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Bundesstrafgericht Urteil

Kopfdaten
Instanz:Bundesstrafgericht
Abteilung:Beschwerdekammer: Rechtshilfe
Fallnummer:RR.2020.51
Datum:19.08.2020
Leitsatz/Stichwort:Auslieferung an Russland. Auslieferungsentscheid (Art. 55 IRSG). Einrede des politischen Delikts (Art. 55 Abs. 2 IRSG).
Schlagwörter : Beschwerde; Beschwerdeführer; Auslieferung; Beschwerdekammer; Entscheid; Beschwerdeführers; Hafterstehungs; Politische; Russische; Suizid; Politischen; Bundesstrafgericht; Delikts; Bundesstrafgerichts; Transport; Einrede; Russischen; Gutachten; Medizinische; Recht; Russland; Auslieferungsentscheid; Beschwerdegegner; Psychiatrische; Hafterstehungsfähigkeit; Beantragt; Verfahren; Behörde; Risiko; Gesundheit
Rechtsnorm: Art. 1 VwVG ; Art. 13 StGB ; Art. 138 StGB ; Art. 15 StGB ; Art. 20 VwVG ; Art. 31 StGB ; Art. 48 StGB ; Art. 50 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 64 VwVG ; Art. 84 BGG ;
Referenz BGE:108 Ia 69; 123 II 134; 130 II 337; 132 IV 1; 135 IV 212; 136 IV 82; 141 IV 249; 141 IV 369; 142 IV 250; ;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Entscheid

Bundesstrafgericht

Tribunal pénal fédéral

Tribunale penale federale

Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: RR.2020.51 + RR.2020.30

Entscheid vom 19. August 2020
Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter

Roy Garré, Vorsitz,

Cornelia Cova und Stephan Blättler ,

Gerichtsschreiberin Chantal Blättler Grivet Fojaja

Parteien

A. , vertreten durch Rechtsanwälte Simone Nadelhofer, Sandrine Giroud und Dominik Elmiger,

Beschwerdeführer

gegen

Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung ,

Beschwerdegegner

Gegenstand

Auslieferung an Russland

Auslieferungsentscheid (Art. 55 IRSG); Einrede des politischen Delikts (Art. 55 Abs. 2 IRSG )


Sachverhalt:

A. Mit Interpol-Meldung vom 18. August 2014 ersuchten die russischen Behörden um Verhaftung des russischen und britischen Staatsangehörigen A. zwecks Auslieferung. Die Auslieferung wird gestützt auf den Haftbefehl des Bezirksgerichts Meschanskij vom 4. Mai 2008 wegen Machtmissbrauchs verlangt ( RR.2018.159 act. 1.1- 1.2). A. wird konkret vorgeworfen, als Rektor für die "Russische staatliche offene technische Universität für Verkehr" zwischen 2003 und 2007 insgesamt 11 Wohnungen, die im Eigentum der Universität gestanden hätten, aus der Buchhaltung entfernt haben zu lassen und diese anschliessend unter ihrem Marktwert eigenmächtig an Dritte für insgesamt rund USD 900'000.-- verkauft und sich am Erlös bereichert zu haben ( RR.2018.159 act. 1.1).

B. Am 22. März 2015 konnte A. am Flughafen Zürich verhaftet werden. Er wurde gestützt auf eine Haftanordnung des Bundesamtes für Justiz (nachfolgend "BJ") vom gleichen Tag in Auslieferungshaft versetzt ( RR.2018.159 act. 1.3). Anlässlich seiner Einvernahme durch die Kantonspolizei Zürich vom 24. März 2015 widersetzte sich A. einer vereinfachten Auslieferung an Russland ( RR.2018.159 act. 1.4).

C. Am 25. März 2015 erliess das BJ einen Auslieferungshaftbefehl gegen A., der unangefochten blieb ( RR.2018.159 act. 1.6-1.6A).

D. Die russische Botschaft in Bern übermittelte dem BJ mit Note vom 21. April 2015 das formelle Ersuchen der Generalstaatsanwaltschaft der russischen Föderation vom 15. April 2015 um Auslieferung von A. für die ihm im Haftbefehl des Bezirksgerichts Meschanskij vom 4. Mai 2008 zur Last gelegten Straftaten ( RR.2018.159 act. 1.11, 1.11A-H).

E. Mit Schreiben vom 22. April 2015 ersuchte das BJ die russischen Behörden um Übermittlung verschiedener Ergänzungen zum Auslieferungsersuchen, insbesondere um Abgabe von Garantien in ausdrücklicher und wortgetreuer Form ( RR.2018.159 act. 1.12).

F. A. erklärte im Rahmen seiner Einvernahme vom 27. April 2015 erneut, mit einer Auslieferung nicht einverstanden zu sein ( RR.2018.159 act. 1.16), nachdem er drei Tage zuvor, am 24. April 2015, das BJ darum ersucht hatte, ein medizinisches Gutachten durch den Gefängnisarzt in Auftrag zu geben ( RR.2018.159 act. 1.15). Es folgte ein Schreiben vom 29. April 2015, womit A. darum ersuchte, schnellstmöglich weitere medizinische Untersuchungen im Universitätsspital Zürich zu bewilligen ( RR.2018.159 act. 1.19, 1.19A). Das BJ beauftragte daraufhin am 30. April 2015 die Kantonspolizei Zürich, den aktuellen gesundheitlichen Zustand von A. auf Kosten des BJ amtsärztlich untersuchen zu lassen ( RR.2018.159 act. 1.20).

G. Mit Schreiben vom 5. Mai 2015 übermittelten die russischen Behörden die vom BJ angeforderten Ergänzungen und Garantien (vgl. supra E.; RR.2018.159 act. 1.23).

H. Am 8. Mai 2015 stellte A. ein Haftentlassungsgesuch, das vom BJ mit Schreiben vom 12. Mai 2015 abgewiesen wurde ( RR.2018.159 act. 1.29 und 1.30). Dagegen erhob A. mit Eingabe vom 22. Mai 2015 Beschwerde bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (nachfolgend «Beschwerdekammer»; RR.2015.213 act. 1.36).

I. Mit Schreiben vom 26. Mai 2015 nahm A. innert erstreckter Frist zum formellen Auslieferungsersuchen Stellung und beantragte gleichzeitig die sofortige Entlassung aus der Auslieferungshaft ( RR.2018.159 act. 1.38).

J. Am 28. Mai 2015 übermittelte der Gefängnisärztliche Dienst dem BJ den amtsärztlichen Bericht zusammen mit dem Bericht des Universitären Herzzentrums Zürich vom 20. Mai 2015. Demgemäss leide A. unter anderem an einer schweren reaktiven Depression, an einer schweren Blutdruckregulationsstörung und an einem Parkinson-Syndrom ( RR.2018.159 act. 1.37).

K. Mit Entscheid vom 10. Juni 2015 wies die Beschwerdekammer die Beschwerde von A. gegen die Abweisung des Haftentlassungsgesuchs des BJ vom 12. Mai 2015 ab (vgl. supra lit. H) ab ( RR.2018.159 act. 1.43).

L. Mit Eingaben vom 19. Juni und 2. Juli 2015 beantragte A. die amtliche Überprüfung seiner Hafterstehungsfähigkeit bzw. die Abklärung seiner Hafterstehungsfähigkeit in russischer Haft ( RR.2018.159 act. 1.45 und 1.47).

M. Mit Auslieferungsentscheid vom 16. Juli 2015 bewilligte das BJ die Auslieferung von A. an Russland für die dem Auslieferungsersuchen der russischen Botschaft vom 21. April 2015, ergänzt am 12. Mai 2015, zugrundeliegenden Straftaten. Der Entscheid erfolgte unter Vorbehalt des Entscheides des Bundesstrafgerichts über die Einrede des politischen Delikts im Sinne von Art. 55 Abs. 2 IRSG. Gleichzeitig wurde das Haftentlassungsgesuch A.s abgelehnt ( RR.2018.159 act. 1.48). Mit Schreiben vom gleichen Tag an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts beantragte das BJ die Ablehnung der Einrede des politischen Delikts ( RR.2018.159 act. 1.49).

N. Am 12. August 2015 wurde das BJ vom Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich darüber informiert, dass A. in eine psychiatrische Klinik versetzt werden sollte, woraufhin das BJ telefonisch das Einverständnis zur Einweisung in die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK) erteilte ( RR.2018.159 act. 1.A Ziff. 32).

O. Gegen den Auslieferungsentscheid des BJ vom 16. Juli 2015 erhob A. mit Eingabe vom 17. August 2015 beim Bundesstrafgericht Beschwerde und beantragte in der Hauptsache die Aufhebung des Auslieferungsentscheides vom 16. Juli 2015, die Verweigerung der Auslieferung und seine unverzügliche Freilassung ( RR.2015.231 act. 1 S. 2).

P. Mit Bericht vom 17. August 2015 attestierte die PUK, dass A. gegenwärtig aus psychiatrischer Sicht nicht hafterstehungsfähig sei ( RR.2015.231 act. 6.2).

Q. Am 19. August 2015 verfügte das BJ die sofortige provisorische Entlassung von A. aus der Haft, nachdem dieser eine Kautionsvereinbarung vom 18. August 2015 unterzeichnet und eine Kaution von CHF 100'000.-- geleistet hatte ( RR.2018.159 act. 1.54A und 1.55).

R. Mit Entscheid vom 21. Januar 2016 hiess die Beschwerdekammer die Beschwerde von A. vom 17. August 2015 gut, hob den Auslieferungsentscheid des BJ vom 16. Juli 2015 auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück. Das Verfahren betreffend Einrede des politischen Delikts schrieb die Beschwerdekammer als gegenstandslos geworden ab (Entscheid des Bundesstrafgerichts RR.2015.231 /213 vom 21. Januar 2016; RR.2018.159 act. 1.70). Die Be­schwerdekammer erwog unter anderem, dass es das BJ unterlassen habe, die Hafterstehungsfähigkeit von A. abschliessend abzuklären. Damit sei der rechtserhebliche Sachverhalt nur unvollständig festgestellt worden. Das BJ werde einen Sachverständigen zu beauftragen haben, um die Hafterstehungsfähigkeit von A. und die in diesem Zusammenhang noch offenen Fragen abzuklären (E. 6.3.5).

S. Auf eine dagegen vom BJ erhobene Beschwerde trat das Bundesgericht mit Urteil 1C_53/2016 vom 8. Februar 2016 nicht ein.

T. Mit Schreiben vom 19. Mai 2016 informierte das BJ die russischen Behörden über den Gesundheitszustand A.s und über dessen Entlassung aus der Auslieferungshaft aufgrund attestierter Hafterstehungsunfähigkeit". Das BJ ersuchte um Mitteilung, ob am Auslieferungsersuchen festgehalten werde. Es verlangte insbesondere konkrete Hinweise zur Frage, wie die von den russischen Behörden abgegebene Garantie vom 5. Mai 2015 (vgl. supra lit. G.) umgesetzt werden könne, falls am Auslieferungsersuchen festgehalten werde ( RR.2018.159 act. 1.86). Das Antwortschreiben der russischen Behörden vom 9. Juni 2016, mit welchem diese unter anderem mitteilten, am Auslieferungsersuchen festhalten zu wollen, wurde dem BJ am 16. Juni 2016 durch die russische Botschaft in Bern übermittelt ( RR.2018.159 act. 1.87, 1.88).

U. Mit Schreiben vom 23. Januar 2017 gelangte das BJ an A. und unterbreitete ihm die im Hinblick auf dessen medizinische Begutachtung zur Hafterstehungsfähigkeit zu stellenden Fragen. Ausserdem teilte es ihm mit, Prof. Dr. med. B. (nachfolgend "Dr. B."), Zentrum für Neurologie und Neurorehabilitation (ZNN) des Kantonsspitals Luzern, mit der medizinischen Begutachtung von A. zu beauftragen. Das BJ räumte A. die Gelegenheit ein, allfällige Abänderungs- und Ergänzungsfragen sowie allfällige Einwendungen gegen den vorgesehenen Sachverständigen vorzubringen ( RR.2018.159 act. 1.93).

V. A. reichte mit Schreiben vom 27. Februar 2017 verschiedene Ergänzungsfragen ein und beantragte, es sei Dr. B. mit der Zusammenstellung einer Expertengruppe, bestehend aus Ärzten des Luzerner Kantonsspitals zu beauftragen ( RR.2018.159 act. 1.98).

W. Mit Schreiben vom 15. Mai 2017 beauftragte das BJ Dr. B. mit der Begutachtung von A. im Hinblick auf die Beurteilung seiner Hafterstehungsfähigkeit ( RR.2018.159 act. 1.101). Daraufhin ersuchte A. das BJ mit Eingabe vom 24. Mai 2017, die alleinige Mandatierung von Dr. B. in Wiedererwägung zu ziehen und zu widerrufen sowie den Fragekatalog zurückzunehmen ( RR.2018.159 act. 1.102), was vom BJ am 26. Mai 2017 abschlägig beantwortet wurde ( RR.2018.159 act. 1.103). Auf die dagegen erhobene Beschwerde von A. trat die Beschwerdekammer mit Entscheid vom 19. Oktober 2017 mangels Vorliegens eines nichtwiedergutzumachenden Nachteils nicht ein (Entscheid des Bundesstrafgerichts RR.2017.128 vom 19. Oktober 2017).

X. Mit Auslieferungsentscheid vom 15. Mai 2018 bewilligte das BJ die Auslieferung von A. an Russland für die dem Auslieferungsersuchen der russischen Botschaft vom 21. April 2015, ergänzt am 12. Mai 2015, zugrundeliegenden Straftaten. Der Entscheid erfolgte unter Vorbehalt des Entscheides des Bundesstrafgerichts über die Einrede des politischen Delikts im Sinne von Art. 55 Abs. 2 IRSG ( RR.2018.159 act. 1.A). Mit Schreiben vom gleichen Tag an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts beantragte das BJ die Ablehnung der Einrede des politischen Delikts ( RR.2018.159 act. 1).

Y. Gegen den Auslieferungsentscheid vom 15. Mai 2018 erhob A. am 18. Juni 2018 bei der Beschwerdekammer Beschwerde gegen den Auslieferungsentscheid des BJ vom 15. Mai 2018 und beantragte in der Hauptsache die Aufhebung des Auslieferungsentscheids vom 15. Mai 2018, die Verweigerung der Auslieferung und dessen unverzügliche Freilassung ( RR.2018.184 act. 1).

Z. Mit Eingabe vom 11. Oktober 2018 reichte A. einen Arztbericht von Prof. Dr. med. C. (nachfolgend "Dr. C."), Neurozentrum Thalwil, vom 9. Oktober 2018 ein, worin eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes von A. attestiert wird ( RR.2018.184 act. 11 und 11.1).

AA. Mit Entscheid vom 5. November 2018 hiess die Beschwerdekammer die Beschwerde von A. vom 18. Juni 2018 erneut gut, hob den Auslieferungsentscheid des BJ vom 15. Mai 2018 auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück. Das Verfahren betreffend Einrede des politischen Delikts schrieb die Beschwerdekammer als gegenstandslos geworden ab (Entscheid des Bundesstrafgerichts RR.2018.159 /184 vom 5. November 2018; RR.2018.184 act. 13). Die Beschwerdekammer erwog unter anderem, dass der rechtserhebliche Sachverhalt nach wie vor nicht vollständig festgestellt sei. Das BJ werde einen psychiatrischen Sachverständigen zu beauftragen haben, um die Hafterstehungsfähigkeit von A. und die in diesem Zusammenhang immer noch offenen Fragen abzuklären (E. 5.3.5).

BB. Mit Schreiben vom 27. Dezember 2018 gelangte A. an das BJ und ersuchte um Beauftragung von Prof. Dr. med. D. (nachfolgend "Dr. D."), Universität Bern, Forensisch-Psychiatrischer Dienst, mit dessen psychiatrischer Begutachtung. Gleichzeitig reichte A. dem BJ einen Arztbericht von PD Dr. med. E. (nachfolgend "Dr. E.") und PD Dr. med. F. (nachfolgend "Dr. F."), Psychotherapeutische Praxis in Zürich, vom 18. Dezember 2018 ein, wonach sich suizidale Gedanken bei A. häufen würden und er die gegenwärtige Situation immer mehr als aussichtslos empfinden würde. Ferner reichte A. dem BJ erneut den Bericht von Dr. C. vom 9. Oktober 2018 ein (vgl. supra lit. Z; RR.2020.30 act. 1.2).

CC. Das BJ unterbreitete A. mit Schreiben vom 22. Januar 2019 verschiedene Fragen im Hinblick auf dessen Begutachtung und teilte ihm mit, dass es beabsichtige, Dr. D. mit der psychiatrischen Begutachtung von A. zu beauftragen ( RR.2020.30 act. 1.3).

DD. A. reichte dem BJ mit Schreiben vom 11. Februar 2019 verschiedene Ergänzungsfragen ein ( RR.2020.30 act. 1.4).

EE. Mit Schreiben vom 7. März 2019 beauftragte das BJ Dr. D., unter Beizug von Dr. med. G. (nachfolgend "Dr. G."), mit der psychiatrischen Begutachtung von A. ( RR.2020.30 act. 1.5). In ihrem Gutachten vom 29. Mai 2019 kamen die beiden Ärzte unter anderem zum Schluss, dass bei A. ein hohes Basisrisiko für zukünftige Suizidversuche vorliege. Hinsichtlich der Transportfähigkeit sei festzustellen, dass es sich in Bezug auf einen zwangsweisen Transport um einen Hoch-Risikofall handle. Da potenzielle Kontraindikationen vorliegen bzw. in der Stresssituation exazerbieren würden, müsse eine Untersuchung unmittelbar vor dem Transport erfolgen, um das medizinische Risiko/Kontraindikationen einzuschätzen ( RR.2020.30 act. 1.6).

FF. Mit Schreiben vom 1. Juli 2019 richtete sich das BJ an die ersuchende Behörde mit der Frage, ob vor dem Hintergrund des medizinischen Gutachtens vom 29. Mai 2019 die Möglichkeit bestehe, in Russland im Rahmen eines Strafverfahrens und allfälligen Strafvollzuges dem Gesundheitszustand von A. und insbesondere dem Pflegeaufwand zu entsprechen ( RR.2020.30 act. 1.7).

GG. Die russischen Behörden antworteten dem BJ mit Schreiben vom 12. August 2019 dahingehend, dass die medizinische Versorgung in Strafvollzugsanstalten durch die staatseigene Gesundheitseinrichtung «Medizinische Sanitätsstelle Nr. 77 des Föderalen Dienstes für Strafvollzug» gewährleistet werde, zu deren Struktur ein Krankenhaus sowie eine Psychiatrische Klinik gehören würden. Falls eine Unterbringung des Inhaftierten in das Krankenhaus oder die Psychiatrische Klinik nicht möglich sei, werde die notwendige medizinische Behandlung durch eine Behandlungseinrichtung des Departements für Gesundheitsschutz der Stadt Moskau gewährleistet ( RR.2020.30 act. 1.9).

HH. Mit Schreiben vom 17. Juli 2019 reichte A. dem BJ einen Arztbericht von Dr. E. und Dr. F. vom 5. Juli 2019 ein, gemäss welchem sich der Allgemeinzustand von A. weiter verschlechtert habe und das gesamte Krankheitsbild mit der raschen Verschlechterung bedrohlich sei. Eine engmaschige psychiatrische Betreuung vor Ort sei dringend anzuraten ( RR.2020.30 act. 1.10).

II. Am 30. September 2019 nahm A. zum Gutachten vom 29. Mai 2019 (vgl. supra lit. EE) schriftlich Stellung und beantragte, seine Auslieferung endgültig zu verweigern und ihn unverzüglich und endgültig aus der Haft zu entlassen ( RR.2020.30 act. 1.14).

JJ. Mit Auslieferungsentscheid vom 20. Januar 2020 bewilligte das BJ die Auslieferung von A. an Russland für die dem Auslieferungsersuchen der russischen Botschaft vom 21. April 2015, ergänzt am 12. Mai 2015, 16. Juni 2016 und 19. August 2019 zugrundeliegenden Straftaten. Der Entscheid erfolgte unter Vorbehalt des Entscheides des Bundesstrafgerichts über die Einrede des politischen Delikts im Sinne von Art. 55 Abs. 2 IRSG ( RR.2020.30 act. 1.1).

Mit Schreiben vom gleichen Tag an die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts beantragte das BJ die Ablehnung der Einrede des politischen Delikts ( RR.2020.30 act. 1).

KK. Mit Eingabe vom 20. Februar 2020 erhebt A. bei der Beschwerdekammer Beschwerde gegen den Auslieferungsentscheid des BJ vom 20. Januar 2020 und reicht gleichzeitig eine Stellungnahme zur Frage dessen politischer Diskriminierung in Russland ein. Er beantragt in der Hauptsache, es sei die politische Natur des russischen Auslieferungsgesuchs im Sinne von Art. 3 Ziff. 2 EAUe und Art. 2 lit. b bis d IRSG festzustellen, den Auslieferungsentscheid vom 20. Januar 2020 aufzuheben, die Auslieferung A.s an Russland zu verweigern und ihn unverzüglich sowie endgültig aus der Haft zu entlassen ( RR.2020.51 act. 1 S. 3 und 10). Mit Bezug auf die umfangreichen Eventual- und Subeventualanträge wird auf die Beschwerdeschrift verwiesen ( RR.2020.51 act. 1 S. 3-10). In prozessualer Hinsicht beantragt A. die Vereinigung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens RR.2020.51 mit dem Verfahren betreffend Einrede des politischen Delikts ( RR.2020.30 ) sowie die Unbeachtlicherklärung des medizinischen Gutachtens des Luzerner Kantonsspitals vom 17. August 2017 als Beweis und dessen nicht weitere Berücksichtigung. Weiter beantragt er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit für den Fall, da die Beschwerdekammer den Fall nicht an die Vorinstanz zurückweisen sollte ( RR.2020.51 act. 1 S. 2).

Die Beschwerdekammer nahm die ab Rz. 573 ff. der Beschwerde gemachten Ausführungen als Antragsantwort zum Antrag des BJ bezüglich Einrede des politischen Delikts entgegen ( RR.2020.51 act. 4).

LL. Mit Beschwerdeantwort und Antragsreplik vom 19. März 2020 beantragt das BJ die Abweisung der Beschwerde und die Ablehnung der Einrede des politischen Delikts ( RR.2020.51 act. 7). A. hält in seiner Beschwerdereplik und Antragsduplik vom 27. April 2020 an seinen in der Beschwerde und Antragsantwort gestellten Anträgen fest ( RR.2020.51 act. 10), was dem BJ mit Schreiben vom 28. April 2020 zur Kenntnis gebracht wird ( RR.2020.51 act. 11).

Auf die Ausführungen der Parteien und die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den folgenden rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1.

1.1 Für den Auslieferungsverkehr zwischen Russland und der Schweiz sind primär das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR 0.353.1) sowie das zu diesem Übereinkommen am 15. Oktober 1975 ergangene erste Zusatzprotokoll (1. ZP; SR 0.353.11), das am 17. März 1978 ergangene zweite Zusatzprotokoll (2. ZP; SR 0.353.12) und das am 20. September 2012 ergangene dritte Zusatzprotokoll (3. ZP; SR 0.353.14) massgebend.

1.2 Soweit diese Staatsverträge bestimmte Fragen nicht abschliessend regeln, findet auf das Verfahren der Auslieferung ausschliesslich das Recht des er­suchten Staates Anwendung (Art. 22 EAUe ), vorliegend also das Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz, IRSG; SR 351.1) und die dazugehörige Verordnung vom 24. Februar 1982 (Rechtshilfeverordnung, IRSV; SR 351.11; Art. 1 Abs. 1 lit. a IRSG ; BGE 136 IV 82 E. 3.1; 130 II 337 E. 1). Das innerstaatliche Recht gelangt nach dem Günstigkeitsprinzip auch dann zur Anwendung, wenn dieses geringere Anforderungen an die Auslieferung stellt (BGE 142 IV 250 E. 3; 140 IV 123 E. 2; 137 IV 33 E. 2.2.2; 136 IV 82 E. 3.1; 135 IV 212 E. 2.3; 122 II 140 E. 2). Vorbehalten bleibt die Wahrung der Menschenrechte (BGE 135 IV 212 E. 2.3; 129 II 100 E. 3.3; 123 II 595 E. 7c; TPF 2008 24 E. 1.1).

Auf Beschwerdeverfahren in internationalen Rechtshilfeangelegenheiten sind darüber hinaus die Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 20. De­zember 1968 über das Verwaltungsverfahren (Verwaltungsverfahrensgesetz, VwVG; SR 172.021) anwendbar (Art. 39 Abs. 2 lit. b StBOG ).

2.

2.1 Über ausländische Auslieferungsersuchen entscheidet das BJ (vgl. Art. 55 Abs. 1 IRSG ). Macht der Verfolgte geltend, er werde eines politischen Delikts bezichtigt, oder ergeben sich bei der Instruktion ernsthafte Gründe für den politischen Charakter der Tat, so entscheidet die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts darüber auf Antrag des BJ und nach Einholung einer Stellungnahme des Verfolgten (Art. 55 Abs. 2 IRSG ; BGE 130 II 337 E. 1.1.1 S. 339; 128 II 355 E. 1.1.1 S. 357 f.; TPF 2008 24 E. 1.2). Das Verfahren der Beschwerde nach Art. 25 IRSG ist dabei sinngemäss anwendbar (Art. 55 Abs. 3 IRSG ). Die Beschwerdekammer hat nur über die Einrede des politischen Delikts in erster Instanz zu befinden und dem BJ den Entscheid über die übrigen Auslieferungsvoraussetzungen zu überlassen (BGE 130 II 337 E. 1.1.2; 128 II 355 E. 1.1.3-1.1.4 S. 358 f.; TPF 2008 24 E. 1.2 m.w.H.). Gegen diesen Entscheid kann innerhalb von 30 Tagen nach dessen Eröffnung bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts Beschwerde geführt werden (Art. 55 Abs. 3 i.V.m. Art. 25 Abs. 1 IRSG ; Art. 50 Abs. 1 VwVG). Die Frist beginnt an dem auf ihre Mitteilung folgenden Tage zu laufen (Art. 20 Abs. 1 VwVG ).

2.2 Der Beschwerdeführer und Antragsgegner (nachfolgend "Beschwerdeführer") hat im Rahmen des Auslieferungsverfahrens mehrfach geltend gemacht, er werde aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt (vgl. RR.2018.159 act. 1.38, 1.122, 1.125, 1.126 und 1.131 sowie RR.2020.30 act. 1.14). Mit Entscheid vom 20. Januar 2020 bewilligte das BJ die Auslieferung des Beschwerdeführers unter Vorbehalt des Entscheides der Beschwerdekammer über die Einrede des politischen Delikts ( RR.2020.30 act. 1.1) und beantragte der Beschwerdekammer mit Eingabe vom selben Tag, die Einrede des politischen Delikts abzulehnen ( RR.2020.30 act. 1). Die diesbezügliche Stellungnahme des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 55 Abs. 2 IRSG liegt vor ( RR.2020.51 act. 1 und RR.2020.30 act. 5).

Die am 20. Februar 2020 gegen den Auslieferungsentscheid vom 15. Mai 2018 erhobene Beschwerde des Beschwerdeführers erweist sich als fristgerecht. Die übrigen Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.

3. Vorliegend sind das Verfahren betreffend Einrede des politischen Delikts ( RR.2020.51 ) und das Beschwerdeverfahren ( RR.2020.30 ) aufgrund ihrer inhaltlichen Konnexität zu vereinigen.

4.

4.1 Die Beschwerdekammer ist nicht an die Begehren der Parteien gebunden (Art. 25 Abs. 6 IRSG). Sie prüft die Auslieferungsvoraussetzungen grundsätzlich mit freier Kognition. Der Beschwerdekammer steht es frei, einzelne Auslieferungsvoraussetzungen einer Überprüfung zu unterziehen, die nicht Gegenstand der Beschwerde sind. Sie ist jedoch anders als eine Aufsichtsbehörde nicht gehalten, die angefochtene Verfügung von Amtes wegen auf ihre Konformität mit sämtlichen anwendbaren Bestimmungen zu überprüfen (BGE 123 II 134 E. 1d; TPF 2011 97 E. 5; Z IMMERMANN , La Coopération judiciare internationale en matière pénale, 5. Aufl. 2019, N. 522, S. 553).

4.2 Ausserdem muss sich die Beschwerdeinstanz nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzen und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegen. Sie kann sich auf die für ihren Entscheid wesentlichen Punkte beschränken, und es genügt, wenn die Behörde wenigstens kurz die Überlegungen nennt, von denen sie sich leiten liess und auf welche sich ihr Entscheid stützt (BGE 141 IV 249 E. 1.3.1; 139 IV 179 E. 2.2; Urteil des Bundesgerichts 1A.59/2004 vom 16. Juli 2004 E. 5.2 m.w.H.).

5.

5.1 Der Beschwerdeführer macht in einem ersten Punkt geltend, gemäss dem von der Beschwerdekammer mit Entscheid RR.2018.159 /184 vom 5. November 2018 geforderten amtlichen psychiatrischen Gutachten vom 29. Mai 2019 sei der Beschwerdeführer sowohl haft- als auch transportunfähig, weshalb die Auslieferung in reziproker Anwendung des russischen Vorbehalts zu verweigern sei (act. 1 S. 19 ff.).

5.2

5.2.1 Die Beschwerdekammer hatte in ihrem Entscheid RR.2015.213 /231 vom 21. Januar 2016 festgehalten, dass die geltend gemachte Hafterstehungsunfähigkeit des Beschwerdeführers trotz mangelnder einschlägiger Bestimmungen im EAUe und IRSG einer Auslieferung des Beschwerdeführers entgegenstehen könne und damit eine entscheidrelevante Tatsache darstelle, die es abzuklären gelte (bestätigt in Entscheid des Bundesstrafgerichts RR.2018.159 /184 vom 5. November 2018 E. 5.2.2.). Dies gestützt auf den russischen Vorbehalt anlässlich der Ratifikation des EAUe am 10. Dezember 1999 zu Art. 1 EAUe durch Russland und dessen reziproker Anwendung. Der russische Vorbehalt lautet dabei wie folgt: " In accordance with Article 1 of the Convention the Russian Federation shall reserve the right to refuse extradition: [...] c. based on the considerations of humanity, when there are grounds for supposing that the extradition of the person can seriously affect him due to his old age or state of health" [ https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/024/declarations] ). Für die Beantwortung der Frage, welcher Art die gesundheitlichen Gründe sein müssen, damit eine Auslieferung verweigert werden kann, stellte die Beschwerdekammer auf den Begriff der Hafterstehungsunfähigkeit ab und nicht auf den (weniger restriktiven) Wortlaut des russischen Vorbehalts; nämlich wenn mit Sicherheit oder grösster Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass die Haft das Leben oder die Gesundheit des Inhaftierten gefährdet (E. 6.3.2). Daran ist nach wie vor festzuhalten. Die reziproke Anwendung von Vorbehalten hat restriktiv und stets vor dem Hintergrund der in Art. 1 EAUe statuierten Auslieferungsverpflichtung der Vertragsstaaten zu erfolgen. Dies muss umso mehr gelten, als das Prinzip der Reziprozität den ersuchten Staat gerade nicht verpflichtet, sondern diesem erlaubt, dem ersuchenden Staat seinen Vorbehalt entgegenzuhalten.

Die Frage, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers derart ist, dass er dessen Hafterstehungsunfähigkeit bewirkt, ist eine medizinische Frage, zu deren Beantwortung der Beschwerdegegner über die erforderlichen besonderen Fachkenntnisse nicht verfügt, weshalb diese durch einen medizinischen Sachverständigen zu klären ist (Entscheid des Bundesstrafgerichts RR.2015.213 /231 vom 21. Januar 2016 E. 6.3.3.). Insbesondere bei Hinweisen auf suizidale Absichten ist eine psychiatrische Begutachtung anzuordnen, deren Empfehlungen dann im Rahmen einer allfälligen Hafterstehungsfähigkeitsprüfung zu berücksichtigen sind (vgl. Entscheid des Bundesstrafgerichts RR.2018.159 /184 vom 5. November 2018 E. 5.3.4, unter Hinweis auf Ziff. 3.4.3 lit. c der Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats der nordwest- und Innerschweizer Kantone betreffend die Hafterstehungsfähigkeit vom 25. November 2016).

5.2.2 Die Beschwerdekammer kam in ihren Rückweisungsentscheiden RR.2015.213 /231 und RR.2018.159 /184 vom 21. Januar 2016 und 5. November 2018 jeweils zum Schluss, dass der Beschwerdegegner die Hafterstehungsfähigkeit des Beschwerdeführers nicht abschliessend abgeklärt und daher den Untersuchungsgrundsatz von Art. 12 VwVG verletzt habe. Die Beschwerdekammer bemängelte, dass es der Beschwerdegegner unterlassen habe, eine psychiatrische Begutachtung des Beschwerdeführers anzuordnen, obschon Hinweise auf suizidale Absichten des Beschwerdeführers bestanden hätten und ungeklärt geblieben sei, ob die von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) mit Bericht vom 17. August 2015 diagnostizierte depressive Störung des Beschwerdeführers und die festgestellte Hafterstehungsunfähigkeit vorübergehender Natur oder dauerhaft seien ( RR.2015.213 /231 E.6.3.4 f. und RR.2018.158 /184 E. 5.3.5). Die Anordnung eines polydisziplinären Gutachtens drängte sich nach Auffassung der Beschwerdekammer nicht auf, da keinerlei Hinweise dafür bestanden, dass die Hafterstehungsunfähigkeit des Beschwerdeführers aus neurologischer oder kardiologischer Sicht zu bejahen sei (vgl. Entscheid RR.2018.159 /184 vom 5. November 2018 E. 5.3.5). Mit Entscheid RR.2018.159 /184 vom 5. November 2018 wies die Beschwerdekammer den Beschwerdegegner an, einen psychiatrischen Sachverständigen zu beauftragen, um die Hafterstehungsfähigkeit des Beschwerdeführers und die in diesem Zusammenhang immer noch offenen Fragen zu klären (a.a.O. E. 5.3.5).

5.2.3 Vor diesem Hintergrund beauftragte der Beschwerdegegner mit Schreiben vom 7. März 2019 Dr. D., unter Beizug von Dr. G., vom Forensisch-Psychiatrischen Dienst der Universität Bern mit der amtlichen Begutachtung des Beschwerdeführers, nachdem er dem Beschwerdeführer vorgängig Gelegenheit eingeräumt hatte, allfällige Abänderungs- und Ergänzungsanträge zu den Fragen zu stellen sowie allfällige Einwendungen gegen die vorgesehenen Sachverständigen vorzubringen ( RR.2020.30 act. 1.3 und act. 1.5).

5.3

5.3.1 Das 74 Seiten umfassende amtliche Gutachten wurde am 29. Mai 2019 erstellt. Darin verweisen die Gutachter einleitend auf die ihnen zur Verfügung gestellten ärztlichen Berichte, Privatgutachten und administrativen Akten. Das Gutachten enthält ferner die Anamnese, die Darstellung des Befundes der persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers in dessen Wohnung in Z. am 16. April 2019 (160 Minuten) und am 10. Mai 2019 (80 Minuten), eine Wiedergabe von fremdanamnetischen Angaben durch die Ehefrau und den Sohn des Beschwerdeführers sowie die Diagnosen eines Status im Rahmen einer fortgeschrittenen Morbus-Parkinson-Erkrankung mit einer chronifizierten schweren depressiven Episode. Es lägen ferner erhebliche kognitive Dysfunktionen vor, welche aufgrund der negativen Dynamik eine zusätzliche organisch bedingte Störung im Sinne einer Demenz sehr wahrscheinlich mache. Weitere Diagnosen (anamnetisch) seien: essenzieller Tremor, ED 28.07.2017, Vd. a. Bein- und distalbetonte sensibel betonte Polyneuropathie (PNP), ED 05/2015, mässiggradige rechtsbetonte Atheromatose der extrakraniellen hirnversorgenden Gefässe 06/2015, wahrscheinlich vaskulär bedingte zerebrale Läsion im Bereich des hinteren Balkens links, MRI 03/2008 ohne Ödem oder raumfordernde Wirkung, essentielle arterielle Hypertonie mit rezidivierenden Blutdruckentgleisungen.

Das Gutachten hält zusammengefasst fest, dass der Beschwerdeführer an einer komplexen neuropsychiatrischen Problematik im Rahmen des Morbus Parkinson leide. Dazu gehöre neben der relativ typischen depressiven Entwicklung i.S. einer schweren Depression auch eine demenzielle Entwicklung. Beim Beschwerdeführer seien folgende alltagsrelevante Einschränkungen feststellbar: Die Sprache und die Handschrift seien stark beeinträchtigt. Im Rahmen der Antriebsstörungen und emotionalen Auffälligkeiten werde die Kommunikationsfähigkeit zusätzlich beeinträchtigt. Speisen müssten für den Beschwerdeführer von Hilfspersonen geschnitten bzw. mundgerecht vorbereitet werden. Beim Ankleiden sei Hilfe nötig. Der Beschwerdeführer brauche beim Duschen und Baden Hilfe und sei bei der Körperpflege sehr langsam. Es komme gelegentlich zu Stürzen. Beim Laufen bestünden mässige Schwierigkeiten und der Beschwerdeführer sei nicht in der Lage, seinen Alltag und seine Alltagsaktivitäten zu planen und zu organisieren. So brauche er beispielsweise Hilfe bei der Einnahme der Medikation. Insgesamt sei der Beschwerdeführer im Vergleich zu gleichaltrigen Personen krankheitsbedingt schwer eingeschränkt. Insbesondere in Bezug auf die motorischen Fähigkeiten und Selbständigkeiten, aber auch bezogen auf die kognitive Leistungsfähigkeit sei von einer langsamen Verschlechterungstendenz auszugehen. Der Beschwerdeführer sei schwer eingeschränkt und hilfebedürftig. Der tägliche Betreuungsaufwand durch eine ausgebildete Pflegeperson im häuslichen Umfeld sei auf ca. 1.5 bis 2 Stunden zu schätzen. Aus gutachterlicher Sicht sei der Beschwerdeführer auf eine intensive pflegerische Unterstützung angewiesen. Es sei davon auszugehen, dass diese krankheitsbedingten Einschränkungen erst in den letzten Jahren im Rahmen der progredienten neuropsychiatrischen Problematik verstärkt aufgetreten seien. Eine erhebliche Verbesserung könne auch im Rahmen einer adäquaten (z.B. stationären) Behandlungen nicht erwartet werden. Prognostisch sei von weiterer langsamer Progredienz mit Zunahme der Pflegebedürftigkeit auszugehen. Die Frage, ob der Beschwerdeführer aktuell transportfähig (insbesondere Transport in einem Flugzeug) sei, beantworten die Gutachter wie folgt: Mit Bezug auf einen zwangsweisen Transport handle es sich beim Beschwerdeführer um einen Hoch-Risikofall. Da potenziell absolute Kontraindikationen vorliegen würden bzw. in der Stresssituation exazerbieren könnten, müsse letztlich eine Untersuchung unmittelbar vor dem Transport erfolgen, um das medizinische Risiko einzuschätzen. Eine medizinische Begleitung werde sehr wahrscheinlich notwendig sein. Die Gutachter führen zur Transportfähigkeit ferner aus, dass es gemäss Vorschlag der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der Akademie der Wissenschaften Schweiz keine evidenz-basierten Kriterien zur Bescheinigung der Transportfähigkeit gäbe, sondern es könne lediglich geprüft werden, ob Kontraindikationen vorlägen, die eine zwangsweise Rückführung ausschliessen würden. Kontraindikationen sollten in einem individuellen Risikoprofil erfasst werden, welches auch die potenziellen Auswirkungen der Zwangssituation zu berücksichtigen habe. Beim Beschwerdeführer könnten die potenziellen Kontraindikationen bzw. Risiken für einen Transport im Passagierflugzeug in einer unkontrollierten Hypertonie (z.B. hypertensive Krisen, auch orthastatische Hypotonien etc.) sowie in einer akuten psychischen Erkrankung (vor allem suizidale Krise) liegen. Beim Beschwerdeführer handle es sich grundsätzlich um einen Risikoprobanden, welcher aufgrund des Alters und der psychischen und somatischen Komorbitäten stärker betroffen sei, als die Mehrheit der Patienten in der Ausschaffungshaft. Bei den erwähnten beiden Punkten würde es sich nicht um statische, d.h. dauerhaft in einem gleichen Ausmass vorhandene medizinische Zustände handeln. Es müsse davon ausgegangen werden, dass eine Zwangsauslieferung und ein Zwangstransport diese möglichen akuten Zustände triggern werde. Unter dem Titel «Einschätzung der Suizidalität» halten die Gutachter sodann fest, es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer angesichts der positiven Vorgeschichte von Suizidversuchen (oder Gedanken), aktuellen Ängsten und Schlafproblemen, bei Vorhandensein der aktuellen Belastung/Konfliktsituation, der sozialen Isolation und angesichts der familiären Belastung mit Suizid ein hohes Basisrisiko für zukünftige Suizidversuche vorliege. Es müsse aus gutachterlicher Sicht einschränkend festgehalten werden, dass die langfristige Einschätzung der Sui­zi­da­li­tät z.B. anhand von Risikofaktoren, insbesondere auch unter Berücksichtigung der variablen Umweltbelastungen und möglich potentiellen Stressoren naturgemäss nur unzuverlässig möglich sei. Berücksichtige man die zukünftigen Szenarien, sei davon auszugehen, dass im Falle der Inhaftierung die wichtigsten protektiven Faktoren (familiäre Unterstützung, stabilisierende Partnerschaft) hinfällig würden und das Risiko, Suizidversuche zu begehen, auch im Vergleich zu anderen Gefangenen als sehr hoch zu werten sei. Die Gutachter halten ferner fest, anlässlich der persönlichen Begutachtung des Beschwerdeführers habe dieser mitgeteilt, dass er häufig daran denke, sein Leben zu beenden. Das einzige, was ihn davon abhalte, sei seine Ehefrau. Er mache sich ständige Gedanken, insbesondere wenn er sich monatlich bei der Polizei melden müsse und auch vor diversen anstehenden Terminen. Er grüble häufig in der Nacht, wenn er nicht schlafen könne. Falls er eine «schlechte Nachricht» hinsichtlich seiner Auslieferung nach Russland bekomme, werde er sich hinter dem Haus von der Treppe stürzen. Die Ehefrau des Beschwerdeführers habe ihrerseits erwähnt, dass ihr Ehemann immer wieder Suizidpläne anspreche. Er wolle damit aus seiner Sicht die Familie entlasten. Er habe Vorschläge gemacht, man solle ihm alle Medikamente zusammen geben, damit er «weg sei». Auch habe er bereits früher angesprochen, sich mit dem Messer umzubringen. In der letzten Zeit spreche er häufig darüber, hinter dem Haus von der grossen Treppe herunter zu springen. Im Jahre 2017 habe er auch versucht, im Einkaufszentrum in Z. über das Geländer zu steigen, anscheinend in suizidaler Absicht, was von der Ehefrau habe verhindert werden können. Schliesslich halten die Gutachter fest, dass die pflegerischen Bedürfnisse des Beschwerdeführers derart hoch seien, dass auch die Spezialabteilungen der Schweizer Justizvollzugsanstalten, namentlich die Abteilung 60plus im Zentralgefängnis der JVA Lenzburg sowie die entsprechende Abteilung im JVA Pöschwies, mit dem Betreuungsaufwand des Beschwerdeführers überfordert wären ( RR.2020.30 act. 1.6).

5.3.2 Zunächst ist festzuhalten, dass weder vom Beschwerdeführer noch vom Beschwerdegegner formelle oder materielle Mängel im Gutachten vom 29. Mai 2019 geltend gemacht werden und das Vorliegen solcher auch nicht ersichtlich ist. Die Ausführungen im Gutachten sind somit für die Beurteilung der Hafterstehungs- und Transportfähigkeit des Beschwerdeführers zu berücksichtigen. Davon darf nicht ohne triftige Gründe abgewichen werden (BGE 141 IV 369 E. 6.1). Es ist nachfolgend zu prüfen, ob die im amtlichen Gutachten attestierte chronifizierte schwere depressive Episode sowie das Suizidrisiko des Beschwerdeführers dergestalt ist, dass die Hafterstehungsunfähigkeit des Beschwerdeführers bejaht werden muss.

5.4

5.4.1 Eine Person gilt als nicht hafterstehungsfähig, wenn mit Sicherheit oder grösster Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass die Haft sein Leben gefährden bzw. dessen Gesundheit schwerwiegend beeinträchtigen wird (vgl. im Allgemeinen dazu Graf , Hafterstehungsfähigkeit, in: Brägger [Hrsg.], Das Schweizerische Vollzugslexikon, 2014, S. 231 ff.). Zu beachten ist jedoch, dass die Inhaftierung für den Betroffenen immer ein Übel darstellt, das vom einen besser, vom anderen weniger gut ertragen wird. Die blosse Möglichkeit, dass Leben oder Gesundheit des Inhaftierten gefährdet sein könnten, genügt nicht. Selbst wenn mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist, dass die Haft das Leben oder die Gesundheit des Inhaftierten gefährdet, ist stets eine Interessensabwägung vorzunehmen, wobei neben den medizinischen Gesichtspunkten Art und Schwere der vorgeworfenen Straftat und die Dauer der zu erwartenden Strafe mitzuberücksichtigen sind. Dies gilt dem Grundsatz nach auch für den Fall, dass das Leben des Inhaftierten durch Suizid gefährdet wird. Verlangt wird hier jedoch eine erhöhte Zurückhaltung. Ausserdem ist eine Aufhebung der Haft solange nicht in Betracht zu ziehen, als die Gefahr der Selbsttötung durch geeignete Massnahmen im Vollzug erheblich reduziert werden kann (vgl. dazu die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Hafterstehungsfähigkeit im Strafvollzug, auf die im Auslieferungsverfahren verwiesen werden kann, etwa in BGE 108 Ia 69 E. 2c/d und Urteil des Bundesgerichts 1P.299/2006 vom 14. August 2006, E. 3.2; vgl. auch Entscheid der Bundesstrafgerichts RH.2015.10 vom 10. Juni 2015, E. 4.2.1). Selbst bei Vorliegen eines Suizidrisikos ist jedoch stets eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei neben den medizinischen Gesichtspunkten Art und Schwere der begangenen Straftat und die Dauer der Strafe mitzuberücksichtigen sind (Urteil des Bundesgerichts 1P.65/2004 vom 17. Mai 2004 E. 5.2.1 m.w.H.).

5.4.2 Der Beschwerdegegner ist zunächst der Ansicht, bei der attestierten Depression des Beschwerdeführers sowie der angehenden Demenz handle es sich um übliche Begleiterscheinungen des Morbus Parkinson. Sicherlich sei der Umstand, dass der Beschwerdeführer allenfalls nach Russland ausgeliefert werden könnte, nicht hilfreich und möge die Symptome gar verstärken. Letztlich sei aber jeder Auszuliefernde mit gebrechlicher Gesundheit Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Hinzukomme, dass der Beschwerdeführer in Russland mindestens 50 Mio. Rubel (rund USD 900'000.--) veruntreut haben solle und ihm dafür bis zu 10 Jahre Haft drohen würden. Insgesamt sei das Strafverfolgungsinteresse als schwer zu gewichten ( RR.2020.30 act. 1.1. S. 33).

5.4.3 Im Gutachten von 29. Mai 2019 wird von einer chronifizierten depressiven Störung mit fehlendem Ansprechen auf eine Therapie ausgegangen. Dies lasse sich durch die komorbide neurologische Erkrankung und die kognitiven Dysfunktionen gut erklären. Die Gutachter haben den Schweregrad der Depression mittels Hamilton-Depression-Rating-Skala (HAMD 17) ermittelt, wobei sie zu einem Ergebnis von 26 Punkten gekommen seien. Dies entspreche einer schweren Ausprägung der depressiven Symptome. Hinsichtlich der Einschätzung des langfristigen (Basis-)Suizidrisiko haben sich die Gutachter der sog. NGASR-Skala (Nurses Global Assessment of Suicide Risk-Skala) bedient und sind dabei auf eine Summe von 16 Punkten gekommen, wobei ab 12 Punkten und mehr von einem sehr hohen Suizidrisiko auszugehen sei. Bei der Bewertung sind insbesondere die Risikofaktoren Hoffnungslosigkeit, deutliche Hinweise auf Depression, Verlust von Interesse oder Verlust von Freude, deutliche Hinweise auf einen Plan zur Suizidausführung und frühere Suizidversuche stärker bewertet worden. Die Gutachter halten ferner fest, dass auch in der klinischen Einschätzung nach Berman 2018 davon auszugehen sei, dass beim Beschwerdeführer angesichts der positiven Vorgeschichte von Suizidversuchen (oder Gedanken), aktuellen Ängsten und Schlafproblemen, bei Vorhandensein der aktuellen Belastung/Konfliktsituation, der sozialen Isolation und angesichts der familiären Belastung mit Suizid ein hohes Basisrisiko für zukünftige Suizidversuche vorliege. Die wichtigsten protektiven Faktoren seien die familiäre Unterstützung und die stabilisierende Partnerschaft. Ohne diese sei das Risiko Suizidversuche zu begehen als sehr hoch einzustufen ( RR.2020.30 act. 1.6).

Entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners handelt es sich bei der diagnostizierten schweren depressiven Episode nicht einfach um eine «Unannehmlichkeit», die der Beschwerdeführer im Rahmen der Auslieferung hinzunehmen hat. Die Gutachter haben überzeugend dargelegt, dass es sich um eine schwere chronifizierte depressive Episode handelt, die nicht therapierbar sei und bei der ein sehr hohes Suizidrisiko bestehe, wenn die wichtigsten protektiven Faktoren, wie familiäres Umfeld bzw. stabile Partnerschaft, wegfielen. Darauf ist abzustellen. Triftige Gründe weshalb von den Ausführungen im amtlichen Gutachten abgewichen werden müsste, werden weder geltend gemacht, noch sind solche ersichtlich. Diese Beurteilung deckt sich im Übrigen weitgehend auch mit dem Ergebnis der zahlreichen, über die Jahre vom Beschwerdeführer eingereichten Privatgutachten und ärztlichen Berichten (vgl. hierzu Entscheide des Bundesstrafgerichts RR.2015.213 /231 vom 21. Januar 2016 E. 6.3.4 und RR.2018.159 /184 vom 5. November 2018 E. 5.3.3). Zu berücksichtigen ist zudem, dass das amtliche Gutachten vor mehr als einem Jahr erstellt worden ist. In Anbetracht der sich stetig verschlimmernden Erkrankung des Beschwerdeführers ist nicht auszuschliessen, dass sich die Depression weiter verstärkt und die Suizidalität erhöht hat. Da eine Inhaftierung - und sei sie auch nur vorübergehend - oder auch die Unterbringung in einer «anderen Behandlungseinrichtung» (vgl. supra lit. GG) zwingend mit dem Wegfall der für den Beschwerdeführer wichtigsten protektiven Faktoren einhergeht, ist aufgrund des amtlich attestierten sehr hohen Suizidrisikos mit grösster Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass die Haft bzw. die anderweitige Unterbringung das Leben des mittlerweile 75-jährigen Beschwerdeführers gefährdet. Damit ist von einer Hafterstehungsunfähigkeit des Beschwerdeführers auszugehen. Diese Überlegungen halten auch vor dem Hintergrund der dem Beschwerdeführer durch die russischen Behörden gestützt auf den Haftbefehl des Bezirksgerichts Meschanskij der Stadt Moskau vom 4. August 2008 vorgeworfenen Vermögensdelikte stand. Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, umgerechnet ca. USD 900'000.-- veruntreut zu haben, wobei ihm Haft bis zu zehn Jahre drohe. Zu beachten ist jedoch, dass es sich hierbei um die abstrakte Höchststrafe und nicht um die konkret zu erwartende Strafe handelt, die naturgemäss tiefer ausfällt. Gemäss den Ausführungen des Beschwerdegegners kann der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Sachverhalt nach schweizerischem Recht unter Art. 138 StGB , allenfalls unter Art. 158 StGB oder Art. 312 StGB subsumiert werden. Als Sanktion sehen diese Delikte eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von höchstens 5 Jahren vor (allenfalls höchstens 10 Jahre bei einer Qualifikation nach Art. 138 Abs. 2 StGB ). Die Art und Schwere der begangenen Straftat und die Dauer der zu erwartenden Strafe, die mutmasslich tiefer als die abstrakte Höchststrafe ist, rechtfertigen jedenfalls nicht, den Beschwerdeführer einer derart konkreten Lebensgefährdung auszusetzen. Dies auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um Straftaten handeln soll, die zwischen 2003 und 2007 begangen worden seien. Nach Schweizer Rechtsauffassung wäre in einem solchen Fall mindestens eine Strafmilderung gemäss Art. 48 lit. e StGB obligatorisch (vgl. BGE 132 IV 1 E. 6.2). Auch unter dem Blickwinkel der Rechtsgüterabwägung sind daher keine Gründe ersichtlich, den Beschwerdeführer einem so hohen Todesrisiko auszusetzen. Der Frage, ob der Hafterstehungsunfähigkeit mit den von den russischen Behörden abgegebenen Garantien begegnet werden könne, braucht vorliegend nicht geprüft zu werden, da es auch an der Transportfähigkeit des Beschwerdeführers mangelt, wie sogleich zu zeigen sein wird.

5.5

5.5.1 Zur Frage, ob eine Person transportfähig ist, hat die Zentrale Ethikkommission (ZEK) der Akademie für Wissenschaften eine Kontraindikationsliste erarbeitet für die zwangsweise Rückführungen (Ausschaffungen) auf dem Luftweg https://www.samw.ch/de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Medizin-im-Straf-und-Massnahmenvollzug/Zwangsweise-Rueckfuehrung-von-Personen.html . Auch wenn die Auslieferung von der fremdenpolizeilichen Massnahme der Ausweisung bzw. Ausschaffung zu unterscheiden ist, kann diese Liste ohne Weiteres auch zur Beurteilung der Transportfähigkeit von Auszuliefernden herangezogen werden, wenn diese - wie vorliegend - auf dem Luftweg zu geschehen hat (vgl. dazu die entsprechende Frage des Beschwerdegegners an die Sachverständigen Dr. D. und Dr. G.: «Ist der Verfolgte aktuell transportfähig [insbesondere Transport in einem Flugzeug]?», RR.2020.30 act. 1.3).

Wenn eine der Diagnosen auf der Liste vorliegt - worunter beispielsweise bestimmte kardiovaskuläre oder psychiatrische Erkrankungen fallen -, muss davon ausgegangen werden, dass ein Flug nicht in Frage kommt. Aber auch bei Krankheiten, die die strikten Kriterien auf der Liste nicht erfüllen, kann eine zwangsweise Rückführung eine inakzeptable Gesundheitsgefährdung bedeuten. Dies kann einerseits durch die Kombination mehrerer Krankheiten zustande kommen, andererseits durch eine Verstärkung von Krankheitssymptomen durch die speziellen Bedingungen der zwangsweisen Rückführung. Der unter Umständen extrem hohe psychische Stress erhöht den Sauer­stoff­be­darf, die Anforderungen an das Herzkreislaufsystem und das Thromboserisiko. Dabei ist zu beachten, dass eine zusätzliche Immobilisation zu einer weiteren Erhöhung des Thromboserisikos und bei einer allfälligen Behinderung der Atmung zu einer Verstärkung der Hypoxämie führt (vgl. Kontraindikationsliste, abrufbar auf: https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/aktuell/news/2014/2014-12-16.html ).

5.5.2 Im Gutachten vom 29. Mai 2019 wird auf das Vorhandensein folgender absoluter Kontraindikationen gemäss obgenannter Liste hingewiesen: unkontrollierte Hypertonie und akute psychische Erkrankungen. Beim Beschwerdeführer handle es sich grundsätzlich um einen Risikoprobanden, der aufgrund des Alters und der psychischen und somatischen Komorbitäten stärker betroffen sei, als die Mehrheit der Patienten in der Ausschaffungshaft. Bei den erwähnten beiden Kontraindikationen handle es sich nicht um statische, d.h. dauerhaft in einem gleichen Ausmass vorhandene medizinische Zustände. Es müsse jedoch davon ausgegangen werden, dass eine Zwangsauslieferung und ein Zwangstransport diese möglichen akuten Zustände triggern werde. Es könne festgestellt werden, dass es sich in Bezug auf die zwangsweise Transportfähigkeit um einen Hoch-Risikofall handle ( RR.2020.30 act. 1.6 S. 64). Da beim Beschwerdeführer potentiell absolute Kontraindikationen vorliegen, muss davon ausgegangen werden, dass ein Flug nicht in Frage kommt und er nicht transportfähig ist. Unbehelflich ist in diesem Zusammenhang der vom Beschwerdegegner gemachte Hinweis auf das Urteil des Bundesgerichts 1C_433/2019 vom 2. September 2019, wonach die niederländischen Behörden bei einer erfolgten Auslieferung an die Niederlande einen «vol médical» organisiert hätten. Sowohl die Hafterstehungsfähigkeit wie auch die Transportfähigkeit sind jeweils im Einzelfall zu prüfen. Der Umstand, dass eine an Leukämie erkrankte Person an die Niederlande ausgeliefert worden ist - über deren Alter und allfällige weitere schwere Erkrankungen im Übrigen nichts bekannt ist -, bedeutet nicht, dass deshalb die Transportfähigkeit des Beschwerdeführers bejaht werden müsste.

6. Nach dem Gesagten steht vorliegend die mangelnde Hafterstehungs- und Transportfähigkeit des Beschwerdeführers gestützt auf die reziproke Anwendung des von Russland anlässlich der der Ratifikation des EAUe am 10. Dezember 1999 zu Art. 1 EAUe gemachten Vorbehalts der Auslieferung des Beschwerdeführers entgegen, weshalb die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Russland zu verweigern ist. In casu ist die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers zudem so gravierend, dass auch ohne entsprechenden Vorbehalt eine Auslieferung wegen des allgemeinen Menschenrechtsvorbehalts (vgl. supra E. 1.2) ausgeschlossen sein könnte. Auf diese Frage braucht vorliegend jedoch nicht besonders eingegangen zu werden. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid vom 20. Januar 2020 ist aufzuheben. Das Verfahren betreffend Einrede des politischen Delikts ( RR.2020.30 ) ist als gegenstandslos geworden abzuschreiben.

7. Steht der Auslieferung die mangelnde Hafterstehungs- und Transportfähigkeit des Beschwerdeführers entgegen, ist der Auslieferungshaftbefehl des BJ vom 25. März 2015 aufzuheben. Demzufolge ist auch die Verfügung des Beschwerdegegners vom 19. August 2015 betreffend Ersatzmassnahmen aufzuheben.

8.

8.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 VwVG ). Der Kostenvorschuss von Fr. 3'000.-- ist dem Beschwerdeführer zurückzuerstatten.

8.2 Der Beschwerdegegner hat dem Beschwerdeführer für seine Aufwendungen im vorliegenden Verfahren eine Parteientschädigung von pauschal Fr. 6'000.-- (inkl. allfällige MwSt.) zu entrichten (Art. 64 Abs. 1 und 5 VwVG ; Art. 73 StBOG und Art. 5 und 8 Abs. 1 BStKR ).


Demnach erkennt die Beschwerdekammer:

1. Die Verfahren RR.2020.30 und RR.2020.51 werden vereinigt.

2. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Auslieferungsentscheid des Bundesamts für Justiz vom 20. Januar 2020 wird aufgehoben.

3. Das Verfahren betreffend Einrede des politischen Delikts wird als gegenstandslos geworden abgeschrieben.

4. Der Auslieferungshaftbefehl des Bundesamtes für Justiz vom 25. März 2015 wird aufgehoben.

5. Die Verfügung des Bundesamtes für Justiz vom 19. August 2015 betreffend Ersatzmassnahmen wird aufgehoben.

6. Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

7. Die Kasse des Bundesstrafgerichts wird angewiesen, dem Beschwerdeführer den geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 3'000.-- zurückzuerstatten.

8. Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren mit Fr. 6'000.-- zu entschädigen.

Bellinzona, 19. August 2020

Im Namen der Beschwerdekammer
des Bundesstrafgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin :

Zustellung an

- Rechtsanwälte Simone Nadelhofer, Sandrine Giroud und Dominik Elmiger

- Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung

Rechtsmittelbelehrung

Gegen Entscheide auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen kann innert zehn Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht Beschwerde eingereicht werden (Art. 100 Abs. 1 und 2 lit. b BGG ).

Gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ist die Beschwerde nur zulässig, wenn er eine Auslieferung, eine Beschlagnahme, eine Herausgabe von Gegenständen oder Vermögenswerten oder eine Übermittlung von Informationen aus dem Geheimbereich betrifft und es sich um einen besonders bedeutenden Fall handelt (Art. 84 Abs. 1 BGG ). Ein besonders bedeutender Fall liegt insbesondere vor, wenn Gründe für die Annahme bestehen, dass elementare Verfahrensgrundsätze verletzt worden sind oder das Verfahren im Ausland schwere Mängel aufweist (Art. 84 Abs. 2 BGG ).

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