Bundesgerichtsentscheid

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Bundesgerichtsentscheid 147 I 161 vom 03.08.2020

Dossiernummer:147 I 161 - neu: 1C_586/2019
Datum:03.08.2020
Schlagwörter (i):Beschwerde; Veranstaltung; Beschwerdeführerin; Polizei; Gefährdung; Recht; Polizeiliche; Versammlung; Kanton; Gefahr; Mittelbar; Grund; Verbot; Kantons; Unmittelbar; Basel; Versammlungsfreiheit; Sicherheit; Recht; Massnahme; Kantonsgericht; Generalklausel; Basel-Landschaft; Schutz; Erheblich; Erhebliche; Hinweis; Gesetzlich; Urteil

Rechtsnormen:

BGE: 143 I 147, 137 I 31, 126 I 112, 121 I 22, 111 IA 246, 137 II 431, 136 IV 97, 131 II 743, 132 I 256, 127 I 164, 124 I 267

Artikel: Art. 22 EMRK , Art. 21 UNO-Pakt II, Art. 3 BV , § 6 Abs. 2 lit. d KV/BL, Art. 22 BV , Art. 36 BV , Art. 36 BV , Art. 1 BV

Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Urteilskopf

147 I 161


11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Isviçre Türk Federasyon gegen Regierungs- rat des Kantons Basel-Landschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_586/2019 vom 3. August 2020

Regeste

Art. 22 BV, Art. 11 EMRK, Art. 21 UNO-Pakt II, § 6 Abs. 2 lit. d KV/BL; Versammlungsfreiheit im Zusammenhang mit dem Verbot einer Veranstaltung im privaten Raum; allgemeine Polizeiklausel als gesetzliche Grundlage und Verhältnismässigkeit des Verbots; Begriff des Störers.
Schutzgehalt der Versammlungsfreiheit (E. 4).
Der Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel als gesetzliche Grundlage für einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist grundsätzlich auf unvorhersehbare Notfälle beschränkt, ausser wenn es um die Abwehr einer ernsten, unmittelbaren und nicht anders abwendbaren Gefahr für fundamentale Rechtsgüter geht; Ausnahme im vorliegenden Fall bejaht (E. 5).
Eine polizeiliche Massnahme wie ein Veranstaltungsverbot darf sich grundsätzlich nur gegen den Störer richten. Geht die Gefahr von Gegenveranstaltungen aus, kann auch der Veranstalter des ursprünglichen Anlasses als Zweckveranlasser Störer sein (E. 6).
Im privaten Raum sind beschränkende staatliche Massnahmen nur mit grösserer Zurückhaltung zulässig als im öffentlichen Bereich. Im vorliegenden Fall wurde die Verhältnismässigkeit aufgrund der kurzen Reaktionszeit für die Behörden und wegen eingeschränkter Kapazitäten bei den Polizeikräften bejaht (E. 7).

Sachverhalt ab Seite 162

BGE 147 I 161 S. 162

A. Die Vereinigung Isviçre Türk Federasyon (ITF, Türkische Föderation Schweiz) plante für Samstag, 18. März 2017, ab 18.00 Uhr eine
BGE 147 I 161 S. 163
Gedenkveranstaltung zur Schlacht von Gallipoli in einem Saal in Reinach/BL. Nachdem die Polizei Basel-Landschaft am Tag zuvor erfahren hatte, dass zu Gegenveranstaltungen aufgerufen wurde, verbot sie am 17. März 2017 gestützt auf die polizeiliche Generalklausel die Veranstaltung sowie deren Verlegung an eine andere Örtlichkeit im Kanton Basel-Landschaft und untersagte sämtliche Veranstaltungen auf dem Gebiet der Gemeinde Reinach am Samstag, 18. März 2017, für oder gegen die verbotene Gedenkveranstaltung. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, es handle sich bei den Eingeladenen der geplanten Veranstaltung um Sympathisanten der türkischen Partei Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) und bei den Organisationen und Gruppierungen, die zu Gegenveranstaltungen aufriefen, um solche aus dem Bereich der Antifa und von Kurdenbewegungen. Angesichts der Militanz dieser Gruppierungen und der politischen Spannungen bestehe ein konkretes, hohes Potenzial für gewaltsame Auseinandersetzungen, wobei auch mit dem Einsatz von Waffen oder Schlaginstrumenten zu rechnen sei. Es sei daher von einer grossen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auszugehen.
Gegen diese Verfügung erhob die Vereinigung Isviçre Türk Federasyon am 26. März 2017 Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft. Dieser trat darauf am 20. Juni 2017 wegen Fehlens eines aktuellen Rechtsschutzinteresses nicht ein. Mit Urteil vom 7. Februar 2018 hiess das Kantonsgericht, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, des Kantons Basel-Landschaft eine dagegen erhobene Beschwerde gut, soweit es darauf eintrat, und wies die Streitsache zur materiellen Beurteilung an den Regierungsrat zurück. Am 16. Oktober 2018 wies dieser die Beschwerde ab, soweit er darauf eintrat. Im Wesentlichen führte er dazu aus, die Situation habe sich innert weniger Tage zugespitzt und ein unverzügliches polizeiliches Handeln erfordert. Wegen des am selben Abend angesetzten und als Hochrisikospiel eingestuften Fussballmatches zwischen dem FC Basel und dem Grasshopper Club Zürich seien starke Einsatzkräfte gebunden gewesen, so dass die Polizei kurzfristig nicht genügend personelle Ressourcen habe mobilisieren können, um die Veranstaltung in Reinach adäquat zu schützen. Aufgrund der unvorhersehbaren, plötzlich entstandenen unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie für Leib und Leben der Veranstaltungsteilnehmer lasse sich das Veranstaltungsverbot auf die polizeiliche Generalklausel stützen.
BGE 147 I 161 S. 164
Erfolgversprechende alternative Handlungsoptionen seien nicht offen gestanden. Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit sei zur Abwendung der Gefährdung fundamentaler Rechtsgüter geeignet und erforderlich und daher zulässig gewesen.

B. Mit Urteil vom 26. Juni 2019 wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsgericht, eine dagegen erhobene Beschwerde der Vereinigung Isviçre Türk Federasyon ab, soweit es darauf eintrat. (...)

C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (...) vom 7. November 2019 an das Bundesgericht beantragt die Vereinigung Isviçre Türk Federasyon, das Urteil des Kantonsgerichts aufzuheben; eventuell sei die Streitsache an dieses zurückzuweisen. (...) In der Sache wird (...) ein Verstoss gegen die Versammlungsfreiheit gerügt; weder lasse sich das Veranstaltungsverbot auf die polizeiliche Generalklausel stützen noch sei es verhältnismässig.
(...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Auszug)
Aus den Erwägungen:

Erwägungen

4.

4.1 Die Beschwerdeführerin rügt einen Verstoss gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 22 BV sowie gegen weitere Grund- und Menschenrechte gleichen Gehalts. Das gegen ihre Veranstaltung ausgesprochene Verbot verfüge nicht über eine ausreichende gesetzliche Grundlage und sei unverhältnismässig.

4.2 Die Versammlungsfreiheit wird durch § 6 Abs. 2 lit. d der Verfassung des Kantons Basel-Landschaft vom 17. Mai 1984 (KV/BL; SR 131.222.2), Art. 22 BV sowie Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO- Pakt II (SR 0.103.2) gewährleistet. Massgebend ist dabei vorab Art. 22 BV bzw. die Rechtsprechung des Bundesgerichts dazu, da die entsprechenden übrigen grund- und menschenrechtlichen Garantien hinsichtlich Inhalt und Umfang des Schutzes nicht über die Gewährleistung der Bundesverfassung hinausgehen. Nach Art. 22 Abs. 2 BV hat jede Person das Recht, Versammlungen zu organisieren, daran teilzunehmen oder davon fernzubleiben. Zu den Versammlungen gehören unterschiedliche Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation zu einem weit verstandenen gemeinsamen Zweck, wobei hier offenbleiben
BGE 147 I 161 S. 165
kann, wieweit allenfalls qualitative Anforderungen an diesen Zweck zu stellen sind (vgl. BGE 143 I 147 E. 3.1 S. 151 f.; BGE 137 I 31 E. 6.1 S. 44 mit Hinweisen; CHRISTOPH ERRASS, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Ehrenzeller und andere [Hrsg.], Bd. I, 3. Aufl. 2014, N. 9 ff. zu Art. 22 BV; MAYA HERTIG, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, Waldmann und andere [Hrsg.], 2015, N. 3 ff. zu Art. 22 BV). Wie jedes Grundrecht kann auch die Versammlungsfreiheit nach Massgabe von Art. 36 BV, d.h. gestützt auf eine gesetzliche Grundlage, im öffentlichen Interesse und unter Wahrung der Verhältnismässigkeit sowie des Kerngehaltes, eingeschränkt werden. Die von der Beschwerdeführerin geplante Veranstaltung fällt in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Als Organisatorin ist sie Grundrechtsträgerin, und das Verbot greift in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ein. Die Rechtmässigkeit des Verbots ist daher an den Eingriffsvoraussetzungen von Art. 36 BV zu messen. Weshalb allerdings der Kerngehalt der Versammlungsfreiheit verletzt sein sollte, vermag die Beschwerdeführerin nicht zureichend darzutun und ist im Übrigen auch nicht erkennbar, weshalb darauf nicht einzugehen ist.

5.

5.1 Mit Blick auf die erforderliche gesetzliche Grundlage stützen sich die kantonalen Instanzen auf die polizeiliche Generalklausel. Diese kann nach Art. 36 Abs. 1 BV eine fehlende gesetzliche Grundlage ersetzen und selbst schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte legitimieren, wenn und soweit die öffentliche Ordnung und fundamentale Rechtsgüter des Staates oder Privater gegen schwere und zeitlich unmittelbar drohende Gefahren zu schützen sind, die unter den konkreten Umständen nicht anders abgewendet werden können als mit gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehenen Mitteln; diese müssen allerdings mit den allgemeinen Prinzipien des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, vereinbar sein ( BGE 126 I 112 E. 4b S. 118; BGE 121 I 22 E. 4b/aa S. 27 f.; BGE 111 Ia 246 E. 2 und 3a mit Hinweisen). Der Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel ist grundsätzlich auf unvorhersehbare Notfälle beschränkt. Geht es indessen um die Abwehr einer ernsten, unmittelbaren und nicht anders abwendbaren Gefahr für fundamentale Rechtsgüter im Sinn von Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BV, darf der Staat nicht untätig bleiben und seine Schutzpflichten verletzen, nur weil der Gesetzgeber es unterlassen hat, über die erforderlichen Massnahmen rechtzeitig zu legiferieren,
BGE 147 I 161 S. 166
sondern kann und muss ausnahmsweise gestützt auf die polizeiliche Generalklausel die für die Gefahrenabwehr notwendigen Massnahmen treffen ( BGE 137 II 431 E. 3.3.2 S. 445; BGE 136 IV 97 E. 6.3.2 S. 114; Urteil des Bundesgerichts 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 3.3, in: ZBl 117/2016 S. 253 mit weiteren Hinweisen; FELIX UHLMANN, Legalitätsprinzip, in: Verfassungsrecht der Schweiz, Rechtsstaatlichkeit, Bd. II, Diggelmann und andere [Hrsg.], 2020, S. 1025 ff., N. 40; ZÜND/ERRASS, Die polizeiliche Generalklausel, ZBJV 147/ 2011 S. 261 ff., insb. S. 289 ff.). Das trifft insbesondere dann zu, wenn der unmittelbare Schutz existentieller Grundrechte wie der Schutz von Leib und Leben gemäss Art. 10 BV in Frage steht (MARKUS MOHLER, Polizeiberuf und Polizeirecht im Rechtsstaat, 2020, S. 33 ff.; ders., Grundzüge des Polizeirechts in der Schweiz, 2012, Rz. 776 ff.).

5.2 Gestützt auf die polizeiliche Generalklausel ist es demnach namentlich zulässig, eine Versammlung in einem konkreten Fall zu verbieten, wenn von ihrer Durchführung eine konkrete Gefahr für Leib und Leben der Teilnehmer oder Dritter ausgeht. Dies trifft insbesondere zu, wenn konkrete Hinweise auf mögliche unfriedliche Gegenaktionen gewaltbereiter Kreise oder radikaler Anhänger abweichender Auffassungen oder ernstzunehmende Terrordrohungen vorliegen (Urteil des Bundesgerichts 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 3.4, in: ZBl 117/2016 S. 253 mit Hinweis).

5.3 Der Kanton Basel-Landschaft hat die polizeiliche Generalklausel ausdrücklich im Gesetz verankert. Nach § 16 des basellandschaftlichen Polizeigesetzes vom 28. November 1996 (PolG; SGS 700) mit der entsprechenden Marginalie trifft die Polizei Basel-Landschaft, wenn besondere Bestimmungen fehlen, jene Massnahmen, die zur Beseitigung einer erheblichen Störung oder zur Abwehr einer unmittelbar drohenden, erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie für Mensch, Tier und Umwelt notwendig sind. Der Gesetzgeber trug damit dem Umstand Rechnung, dass es ausgeschlossen erscheint, für die Bekämpfung aller möglichen Gefährdungen der Polizeigüter eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage zu schaffen. Gemäss dem angefochtenen Entscheid "sind die kumulativ zu verstehenden Anwendungsvoraussetzungen von § 16 PolG zwar grundsätzlich eng und dem Ausnahmecharakter der Norm Rechnung tragend, aber immer mit Blick auf den Sinn und Zweck der Bestimmung, welche die effektive Abwehr von ernsten Gefahren ermöglichen soll, auszulegen". Tatbestandsvoraussetzung ist dabei die unmittelbar drohende, erhebliche Gefährdung der
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öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Mit dem Kantonsgericht ist davon auszugehen, dass der drohende Schaden von erheblicher Intensität sein muss und dass desto geringere Anforderungen an die Eintretenswahrscheinlichkeit zu stellen sind, je grösser der mögliche Schaden ist. Erforderlich dafür ist eine Prognose, die kaum je eindeutig ausfallen kann, aber objektiv und transparent nachvollziehbar sein muss.

5.4 Das Kantonsgericht leitete eine massgebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Wesentlichen aus der erheblichen Gefahr von gewaltsamen Zusammenstössen ab, die sich aus den angekündigten Gegenaktionen zur von der Beschwerdeführerin organisierten Veranstaltung ergeben hätten. Die Vorinstanz zeichnete die einzelnen Kriterien, die für eine solche Gefährdung sprechen, detailliert nach. Sie gestand der Beschwerdeführerin zu, dass von ihrer eigenen Veranstaltung keine massgebliche Gefährdung ausging, betrachtete sie mithin nicht als Verhaltensstörerin (dazu hinten E. 6.2). Mit der Polizei Basel-Landschaft geht das Kantonsgericht davon aus, dass die für den 18. März 2017 geplante und auf ungefähr 500 Teilnehmende aus der Schweiz, Frankreich und Deutschland ausgerichtete Veranstaltung der Beschwerdeführerin bis zum Vortag nicht exponiert gewesen sei und nur eine beschränkte Gefahr von Provokationen und Störaktionen ausserhalb der privaten Räumlichkeiten bestanden habe. Aufgrund von Medienberichten vom 16. März 2017 habe sich die Ausgangslage jedoch massgeblich verändert, indem gewalttätige Gruppierungen und Organisationen insbesondere im Internet zu Gegenveranstaltungen vor Ort aufgerufen hätten. Das sei so kaum vorhersehbar gewesen. Ob die Schätzung der Polizei von 100 bis 150 gewaltbereiten Demonstranten zutreffe, lasse sich nicht beweisen; sie sei aber zumindest nicht masslos übertrieben und sinngemäss nachvollziehbar. Am 17. März 2017 sei daher aufgrund einer neuen Lagebeurteilung von einer erheblich veränderten Gefahrenlage auszugehen gewesen, welche die Anwendung der polizeilichen Generalklausel rechtfertige.

5.5 Die tatsächlichen Feststellungen des Kantonsgerichts sind nachvollziehbar und weder aktenwidrig noch widersprüchlich. Sie erweisen sich als nicht offensichtlich unrichtig, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich sind (...). Die am 17. März 2017 durch die Polizei Basel-Landschaft erstellte Prognose einer massgeblichen Gefahrenlage ist demnach nicht in Frage zu stellen. Die Vorinstanzen durften von einer unmittelbar drohenden, erheblichen
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Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Zusammenhang mit der Veranstaltung der Beschwerdeführerin ausgehen, auch wenn dieser die Gefährdung nicht unmittelbar selbst zuzuschreiben ist. Dabei kommt es hier nicht darauf an, ob die Gefährdung vorhersehbar war oder nicht. Da es um den unmittelbaren Schutz existentieller Grundrechte wie denjenigen von Leib und Leben der Teilnehmer und von Dritten ging, ist die Berufung der Behörden auf die polizeiliche Generalklausel so oder so nicht zu beanstanden.

6.

6.1 Mit Blick auf die zu schützenden Polizeigüter vermochte sich das strittige Verbot auf öffentliche Interessen zu stützen. Die Beschwerdeführerin bestreitet indessen die Verhältnismässigkeit der verfügten Massnahme. Dabei beanstandet sie es zunächst als widersprüchlich und unzulässig, dass das Verbot sie selbst treffe, obwohl von ihr anerkanntermassen keine Gefährdung ausgegangen sei.

6.2 Ganz allgemein ergibt sich aus dem Verhältnismässigkeitsprinzip, dass sich eine polizeiliche Massnahme grundsätzlich nur gegen den Störer, nicht aber gegen bloss mittelbare Verursacher des polizeiwidrigen Zustands richten darf. Das Erfordernis der Unmittelbarkeit der Verursachung der Gefahr oder Störung bedeutet, dass als polizeirechtlich erhebliche Ursachen nur solche Handlungen in Betracht fallen, die bereits selber die Grenze zur Gefahr überschritten haben; entferntere, lediglich mittelbare Verursachungen scheiden aus (vgl. BGE 143 I 147 E. 5.1 S. 154 f.; BGE 131 II 743 E. 3.2 S. 747 f.). Als Störer gilt erstens der Verhaltensstörer, der durch sein eigenes Verhalten oder durch das Verhalten Dritter, für die er verantwortlich ist, die öffentliche Ordnung und Sicherheit unmittelbar stört oder gefährdet (z.B. randalierende Demonstranten). Zweitens wird der Zustandsstörer erfasst, der die tatsächliche oder rechtliche Herrschaft über Sachen hat, welche die Polizeigüter unmittelbar stören oder gefährden (z.B. Eigentümer einer vorschriftswidrigen Baute). Drittens gilt schliesslich der Zweckveranlasser als Störer, der durch sein Tun oder Unterlassen bewirkt oder bewusst in Kauf nimmt, dass ein anderer die Polizeigüter stört oder gefährdet (z.B. der Organisator einer Veranstaltung; BGE 143 I 147 E. 5.1 S. 153 f. mit Hinweisen).

6.3 Nach dem basellandschaftlichen Recht richtet sich polizeiliches Handeln gemäss § 17 Abs. 1 PolG gegen diejenige Person, die unmittelbar die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stört, gefährdet oder die für das Verhalten einer dritten Person verantwortlich ist, welches zu einer Störung oder Gefährdung führt. Nach den
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Erwägungen im angefochtenen Entscheid wird damit das Störerprinzip im Gesetz verankert, das dazu dient, diejenige Person zu bestimmen, die den polizeilichen Eingriff zu dulden hat, und unbeteiligte Dritte grösstmöglich zu schonen. Davon abweichend lässt § 17 Abs. 3 PolG ausnahmsweise zu, dass sich das polizeiliche Handeln gegen Dritte richtet, wenn eine erhebliche Störung oder eine unmittelbar drohende, erhebliche Gefahr abzuwehren ist. Diese gesetzliche Regelung ist nicht grundsätzlich verfassungswidrig. Gemäss dem Kantonsgericht stützte sich das Verbot im Hinblick auf die Beschwerdeführerin auf die Ausnahmebestimmung von § 17 Abs. 3 PolG.

6.4 Das strittige Veranstaltungsverbot traf nicht nur die Beschwerdeführerin, sondern richtete sich vor allem gegen die möglichen Gegenaktionen. Folgerichtig untersagte die Polizei Basel-Landschaft nebst der Veranstaltung der Beschwerdeführerin und deren Verlegung an eine andere Örtlichkeit alle sonstigen mit der Versammlung der Beschwerdeführerin zusammenhängenden Veranstaltungen am 18. März 2017 auf dem Gebiet der Gemeinde Reinach. Die Beschwerdeführerin ist zwar, wie bereits dargelegt, nicht Verhaltensstörerin. Es erscheint aber auch fraglich, ob sie als unbeteiligte Dritte angesehen werden kann, wovon das Kantonsgericht ausging. Da die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung indirekt von ihrer Veranstaltung ausgelöst wurde, ist die Beschwerdeführerin Zweckveranlasserin und hat damit eher als Zustandsstörerin zu gelten. Dafür genügt, dass sie durch die geplante Veranstaltung die Gefährdung der Polizeigüter durch andere bewirkte (vgl. BGE 143 I 147 E. 5.1 S. 154), und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob sie selbst eine Verantwortung für die Gefährdungslage trifft. Als unbeteiligte Dritte hätten im vorliegenden Fall andere Personen oder Organisationen zu gelten, die am gleichen Tag vor Ort eine rein friedliche Veranstaltung vorgesehen hätten und die ebenfalls vom Verbot betroffen worden wären, oder ganz allgemein typischerweise der unbeteiligte Passant, der durch eine polizeiliche Absperrung am Benutzen von öffentlichem Grund im Gemeingebrauch gehindert wird. Das Verbot vermochte sich demnach gemäss § 17 Abs. 1 PolG gegen die Beschwerdeführerin als Zustandsstörerin zu richten. Subsidiär war es mit dem Kantonsgericht auch nicht ausgeschlossen, das Verbot auf der Grundlage von § 17 Abs. 3 PolG mit Wirkung gegenüber möglichen betroffenen unbeteiligten Dritten anzuordnen. Selbst wenn die Beschwerdeführerin mit dem Kantonsgericht als solche unbeteiligte Dritte eingestuft würde, erwiese sich der angefochtene
BGE 147 I 161 S. 170
Entscheid daher nicht deshalb als verfassungswidrig, weil das Verbot die Beschwerdeführerin traf.

6.5 Als Ausprägung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes darf der Zweckveranlasser nur dann in Anspruch genommen werden, wenn der polizeiliche Eingriff geeignet und erforderlich ist, um die Störung zu beheben, und ihm der Eingriff zugemutet werden kann ( BGE 143 I 147 E. 5.1 S. 154 f. mit Hinweisen). Erst recht muss das für unbeteiligte Dritte gelten.

7.

7.1 Die Beschwerdeführerin verweist darauf, dass ihre Veranstaltung nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum vorgesehen war. Die Anforderungen an Verbote im privaten Bereich seien nochmals deutlich höher anzusetzen als solche im öffentlichen Raum.

7.2 Im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung ist auch zu berücksichtigen, ob sich eine Gefährdungslage im öffentlichen oder privaten Bereich ergibt. Im privaten Raum sind beschränkende staatliche Massnahmen nur mit grösserer Zurückhaltung zulässig als im öffentlichen Bereich. Namentlich dürfen Versammlungen auf privatem Grund nach Lehre und Praxis grundsätzlich nicht von einer vorgängig einzuholenden Bewilligung abhängig gemacht und nur aus besonders schwerwiegenden Gründen, bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für die öffentliche Ordnung, verboten werden (Urteil des Bundesgerichts 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 4.1, in: ZBl 117/2016 S. 253 mit Hinweisen; vgl. auch ERRASS, a.a.O., N. 71 zu Art. 22 BV). Im vorliegenden Fall ging die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, auch wenn sie mittelbar durch die im privaten Raum angesetzte Veranstaltung der Beschwerdeführerin ausgelöst worden war, nicht direkt von dieser Veranstaltung aus, sondern von den im öffentlichen Bereich vorgesehenen Gegenaktionen. Die Gefährdungslage betraf mithin auch den öffentlichen Raum. Überdies war sie gemessen an den immer bestehenden Unwägbarkeiten einer Prognose genügend konkret.

7.3 War im vorliegenden Fall von einer erheblichen Gefährdungslage für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen, bestand ausreichend Anlass für polizeiliche Massnahmen. Das ausgesprochene Verbot war überdies geeignet, der Gefahr zu begegnen (vgl. ERRASS, a.a.O., N. 66 zu Art. 22 BV). Die Beschwerdeführerin beanstandet hauptsächlich als unverhältnismässig, dass die Massnahme auch gegen sie und nicht nur gegen die Gegenaktionen
BGE 147 I 161 S. 171
gerichtet war. Insbesondere hätte die Polizei nach ihrer Auffassung aufgrund der entsprechenden Schutzpflicht des Staates die Durchführung ihrer Veranstaltung schützen müssen und nicht verhindern dürfen.

7.4 Grundsätzlich haben sich die einschränkenden Massnahmen in erster Linie gegen die Gegenveranstaltungen als Verhaltensstörungen zu richten. Das ist im vorliegenden Fall insofern geschehen, als nicht nur die Veranstaltung der Beschwerdeführerin, sondern auch alle anderen Veranstaltungen im Zusammenhang mit derjenigen der Beschwerdeführerin am gleichen Tag in derselben Gemeinde untersagt wurden. Nach Lehre und Rechtsprechung ist ferner anerkannt, dass sich die Versammlungsfreiheit nicht in reinen Abwehrrechten erschöpft, sondern in gewissen Grenzen auch Leistungselemente enthält, etwa die Überlassung von öffentlichem Grund oder die Gewährung eines ausreichenden Polizeischutzes ( BGE 132 I 256 E. 3; BGE 127 I 164 E. 3b; Urteil des Bundesgerichts 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 4.3, in: ZBl 117/2016 S. 253 mit weiteren Hinweisen; ERRASS, a.a.O., N. 43 zu Art. 22 BV; HERTIG, a.a.O., N. 12 zu Art. 22 BV). Der Staat ist dabei verpflichtet, die Durchführung einer Versammlung, die selbst nicht direkt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, auch dann zu gewährleisten, wenn eine solche Gefahr von daran anknüpfenden Gegenveranstaltungen ausgeht (vgl. etwa PETER UEBERSAX, La liberté de manifestation, RDAF 62/2006 I S. 25 ff., insb. S. 45 f.). Auch gegenüber der Veranstaltung der Beschwerdeführerin bestand eine solche Schutzpflicht.

7.5 Die Schutzpflicht des Staates ist jedoch an den Kapazitäten und konkreten tatsächlichen Möglichkeiten der Behörden, namentlich der Polizeikräfte, zu messen. Wie das Kantonsgericht zu Recht festhält, wäre im vorliegenden Fall die direkte physische Präsenz der Polizei mit entsprechenden Interventionsmöglichkeiten grundsätzlich geeignet gewesen, der Gefährdungslage wirksam zu begegnen. Ein erfolgversprechender Einsatz hätte jedoch aufgrund des erkannten Eskalationspotenzials ein umfangreiches Sicherheitsdispositiv mit starken Polizeikräften vor Ort erfordert. Aufgrund des am fraglichen Abend angesetzten Fussballmatches, der als Hochrisikopartie eingestuft war, sah sich die Polizei ausser Stande, innerhalb eines Tages die erforderlichen Einsatzkräfte zu mobilisieren. Das ist nachvollziehbar. Was die Beschwerdeführerin dagegen einwendet, ist spekulativ und beruht auf reinen Behauptungen. Es ist nicht ersichtlich, wie ihre Argumentation, es wäre möglich gewesen, innert der ausgesprochen kurzen Frist genügend zusätzliche Polizeikräfte
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aufzubieten oder vom Fussballmatch an ihre Veranstaltung umzuteilen, den Realitäten zielführender Polizeiarbeit entsprechen könnte. Unter diesen Umständen ist ein wirksames milderes Mittel als das verfügte Verbot nicht ersichtlich. Diese Massnahme erscheint angesichts der konkreten Verhältnisse auch noch als zumutbar. Es ist zwar nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin das sie hart treffende Verbot als unbefriedigend wahrnimmt. Es kommt insofern aber nicht auf das subjektive Empfinden, sondern auf die objektiven Gegebenheiten an. Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass der Beschwerdeführerin die Durchführung der gewünschten Gedenkveranstaltung nicht allgemein, sondern nur an einem bestimmten Tag und an einem bestimmten Ort untersagt wurde (vgl. zu einem ebenfalls als zulässig beurteilten allgemeinen Demonstrationsverbot an einem bestimmten Platz BGE 124 I 267).

7.6 Das verfügte Verbot war daher verhältnismässig, weshalb der angefochtene Entscheid vor der Versammlungsfreiheit standhält.

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