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Entscheid des Bundesstrafgerichts: BG.2021.23 vom 13.04.2021

Hier finden Sie das Urteil BG.2021.23 vom 13.04.2021 - Beschwerdekammer: Strafverfahren

Sachverhalt des Entscheids BG.2021.23


Urteilsdetails des Bundesstrafgerichts

Instanz:

Bundesstrafgericht

Abteilung:

Beschwerdekammer: Strafverfahren

Fallnummer:

BG.2021.23

Datum:

13.04.2021

Leitsatz/Stichwort:

Schlagwörter

Kanton; Kantons; Staatsanwalt; Verfahren; Nidwalden; Staatsanwaltschaft; Bundes; Alter; Filter; Akten; Beschuldigte; Ordner; Register; Delikt; Oberstaatsanwaltschaft; Gericht; Taten; Vollendung; Altersjahr; Urteil; Beschuldigten; Jugendstaatsanwaltschaft; Kantone; Behörden; Verfahrens; Kantonspolizei; Delikte

Rechtskraft:

Kein Rechtsmittel gegeben

Rechtsgrundlagen des Urteils:

Art. 1 StPO ;Art. 139 StGB ;Art. 29 StPO ;Art. 34 StPO ;Art. 4 StGB ;Art. 40 StPO ;Art. 49 StGB ;Art. 7 BGG ;Art. 9 StGB ;

Referenz BGE:

135 IV 206; 146 IV 164; 96 IV 23; ;

Kommentar:

Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017

Entscheid des Bundesstrafgerichts

BG.2021.23

Bundesstrafgericht

Tribunal pénal fédéral

Tribunale penale federale

Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: BG.2021.23 Entscheide BStGer Als Filter hinzufügen Link öffnen

Beschluss vom 13. April 2021
Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter

Roy Garré, Vorsitz,

Miriam Forni und Stephan Blättler,

Gerichtsschreiber Martin Eckner

Parteien

Kanton Aargau, Oberstaatsanwaltschaft ,

Gesuchsteller

gegen

1.    Kanton Nidwalden, Staatsanwaltschaft,

2.    Kanton Freiburg, Staatsanwaltschaft ,

3.    Kanton Luzern, Oberstaatsanwaltschaft ,

4.    Kanton Schaffhausen, Erster Staatsanwalt ,

5.    Kanton Zürich , Oberstaatsanwaltschaft ,

6.    Kanton Solothurn, Staatsanwaltschaft ,

7.    Kanton Bern, Generalstaatsanwaltschaft,

8.    Kanton Obwalden, Staatsanwaltschaft ,

Gesuchsgegner

      

Gegenstand

Gerichtsstandskonflikt ( Art. 40 Abs. 2 StPO)

Sachverhalt:

A. Am 25. September 2020 um 12:09 Uhr verhafteten Beamten der Kantonspolizei Aargau auf dem Rastplatz Z. A. sowie weitere zwei Personen, die sich in dem von A. gelenkten Fahrzeug befanden. Die drei wurden verdächtigt, an jenem Vormittag in ein Wohnhaus in Y./AG eingebrochen zu sein und verschiedene Wertgegenstände zum Nachteil der Bewohner entwendet zu haben (s. Rapporte der Kantonspolizei Aargau vom 23. November 2020, Akten StA AG Verfahrensnummer ST 2020.7491, nachfolgend «Akten AG», Ordner 4 Register 25–27).

B. Zu seiner Person gab A. bei der Kantonspolizei Aargau u.a. an, siebzehn Jahre alt zu sein und in einem Roma-Camp in Strasbourg zu leben (s. Akten AG, Ordner 1 Register 1 und 2; Ordner 4 Register 30). Die Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau ordnete am 27. September 2020 Untersuchungshaft gegen A. an und stellte dem Zwangsmassnahmengericht am 2. Oktober 2020 ein Haftverlängerungsgesuch. Das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau verlängerte seine Untersuchungshaft mit den Verfügungen vom 3. Oktober sowie 2. und 18. November 2020. Am 19. Januar 2021 ordnete es Untersuchungshaft bis 2. Mai 2021 an (s. Akten AG, Ordner 1 Register 2 und 3).

C. Am 28. September ordnete die Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau die Erstellung eines DNA-Profils von A. an (s. Akten AG, Ordner 1 Register 7).

D. Am 15. Oktober 2020 beauftragte die Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau das Institut für Rechtsmedizin Aarau mit einem Altersschätzungsgutachten über A. Nachdem dieses am 21. Oktober 2020 erstellt wurde (s. Akten AG, Ordner 1 Register 8), trat die Jugendstaatsanwaltschaft das Verfahren gegen A. am 28. Oktober 2020 an die Staatsanwaltschaft Baden (AG; nachfolgend «StA/AG») ab, welche es mit Verfügung vom 29. Oktober 2020 übernahm (s. Akten StA AG, Ordner 1 Register 10). 

E. Die Abgleichung des DNA-Profils von A. ergab Übereinstimmungen mit DNA-Spuren, die im Bereich früherer Tatorte sichergestellt worden waren. Gestützt auf diese Feststellungen wird A. vorgeworfen, zwischen dem 19. Oktober 2016 und 25. September 2020 insgesamt 22 teils versuchte Einbruchdiebstähle begangen zu haben. A. habe die Taten mit teils wechselnden Mittätern aus dem Fahrendenmilieu in insgesamt neun Kantonen verübt, im Einzelnen (s. act. 1 S. 2 und Akten AG, Ordner 1 Register 7, Ordner 2–4 Register 1–25):

              Datum                      Tatort/Kanton           Anzeige am

              19.10.2016               X./NW             19.10.2016

              19.10.2016               X./NW             19.10.2016

              19.10.2016               W./LU              19.10.2016

              09.–23.11.2016        V./SH              23.11.2016

              15.03.2017               U./ZH              15.03.2017

              15.03.2017               U.ZH               15.03.2017

              30.03.2017               T./SO              30.03.2017

              11.06.2017               S./AG              11.06.2017

              17.04.2018               U./ZH              17.04.2018

              04.–17.04.2018        U./ZH              17.04.2018

              10.–24.04.2018        U.ZH               24.04.2018

              06.11.2018               R./FR              06.11.2018

              06.11.2018               Q./FR              06.11.2018

              07.11.2018               P./LU               07.11.2018

              07.11.2018               O./ZH              07.11.2018

              08.11.2018               N./BE              08.11.2018

              08.11.2018               N./BE              08.11.2018

              08.11.2018               N./BE              08.11.2018

              08.11.2018               M./BE              08.11.2018

              08.11.2018               L./OW             09.11.2018

              25.09.2020               K./AG              25.09.2020

              25.09.2020               Y./AG              25.09.2020

F. Am 20. November 2020 ersuchte die StA/AG die Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden, das Strafverfahren gegen A. zu übernehmen. Sie lehnte dies am 25. November 2020 ab. Auch ein nochmaliger Austausch (21.12.2020, 8.01.2021) führte zu keiner Einigung. Die StA/AG fragte am 18. Januar 2021 die Staatsanwaltschaft Freiburg an. Auch diese lehnte eine Übernahme ab (5.02.2021). Die StA/AG übersandte die Akten daraufhin am 23. Februar 2021 der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau.

Die Oberstaatsanwaltschaft begann den Meinungsaustausch am 2. März 2021. Die Kantone Nidwalden (5.03.2021), Zürich (15.03.2021), Schaffhausen (15.03.2021), Luzern (15.03.2021), Bern (15.03.2021), Obwalden (16.03.2021) und Solothurn (19.03.2021) lehnten an den angegebenen Daten ab, das Verfahren gegen A. zu übernehmen. Am 23. März 2021 lehnte dies auch der Kanton Freiburg ab. 

G. Am 26. März 2021 ersuchte die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts, den Gerichtsstand zu bestimmen. Sie beantragt, es seien die Behörden des Kantons Nidwalden, eventualiter eines anderen beteiligten Kantons, als zuständig zu bezeichnen.

Die Kantone Luzern, Obwalden, Solothurn und Zürich verzichteten am 1. April 2021 je auf eine detaillierte Stellungnahme, die Kantone Schaffhausen und Bern am 6. April 2021 (act. 3–8). Der Kanton Freiburg hält am 7. April 2021 dafür, der Kanton Nidwalden sei zuständig (act. 9). Der Kanton Nidwalden verneinte am 7. April 2021 seine Zuständigkeit mit Verweis auf seine Eingaben vom 8. Januar resp. 5. März 2021 an die Behörden des Kantons Aargau (act. 11). Das Gericht stellte die Eingaben am 9. April 2021 den jeweils anderen Parteien zur Kenntnis zu.

Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den nachfolgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1. Die Eintretensvoraussetzungen (durchgeführter Meinungsaustausch zwischen den involvierten Kantonen und zuständigen Behörden, Frist und Form, vgl. Beschluss des Bundesstrafgerichts BG.2019.50 Entscheide BStGer Als Filter hinzufügen Link öffnen vom 22. Januar 2020 E. 1.1) sind vorliegend erfüllt und geben zu keinen separaten Bemerkungen Anlass. Auf das Gesuch ist einzutreten.

2. Zwischen den beteiligten Kantonen ist unbestritten, dass kein Schwergewicht im Sinne der Rechtsprechung in einem Kanton vorliegt. Desgleichen, dass vorliegend der bandenmässige Diebstahl ( Art. 139 Ziff. 3 StGB) mit der schwersten Strafe bedroht ist ( Art. 34 Abs. 1 StPO). Für den Kanton Nidwalden sind die dort begangenen Delikte jedoch nach dem Jugendstrafgesetz zu beurteilen. Art. 25 Abs. 2 JStG sehe maximal einen Freiheitsentzug von vier Jahren vor. Damit unterlägen die ihm Kanton Nidwalden begangenen Delikte einer milderen Strafdrohung. Vor dem 18. Lebensjahr begangene Straftaten dürften nicht stärker ins Gewicht fallen, als wenn diese für sich alleine beurteilt worden wären. Die Differenzen bei der Strafzumessung verböten bei der Bestimmung des Gerichtsstandes, sämtliche Straftaten als ein einziges, banden- und gewerbsmässiges Verbrechen zu behandeln (Akten AG pag. 9, Ablehnung Gerichtsstand vom 8. Januar 2021). Der Grundsatz «in dubio pro duriore» bilde sodann keine allgemeine Entscheidregel und bleibe insbesondere bei der Würdigung von Beweisen unbeachtlich (Akten AG pag. 2 2; act. 11).

3.

3.1 Die StPO regelt die Verfolgung und Beurteilung der Straftaten nach Bundesrecht durch die Strafbehörden des Bundes und der Kantone ( Art. 1 Abs. 1 StPO). Die Verfahrensvorschriften anderer Bundesgesetze bleiben vorbehalten ( Art. 1 Abs. 2 StPO). Die Schweizerische Jugendstrafprozessordnung (Jugendstrafprozessordnung, JStPO; SR 312.1) regelt die Verfolgung und Beurteilung der Straftaten nach Bundesrecht, die von Jugendlichen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 des Jugendstrafgesetzes verübt worden sind, sowie den Vollzug der gegen sie verhängten Sanktionen ( Art. 1 JStPO). Das Bundesgesetz vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1) regelt in sachlicher Hinsicht die Sanktionen, welche gegenüber Personen zur Anwendung kommen, die vor Vollendung des 18. Altersjahres eine nach StGB oder einem andern Bundesgesetz mit Strafe bedrohte Tat begangen haben ( Art. 1 Abs. 1 lit. a JStG). Es gilt in persönlicher Hinsicht für Personen, die zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben ( Art. 3 Abs. 1 JStG).

Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen, so ist hinsichtlich der Strafen nur das StGB anwendbar (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 JStG). Dies gilt auch für die Zusatzstrafe ( Art. 49 Abs. 2 StGB), die für eine Tat auszusprechen ist, welche vor Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurde (Art. 3 Abs. 2 Satz 2 JStG). Wurde ein Verfahren gegen Jugendliche eingeleitet, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat bekannt wurde, so bleibt dieses Verfahren anwendbar (Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG). Andernfalls ist das Verfahren gegen Erwachsene anwendbar (Art. 3 Abs. 2 Satz 5 JStG; vgl. Art. 9 Abs. 2 StGB). Art. 49 Abs. 3 StGB bestimmt bei Taten begangen vor Vollendung des 18. Altersjahres, dass diese bei der Bildung der Gesamtstrafe nach den Absätzen 1 und 2 von Art. 49 StGB (Konkurrenz) nicht stärker ins Gewicht fallen dürfen, als wenn sie für sich allein beurteilt worden wären.

3.2

3.2.1 Nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes ist in sogenannten «gemischten Fällen», in denen Straftaten vor wie nach dem 18. Altersjahr begangen wurden, eine Lösung anzuwenden, die den Umständen des besonderen Falles gerecht wird und die ein effizientes Verfahren ermöglicht. Es geht nicht darum, nach rigiden Kriterien Sanktionen sei es des Erwachsenenstrafrechtes sei es des Jugendstrafrechts anzuwenden. Zugunsten einer effizienten Verfahrensführung geht es darum, Zeiten des Stillstandes zu vermeiden oder bereits erfolgte Verfahrenshandlungen wiederholen zu müssen , die durch
einen Wechsel zur ordentlichen Staatsanwaltschaft ausgelöst werden, während ein Verfahren vor der Jugendstaatsanwaltschaft hängig ist ( BGE 135 IV 206 E. 5.3 BGE Als Filter hinzufügen Link öffnen S. 210 f.; Urteil des Bundesgerichts 1B_206/2019 Weitere Urteile BGer Als Filter hinzufügen Link öffnen vom 9. Oktober 2019 E. 3.1 und die in SJ 2020 I p. 129 zitierten Fälle; zum Ganzen BGE 146 IV 164 E. 2.1 BGE Als Filter hinzufügen Link öffnen ). In «gemischten Fällen» kommt dem Grundsatz der Verfahrenseinheit des Art. 29 Abs. 1 StPO im Ergebnis keine besondere Bedeutung zu (vgl. BGE 146 IV 164 E. 2.3 BGE Als Filter hinzufügen Link öffnen ).

Das Bundesgericht hat anerkannt, dass gewisse Umstände – namentlich die Schwere der neu untersuchten Tat – ausnahmsweise dazu führen können, Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG nicht anzuwenden (BGE 135 IV 206 E. 5.3 S. 211 f.). Eine Zuständigkeit der ordentlichen Staatsanwaltschaft zur Strafuntersuchung kann so für Straftaten in Frage kommen, die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurden, obwohl ein Verfahren bei der Jugendstaatsanwaltschaft hängig ist (z.B. Urteil des Bundesgerichts 1B_206/2019 Weitere Urteile BGer Als Filter hinzufügen Link öffnen vom 9. Oktober 2019 E. 3.1, 3.2 und 3.4; zum Ganzen BGE 146 IV 164 E. 2.1 BGE Als Filter hinzufügen Link öffnen; TPF 2009 135 Entscheide der Amtlichen Sammlung Als Filter hinzufügen Link öffnen E. 2.1).

Im konkreten Fall BGE 146 IV 164 E. 2.3 BGE Als Filter hinzufügen Link öffnen wies das Bundesgericht darauf hin, dass die in der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen zur Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Satz 4 JStG (darunter die Schwere der neuen Tat und das Verfahrensstadium vor der Jugendstaatsanwaltschaft; vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_206/2019 Weitere Urteile BGer Als Filter hinzufügen Link öffnen vom 9. Oktober 2019 E. 3.1 und die in SJ 2020 I p. 129 zitierten Fälle) in der Tendenz vor allem die Zuständigkeit der ordentlichen Staatsanwaltschaft begünstigen, Sachverhalte nach der Volljährigkeit zu untersuchen – namentlich wenn sie sehr schwer sind – währenddessen ein Verfahren vor der Jugendstaatsanwaltschaft hängig ist und eigentlich diese sich mit den neuen Taten zu befassen hätte. Demgegenüber erlauben sie der Jugendstaatsanwaltschaft nicht, Verfahren in Fällen zu übertragen, die sich vor der Volljährigkeit ereigneten – ungeachtet ihrer Schwere – und für die sie zum Zeitpunkt der Einleitung gesetzlich alleine zuständig war.

3.2.2 Sofern bei Einleitung des Verfahrens die Straftat, welche nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs begangenen wurde, bereits bekannt war kommt indessen gemäss Art. 3 Abs. 2 Satz 5 JStG einzig das Erwachsenenstrafverfahren zum Tragen (vgl. Murer Mikolásek, Analyse der Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung [JStPO], ZStSzr 2011 N. 539).

3.3 Das Altersschätzungsgutachten vom 21. Oktober 2020 des Instituts für Rechtsmedizin, Kantonsspital Aarau (Akten AG Ordner 1/4 Register 8), enthält folgende zusammenfassende Beurteilung: Es lägen bei A. keine Hinweise für eine sich nachteilig auswirkenden, entwicklungsbeeinflussenden Erkrankung bzw. einer manifesten Entwicklungsstörung vor. Eine forensische Altersschätzung sei daher ohne Einschränkungen möglich. Beim Beschuldigten ergebe sich zum Zeitpunkt der Untersuchung ein durchschnittliches Lebensalter von etwa 22–24 Jahren. Aufgrund des Mindestaltersprinzips könne bei ihm zum Zeitpunkt der Untersuchung von einer sicheren Vollendung des 19. Lebensjahres (19.0 Jahre) ausgegangen werden. Damit sei die Volljährigkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch für den Zeitraum zwischen dem 20. Oktober 2019 und der ärztlichen Untersuchung am 20. Oktober 2020 belegt. Das vom Beschuldigten angegebene Lebensalter von 17 Jahren und 6 Monaten sei mit den Ergebnissen der forensischen Altersschätzung nicht zu vereinbaren (Gutachten S. 3 und 5).

3.4 Vorliegend ist nicht eindeutig, ob es sich um einen sogenannt «gemischten Fall» mit Straftaten vor wie nach der Volljährigkeit handelt. Das erste Delikt, das die Staatsanwaltschaften dem Beschuldigten zuordnen, ist dasjenige in X. (NW), am 19. Oktober 2016 begangen und gleichentags der Kantonspolizei Nidwalden angezeigt. Es ereignete sich vier Jahre vor dem Alters-
schätzungsgutachten vom 21. Oktober 2020. Der Beschuldigte war demnach zum Zeitpunkt der damaligen Tat sicher 15 Jahre alt und hatte ein durchschnittliches Lebensalter von 18 bis 22 Jahren. Das genaue Alter des Beschuldigten ist nicht bekannt. Vieles spricht aber für seine Volljährigkeit bereits am 19. Oktober 2016.

Die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau liess noch am 1. Oktober 2020 eine an die Kantonspolizei delegierte Einvernahme des Beschuldigten durchführen. Sie trat dann das Verfahren am 28. Oktober 2020 an die ordentliche StA/AG ab (Akten AG Ordner 1/4 Register 4, Haftverlängerungsgesuch vom 28. Oktober 2020 S. 2). Die Abtretung erfolgte, da der Beschuldigte gemäss Altersschätzungsgutachten vom 21. Oktober 2020 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwachsen war. Der Kanton Nidwalden bringt nicht vor, seinerseits bereits ein Jugendstrafverfahren gegen den Beschuldigten eröffnet zu haben. Es ist kein Jugendstrafverfahren hängig (anders als in TPF 2009 135 Entscheide der Amtlichen Sammlung Als Filter hinzufügen Link öffnen E. 2.1; Urteil des Bundesstrafgerichts BG.2007.27 Entscheide BStGer Als Filter hinzufügen Link öffnen vom 17. Dezember 2007 E. 2.3). Damit liegt ein Fall von Art. 3 Abs. 2 Satz 5 JStPO vor; es kommt das Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung (vgl. obige Erwägung 3.2.2). 

3.5 Vorliegend sind somit sämtliche Delikte nach StGB und StPO zu untersuchen, selbst wenn der Beschuldigte einige Taten vor der Volljährigkeit begangen hätte. Der vom Kanton Nidwalden angerufene BGE 96 IV 23 BGE Als Filter hinzufügen Link öffnen E. 3b ist vor Inkrafttreten des JStG ergangen und nicht mehr einschlägig. Sollte der Beschuldigte gemäss Urteil des Sachgerichts Delikte als Minderjähriger begangen haben, so stellt Art. 49 StGB sicher, dass es dies in der Strafzumessung berücksichtigen kann (vgl. Geiger/Redondo/Tirelli, Droit pénal des mineurs, 2019, N. 23 und 25; Aebersold, Schweizerisches Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2017, S. 111).

4.

4.1 Hat eine beschuldigte Person mehrere Straftaten an verschiedenen Orten verübt, so sind für die Verfolgung und Beurteilung sämtlicher Taten die Behörden des Ortes zuständig, an dem die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat begangen worden ist. Bei gleicher Strafdrohung sind die Behörden des Ortes zuständig, an dem zuerst Verfolgungshandlungen vorgenommen worden sind ( Art. 34 Abs. 1 StPO). Als solche gelten z.B. die Einreichung einer Strafanzeige, der Versand einer Vorladung, eine polizeiliche Rapportierung oder das Ausrücken der Polizei ( Baumgartner, Die Zuständigkeit im Strafverfahren, 2014, S. 174 ff.).

4.2 Das erste Delikt, das die Staatsanwaltschaften dem Beschuldigten zuordnen, ist dasjenige in X. (NW), am 19. Oktober 2016 begangen und gleichentags um 12:17 Uhr der Kantonspolizei Nidwalden angezeigt. Der bandenmässige Diebstahl ( Art. 139 Ziff. 3 StGB), unbestrittenermassen das schwerste Delikt, ist demnach zuerst im Kanton Nidwalden angezeigt worden. Entgegen den Vorbringen des Kantons Nidwalden sind in der vorliegenden Konstellation – genau wie bei nur versuchten bandenmässigen oder gewerbsmässigen Diebstählen (vgl. Baumgartner, a.a.O., S. 235 f.) – die Regeln für die Strafzumessung für die gerichtsstandsrechtliche Zuordnung zum Kollektivdelikt ohne Belang: Ein allenfalls unter milderer Strafandrohung stehendes Delikt (unbeschadet ob eventuell nur versucht oder eventuell jugendstrafrechtlich) kann hier ebenfalls gerichtsstandsbegründend sein. Nach Art. 34 Abs. 1 StPO sind damit die Behörden des Kantons Nidwalden berechtigt und verpflichtet, die dem Beschuldigten A. vorgeworfenen Delikte zu untersuchen und zu beurteilen.

5. Es ist keine Gerichtsgebühr zu erheben.


Demnach erkennt die Beschwerdekammer:

1. Die Behörden des Kantons Nidwalden sind berechtigt und verpflichtet, die A. vorgeworfenen Delikte zu untersuchen und zu beurteilen.

2. Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

Bellinzona, 13. April 2021

Im Namen der Beschwerdekammer
des Bundesstrafgerichts

Der Präsident:                                                             Der Gerichtsschreiber :

Zustellung an

-              Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau

-              Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden

-              Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg

-              Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern

-              Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen

-              Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich

-              Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn

-              Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern

-              Staatsanwaltschaft des Kantons Obwalden

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Beschluss ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben ( Art. 79 BGG; SR 173.110).  

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