und jener der Vertrauensperson deckungsgleich wären. Aus einem Verzicht auf die Beiordnung einer Rechtsvertretung lässt sich auch deshalb nicht ein Verzicht auf die Beiordnung einer Vertrauensperson ableiten, weil damit dem Institut der Vertrauensperson als vorüber-gehende asylrechtliche Kindesschutzmassnahme Sinn und Zweck entleert würde.

      4. Zusammenfassend ist festzustellen, dass - währenddem die in Art. 5 TestV normierte Personalunion von Rechtsvertretung und Vertrauensperson nicht grundsätzlich zu beanstanden ist - ein Verzicht auf die Beiordnung einer Vertrauensperson weder durch das BFM noch die unbegleitete asylsuchende Person möglich ist. Aus einem Verzicht auf die zugewiesene Rechtsvertretung im Sinne von Art. 25 TestV kann nicht ein Verzicht auf Beiordnung einer Vertrauensperson resultieren. Das BFM hat sicherzustellen, dass einer unbegleiteten minderjährigen asyl-suchenden Person in der Testphase eine Vertrauensperson im Sinne von Art. 5 TestV

i.V.m. Art. 17 Abs. 3 AsylG beigeordnet wird. Schliesslich ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass die angefochtene Verfügung auch im Wegweisungsvollzugspunkt zu kassieren ist, kann es doch nicht angehen, dass das BFM bei einer im Zeitpunkt des Verfügungserlasses minderjährigen Person - unbesehen des Umstandes, wann die Volljährigkeit eintritt - aus prozessökonomischen Gründen auf die Anwendung völkerrechtlich normierter Grundsätze (insbesondere jene der Kinderrechtskonvention) verzichtet.

5.5 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das BFM durch die fehlende Beiordnung einer Vertrauensperson sowie die ohne Anwesenheit eines Beistandes oder einer Vertrauensperson erfolgte Befragung des Beschwerdeführers respektive Eröffnung der vorinstanzlichen Verfügung den Sachverhalt nur unvollständig abgeklärt und das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers verletzt hat. Die angefochtene Verfügung ist demnach unter Verletzung von Völkerund Bundesrecht ergangen. Mit Blick auf die formelle Natur des Anspruchs auf rechtliches Gehör (BVGE 2007/30

E. 8.2; 2007/27 E. 10.1) ist eine Heilung - ( ) - vorliegend ausgeschlossen. Die angefochtene Verfügung vom 26. Sep-tember 2014 ist aufzuheben, die Befragungsund Anhörungsprotokolle vom 19. und

24. September 2014 (vgl. A 15/13 und A 16/4) sind - da in schwerwiegender Verletzung grundlegender Verfahrensgarantien ergangen - aus dem Recht zu weisen und das BFM ist anzuweisen, erneut eine Befragung und Anhörung im Sinne von Art. 29 AsylG durchzuführen.

6.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG), wobei das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung im Sinne von Art. 65 Abs. 1 VwVG mit Verfügung vom

      7. Oktober 2014 ohnehin gutgeheissen wurde.

    2. Dem vertretenen Beschwerdeführer wäre angesichts seines Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) grundsätzlich eine Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Da er auf Beschwerdeebene jedoch durch eine ihm zugewiesene Rechtsvertretung im Sinn von Art. 25 TestV vertreten wurde, ist nicht davon auszugehen, dass ihm diesbezüglich Kosten erwachsen sind. Nach Art. 28 TestV richtet das BFM dem Leistungserbringer - der nach Art. 26 Abs. 1 TestV für die Sicherstellung, Organisation und Durchführung der Rechtsvertretung zuständig ist - eine Entschädigung für die Wahrnehmung der Rechtsvertretung im Beschwerdeverfahren, insbesondere das Verfassen einer Beschwerdeschrift, aus (Art. 26 Abs. 1 Bst. d TestV). Damit ist praxisgemäss davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer keine Parteikosten erwachsen sind, weshalb keine Parteientschädigung zuzusprechen ist (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts E-1917/2017 vom 21. Mai 2014 E. 11).

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen.

2.

Die Verfügung des BFM vom 26. September 2014 wird aufgehoben. Die Akten werden zur vollständigen Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes und neuer Entscheidung an das SEM überwiesen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.

Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

5.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:

Contessina Theis Eva Hostettler

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