Kanton: | SG |
Fallnummer: | IV 2011/142 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | IV - Invalidenversicherung |
Datum: | 22.05.2012 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 43 ATSG. Art. 59 Abs. 5 IVG. Zulässigkeit von Observationen. Aussagekraft von Observationsergebnissen. Notwendigkeit einer medizinischen Reevaluation (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22. Mai 2012, IV 2011/142). |
Schlagwörter: | Beschwerde; Observation; Beschwerdeführerin; IV-act; Recht; Recht; Arbeit; Medizinisch; Beschwerdegegnerin; Medizinische; Observationsergebnisse; Arbeitsfähigkeit; Untersuchung; Beurteilung; Verwaltungsverfahren; Ärzte; Person; Akten; Beweise; Gutachten; Rechtsverbeiständung; Anspruch; Verfügung; Verhalten; Unentgeltliche; Bericht; Medizinischen; Klinik; IV-Stelle; Protokoll |
Rechtsnorm: | Art. 140 StPO ; Art. 141 StPO ; |
Referenz BGE: | 120 V 435; 137 I 327; |
Kommentar zugewiesen: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Weitere Kommentare: | - |
Entscheid vom 22. Mai 2012
in Sachen A. ,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Daniel Ehrenzeller, Engelgasse 214, 9053 Teufen,
gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin, betreffend
Rente / URV im Verwaltungsverfahren
Sachverhalt:
A.
A. meldete sich am 10. April 2008 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen an (IV-act. 3 und 10).
Am 4. Juni 2008 kontaktierte Dr. med. B. , Fachärztin FMH für Allgemeinmedizin und Sozialmedizin, vom IV-internen regionalen ärztlichen Dienst (RAD) den Hausarzt der Versicherten, Dr. med. C. , Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin. Dieser führte aus, die Versicherte leide an einer somatoformen Schmerzstörung, medizinisch- theoretisch bestehe aber volle Arbeitsfähigkeit; das Gesprächsprotokoll unterzeichnete Dr. C. am 6. Juni 2008 (IV-act. 20). Ebenfalls am 4. Juni 2008 kontaktierte die RAD- Ärztin Dr. B. die behandelnde Rheumatologin, Dr. med. D. , Fachärztin FMH für Physikalische Medizin und Rehabilitation. Diese führte aus, die Versicherte leide an protrahierten, nicht erklärlichen Beschwerden im rechten Arm nach einem Bagatelltrauma am rechten Handgelenk sowie an chronischen therapieresistenten lumbospondylogenen Beschwerden; es bestehe der Verdacht auf eine somatoforme Schmerzstörung. Aktuell befinde sich die Versicherte in stationärer Behandlung auf der Migrantenstation der Klinik E. . Eine IV-Anmeldung sei nicht angezeigt; zumindest für leichte Tätigkeiten bestehe volle Arbeitsfähigkeit. Das Gesprächsprotokoll unterzeichnete Dr. D. am 9. Juni 2008 (IV-act. 23).
Am 4. September 2008 erstatteten die behandelnden Ärzte der Psychiatrischen Klinik E. einen Arztbericht zuhanden der IV-Stelle. Darin diagnostizierten sie eine Anpassungsstörung und eine somatoforme Schmerzstörung. Bezüglich Arbeitsfähigkeit führten sie aus, es sei aus rein psychiatrischer Sicht von einer maximalen Einschränkung von 50 % auszugehen (IV-act. 26).
Am 30. September 2008 ging der IV-Stelle ein Bericht von Dr. med. F. , Fachärztin FMH für Neurologie, vom 22. September 2008 zu, in welchem eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert und aus neurologischer Sicht keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert worden war (IV-act. 35). Am
11. November 2008 ging der IV-Stelle sodann ein Gutachten von Dr. med. G. ,
Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 31. Oktober 2008 zu. Dieser hatte eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome sowie die Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen diagnostiziert, eine 80%ige Arbeitsunfähigkeit für sämtliche Tätigkeiten attestiert und ausgeführt, mittelfristig sei sicherlich eine deutliche Verbesserung des Zustandes zu erwarten; es empfehle sich dringend eine psychiatrische sowie adäquate antidepressive Behandlung, vorzugsweise im stationären Rahmen (IV-act. 40).
Am 20. März 2009 erstatteten die behandelnden Ärzte der Klinik H. – die Versicherte hatte sich vom 8. Dezember 2008 bis 13. Februar 2009 in stationärer Behandlung dort befunden – einen Arztbericht. Sie diagnostizierten einen dissoziativen Stupor mit Anteilen einer generalisierten Angststörung sowie (ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit) eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und attestierten eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit bis mindestens 28. Februar 2009 (IV-act. 50).
Am 5. Mai 2009 erstattete Dr. med. I. , Fachärztin FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, einen Arztbericht, in welchem sie eine mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom, einen dissoziativen Stupor sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostizierte und eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit bis auf weiteres attestierte (IV-act. 51).
Im Auftrag der IV-Stelle erstattete die J. am 17. September 2010 einen Bericht betreffend eine im Zeitraum vom 28. Juli bis 28. August 2010 durchgeführte Observation der Versicherten. Die Versicherte habe sich während den Ermittlungen sowohl im Bereich ihres Wohnortes als auch unterwegs recht aktiv gezeigt. Sie habe kontaktfreudig und kommunikativ gewirkt, Besorgungen getätigt, dabei auch schwere Sachen gehoben und getragen und insgesamt einen natürlichen, entspannten und unauffälligen Eindruck hinterlassen (IV-act. 60).
In einer internen Stellungnahme vom 5. Oktober 2010 hielt der RAD-Arzt Dr. med. K. , Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin, fest, mittels der
Observationsergebnisse könnten alle „von den Ärzten monierten invalidisierenden Diagnosen“ entkräftet werden; die Versicherte sei völlig gesund, und es sei durch die
Observation erwiesen, dass sie die ärztlichen Untersucher in die Irre geführt habe (IV-
act. 62).
Am 20. Oktober 2010 konfrontierte der zuständige Sachbearbeiter die Versicherte mit den Ergebnissen der Observation (IV-act. 63 f.).
Mit Vorbescheid vom 16. November 2010 teilte die IV-Stelle mit, dass die Abweisung des Rentengesuchs vorgesehen sei (IV-act. 68).
Dagegen liess die nun anwaltlich vertretene Versicherte am 17. Dezember 2010 (IV- act. 72) und am 26. Januar 2011 (IV-act. 78–1 ff.) Einwand erheben. Sie liess geltend machen, ihren Aussagen anlässlich der Konfrontation vom 20. Oktober 2010 könne keine Bedeutung zukommen, da sie unter Medikamenteneinfluss gestanden habe, der Dolmetscher nicht korrekt übersetzt habe und sie unter Druck gesetzt worden sei. Sodann liess sie ausführen, sie sei von den Ärzten angewiesen worden, das Haus regelmässig zu verlassen; wenn sie ausser Haus gewesen sei, dann auf Druck der Angehörigen und der Ärzte. Zudem habe sie das Haus stets nur in Begleitung verlassen. Anlässlich der verdeckten Ermittlung sei sie ausserdem weder bei der Ausübung einer erwerblichen Tätigkeit noch bei Vergnügungen beobachtet worden. Die Observationsergebnisse würden keinerlei Rückschlüsse auf eine erwerbliche Tätigkeit zulassen; dies sei notwendigerweise medizinisch zu klären. Die Versicherte liess ihrem Einwand den provisorischen Austrittsbericht der Klinik H. vom 21. Januar 2011 betreffend die stationäre Behandlung vom 6. bis 21. Januar 2011 beilegen, in welchem eine rezidivierende depressive Störung mit schwerer Episode und psychotischen Symptomen sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert worden waren (IV-act. 78–8 ff.). Dem Einwand lag schliesslich eine Stellungnahme des Ehemannes betreffend den seines Erachtens schlechten Gesundheitszustand der Versicherten bei (IV-act. 78–5 ff.). Am 11. Februar 2011 liess die Versicherte den definitiven Austrittsbericht der Klinik H. vom 26. Januar 2011 nachreichen. Darin
war eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit attestiert worden (IV-act. 80).
Mit Verfügung vom 11. März 2011 wies die IV-Stelle das Gesuch um unentgeltliche
Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren zufolge Rechtsmissbrauchs und
Aussichtslosigkeit ab (IV-act. 81). Gleichentags verfügte sie die Abweisung des Rentengesuchs gemäss Vorbescheid vom 16. November 2010 (IV-act. 82).
B.
Dagegen richtet sich die am 8. April 2011 erhobene Beschwerde, mit der die Zusprache mindestens einer Dreiviertelsrente mit Wirkung ab Januar 2008 und die Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren beantragt werden und Fragen zur Aussagekraft von Observationsberichten im Allgemeinen aufgeworfen werden: Wie der Umstand zu werten sei, dass die Observateure kaum über Hintergrundwissen zum Fall verfügen würden, inwieweit eine versicherte Person alltägliche Verrichtungen tätigen könne, ohne dass deswegen von Arbeitsfähigkeit auszugehen sei, inwiefern den natürlichen Schwankungen der Befindlichkeit bei Observationen genügend Rechnung getragen werde und wie es sich verhalte, wenn eine versicherte Person vom Arzt angewiesen werde, unter die Leute zu gehen und Aufgaben im Alltag zu übernehmen. Im vorliegenden Fall würden die Observationsergebnisse weder die Verrichtung von erwerblicher Arbeit noch Vergnügungen belegen, sondern vielmehr belegen, dass die Beschwerdeführerin gesundheitlich beeinträchtigt sei. Bei der Konfrontation mit den Observationsergebnissen handle es sich sodann um ein eigentliches Verhör. Es stelle sich die Frage, ob die Versicherten nicht Anspruch auf strafprozessuale Rechte haben müssten. Abschliessend lässt die Beschwerdeführerin die Vernichtung der Befragungsprotokolle und die Einholung eines Verlaufsberichts beantragen (act. G 1).
Die Beschwerdegegnerin schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. In ihrer Beschwerdeantwort vom 30. Juni 2011 führte sie zur Begründung im Wesentlichen aus, mittels Observationen könnten die in den Akten dokumentierten Einschränkungen und medizinischen Einschätzungen anhand des im alltäglichen Leben gezeigten Verhaltens verifiziert oder falsifiziert werden; vorliegend würden die Observationsergebnisse erhebliche Zweifel an den vorherigen medizinischen Einschätzungen aufkommen lassen. Diesbezüglich werde auf die medizinische Würdigung vom 5. Oktober 2010 verwiesen. Sodann sei die Konfrontation als korrekt erfolgt zu qualifizieren. Gesamthaft sei ein versicherungsrechtlich relevanter Gesundheitsschaden weder nachgewiesen noch nachweisbar. Da schliesslich die
Beschwerde gegen die Verfügung vom 11. März 2011 betreffend unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren unbegründet sei, sei nicht darauf einzutreten (act. G 6).
Mit Replik vom 29. August 2011 liess die Beschwerdeführerin an ihren Anträgen festhalten (act. G 8).
Auch die Beschwerdegegnerin liess mit Duplik vom 19. September 2011 an ihren Anträgen festhalten und ein weiteres Aktenstück einreichen (act. G 10).
Die Beschwerdeführerin liess am 29. September 2011 Stellung zum nachträglich eingereichten Aktenstück nehmen (act. G 12).
Erwägungen:
1.
Wenn auch die Beschwerdeführerin in ihren Eingaben nicht geltend gemacht hat, die Observation sei unzulässig gewesen und deren Ergebnisse seien entsprechend aus den Akten zu entfernen – sie beantragte lediglich die Entfernung der Protokolle über das Konfrontationsgespräch sowie des anlässlich desselben erstellten Videos –, ist doch von Amtes wegen zu prüfen, ob die Observation zulässig war. In BGE 137 I 327 hat das Bundesgericht unter anderem festgehalten, die Durchführung einer Observation könne geboten sein, wenn beispielsweise Hinweise auf widersprüchliches Verhalten der versicherten Person, Zweifel an der Redlichkeit derselben, bei Inkonsistenzen anlässlich der medizinischen Untersuchung, Aggravation, Simulation oder Selbstschädigung vorlägen; dass von den Ärzten im dort zu beurteilenden Fall eine erhebliche Symptomausweitung festgestellt worden sei bzw. die Schmerzen als nur teilweise somatisch erklärbar qualifiziert worden seien, genüge, um die durchgeführte Observation als geboten zu qualifizieren (E. 5.4.2). Diese Ausführungen können nur so verstanden werden, als bereits bei Vorliegen somatisch nicht hinreichend erklärbarer Beschwerden oder bei Feststellung von Symptomausweitung oder Aggravation grundsätzlich ohne Weiteres eine Observation angeordnet werden kann. Konkret fassbare Indizien oder Verdachtsmomente auf bewusst widersprüchliches oder unredliches Verhalten werden mithin offenbar nicht verlangt.
Ob damit dem Umstand, dass eine Observation regelmässig einen doch erheblichen Eingriff in die Grundrechte der versicherten Person darstellt, genügend Rechnung getragen wird, erscheint fraglich. Der erwähnte Entscheid wurde denn auch – nicht nur aus diesem Grund – in der Lehre kritisiert (Lucien Müller, Observation von IV- Versicherten: Wenn der Zweck die Mittel heiligt, in: Jusletter vom 19. Dezember 2011). Im vorliegenden Fall lagen „konkrete Anhaltspunkte (…), die Zweifel an den geäusserten gesundheitlichen Beschwerden oder der geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit aufkommen lassen“ (BGE 137 I 327 E. 5.4.2.1 S. 332 f.) gemäss Akten insofern vor, als die Beschwerdeführerin Beschwerden geltend machte, für welche die Ärzte keine hinreichende somatische Erklärung fanden. Zwar verneinte
Dr. G. „Hinweise für eine willentliche Herbeiführung oder massive Verdeutlichung psychischer oder körperlicher Störungen im Sinne einer Aggravation oder Simulation“ explizit (IV-act. 40–14), doch hielt er an anderer Stelle fest: „Die Schmerzdarbietung ist ein Stück weit inkonsistent, mit starken Verdeutlichungstendenzen als Hinweise für eine Aggravation“ (IV-act. 40–17), und diagnostizierte er eine Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen im Sinne von ICD-10 F68.0, welche sich unter anderem durch Aggravation auszeichnet (vgl. IV-act. 40–17). Das Gutachten erweist sich mithin diesbezüglich als widersprüchlich. Vor dem Hintergrund der weiteren Berichte erweisen sich auch weitere Punkte des Gutachtens (insbesondere der erhobene Psychostatus und das attestierte Ausmass der Arbeitsfähigkeitseinschränkung) als nicht plausibel bzw. nicht nachvollziehbar. Wiewohl diese Umstände den Beweiswert des Gutachtens von Dr. G. schmälern, bedeutet dies nicht ohne Weiteres auch, dass damit genügende Verdachtsmomente für die Erteilung eines Observationsauftrages vorlagen. Immerhin waren die Inkonsistenzen namentlich gemäss Gutachten von Dr. G. erkennbar, und hatten sich auch bereits die behandelnden Ärzte zur Frage einer allfälligen Aggravation geäussert, sodass es einem medizinischen Gutachter wohl möglich gewesen wäre, eine zuverlässige Arbeitsfähigkeitsschätzung unter Berücksichtigung dieser Umstände abzugeben, ohne dass zuvor mittels Observation erheblich in die Persönlichkeitsrechte der Beschwerdeführerin hätte eingegriffen werden müssen. Im Lichte der oben erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist aber die Zulässigkeit der Observation dennoch zu akzeptieren.
2.
Eine Observation dient naturgemäss einem anderen Zweck als eine medizinische Untersuchung: Während letztere insbesondere die Fragen, ob ein Gesundheitsschaden vorliegt und wie sich dieser allenfalls auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt, zu beantworten hat, soll erstere verifizieren oder falsifizieren, dass sich die versicherte Person im (vermeintlich unbeobachteten) Alltag übereinstimmend zur Untersuchungssituation verhält. Es geht also – wie beide Parteien zu Recht anerkennen – nicht darum, anhand von Observationsergebnissen eine Arbeitsfähigkeitsschätzung abzugeben, sondern darum, die Zuverlässigkeit von medizinischen Beurteilungen mittels vergleichender Beobachtung ausserhalb einer Untersuchungssituation zu überprüfen. Mittels Würdigung der Observationsergebnisse wird daher in erster Linie die Frage beantwortet, ob auf die vorhandenen medizinischen Berichte abgestellt werden kann. Vorliegend belegen die Observationsergebnisse hinsichtlich des Verhaltens der Beschwerdeführerin eine erhebliche Diskrepanz zwischen Untersuchungssituation und Alltag, sodass die Zuverlässigkeit der zuvor erstellten medizinischen Berichte, namentlich des Gutachtens von Dr. G. und der Berichte der Psychiatrischen Klinik E. , der Klinik H. und von Dr. I. , in Zweifel zu ziehen ist. Die Fähigkeit der Beschwerdeführerin, selbst ein Motorfahrzeug – auch über längere Strecken und unter erschwerten Bedingungen (Autobahnbaustelle) – zu lenken, verschiedene Besorgungen zu erledigen, stark frequentierte Geschäfte aufzusuchen und sich in völlig unauffälliger Weise mit Bekannten zu unterhalten, lässt sich mit dem in den erwähnten Untersuchungssituationen präsentierten Zustand nur schwerlich vereinbaren. Auf die entsprechenden Berichte bzw. Arbeitsfähigkeitsschätzungen kann daher nicht abgestellt werden.
3.
Die Bemessung des Invaliditätsgrades setzt zuverlässige fachärztliche Aussagen insbesondere zum Gesundheitszustand und allfälligen gesundheitsbedingten Ein schränkungen der Arbeitsfähigkeit in qualitativer und quantitativer Hinsicht voraus. Nachdem diesbezüglich auf die Berichte der behandelnden Ärzte und das Gutachten von Dr. G. nicht abgestellt werden kann, käme hierfür einzig die Aktenbeurteilung des RAD-Arztes Dr. K. in Frage, da dieser dabei den Ergebnissen der Observation Rechnung getragen hat. Allerdings stellt auch diese Beurteilung keine genügende Grundlage für die Bemessung des Invaliditätsgrades dar, da sich Dr. K. – der im
Übrigen nicht Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ist – im Grunde damit begnügt, festzustellen, dass erhebliche Diskrepanzen zwischen den medizinischen Berichten und den Observationsergebnissen bezüglich des Verhaltens der Beschwerdeführerin bestehen. Dies ist aber ohne weiteres auch für medizinische Laien erkennbar. Für einen Laien ohne psychiatrische Ausbildung hingegen nicht feststellbar ist, ob die (sich aufdrängende) Vermutung, die Beschwerdeführerin habe sich zumindest bewusstseinsnah in Untersuchungssituationen anders präsentiert als im Alltag und sei in der Lage, einer erwerblichen Tätigkeit nachzugehen, zutrifft oder ob allenfalls eine alternative Deutung, wie etwa das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung bzw. einer dissoziativen Störung – die Diagnose eines dissoziativen Stupors (ICD-10 F44.2) war seitens der Klinik H. (IV-act. 50–2) und von Dr. I. (IV-act. 51–2) immerhin bereits genannt worden – oder einer anderen, solches Verhalten erklärenden psychiatrischen Beeinträchtigung als wahrscheinlicher anzusehen ist. In dieser Situation hätte es sich aufgedrängt, die Beschwerdeführerin einer weiteren psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen, wobei der Gutachter seine Beurteilung in Kenntnis der Observationsergebnisse und nach einer weiteren Untersuchung der Beschwerdeführerin abgegeben hätte. Unter Umständen hätte indessen auch eine Beurteilung durch einen Facharzt des RAD genügt. Die knappe Aktenbeurteilung durch einen Allgemeinmediziner genügt hingegen nicht als Grundlage für die Beurteilung des Rentengesuchs.
4.
Desweiteren stellt sich die Frage nach Sinn und Zweck des von der Beschwerdegegnerin durchgeführten Standort- und Konfrontationsgesprächs. Freilich ist die betroffene Person über die Observation und deren Ergebnisse in Kenntnis zu setzen, und hat sie Anspruch auf Wahrung ihrer Gehörsrechte. Da, wie oben dargelegt, eine fachärztliche Beurteilung in Kenntnis der Observationsergebnisse und allenfalls nach neuerlicher Untersuchung regelmässig notwendig ist, stellt sich aber die Frage, weshalb die Beschwerdegegnerin das entsprechende Gespräch nicht in Anwesenheit eines Facharztes durchführt. Dieser könnte gezielte Fragen stellen, die es ihm erlauben würden, anschliessend eine medizinisch fundierte Beurteilung abzugeben, und anstelle eines reinen Gesprächsprotokolls läge diesfalls eine medizinische Beurteilung vor, die allenfalls sogar die Beurteilung des Rentenanspruchs rechtsgenüglich erlauben würde.
Bei solchem Vorgehen würde sich auch nicht die Frage stellen, ob der Versicherten strafprozessuale Rechte zuzuerkennen wären, denn es würde sich beim ent sprechenden Gespräch nicht um eine eigentliche Einvernahme, sondern einerseits um eine Form der Wahrung der Gehörsrechte und andererseits um eine medizinische Untersuchung unter Beizug der Observationsergebnisse im Sinne fremdanamnestischer Angaben handeln.
Vorliegend hat die Beschwerdeführerin unabhängig davon, ob sie zumindest be wusstseinsnah in Untersuchungssituationen ein anderes Verhalten als im Alltag gezeigt hat, Anspruch darauf, von Seiten der Versicherungsträger – als Bundesrecht vollziehende Behörden – fair behandelt zu werden. Dazu kann gehören, die Beschwerdeführerin im Vorfeld darauf hinzuweisen, dass nicht nur ein
„Standortgespräch“ geplant sei, sondern sie mit neuen Beweisen konfrontiert werden soll und entsprechend der Beizug eines Rechtsvertreters zu prüfen sei. Es entspricht nicht einem fairen Verhalten, dass die Beschwerdegegnerin in der „Einvernahme“ mit Sätzen wie: „Ich bin schockiert über ihren tatsächlichen Gesundheitszustand“ (IV-
act. 63–5) ein bewusst falsches Bild ihrer Einschätzung vermittelt, die Beschwerdeführerin ohne genügende Beweise der Täuschung bezichtigt („Wir wissen, dass Sie die Ärzte und Gutachter über ihren Gesundheitszustand getäuscht haben!“; IV-act. 64–2) und sie noch in diesem Gespräch zur Zusicherung drängen will, eine leistungsabweisende Verfügung zu akzeptieren.
Die Beschwerdeführerin beantragt die Entfernung der Einvernahmeprotokolle aus den Akten. Im Verwaltungsverfahrensrecht gilt ebenso wie im Strafprozessrecht der Grundsatz, dass unrechtmässig erlangte Beweise unter bestimmten Voraussetzungen nicht verwertet werden dürfen – wobei allerdings die im Strafprozessrecht entwickelten Grundsätze nicht unbesehen auf das Verwaltungsverfahren zu übertragen sind (Thomas Merkli/Arthur Aeschlimann/Ruth Herzog, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, 1997, Art. 19 N 9). Gemäss Art. 141 Abs. 1 der Strafprozessordnung (StPO; SR 312) sind Beweise, die in Verletzung von Art. 140 StPO - wonach Zwangsmittel, Gewaltanwendung, Drohungen, Versprechungen, Täuschungen und Mittel, welche die Denkfähigkeit oder die Willensfreiheit einer Person beeinträchtigen können, bei der Beweiserhebung untersagt und auch dann unzulässig sind, wenn die betroffene Person ihrer Anwendung zustimmt - erhoben wurden, in
keinem Falle verwertbar. Auch Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, dürfen nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich (Art. 141 Abs. 2 StPO). Im Verwaltungsverfahren dürfen gemäss höchstrichterlicher Rechtsprechung unrechtmässig erhobene Beweise dagegen auch dann allenfalls verwertet werden, wenn sie auch rechtmässig hätten beschafft werden können und wenn bei ihrer Erhebung kein Rechtsgut verletzt wurde, das im konkreten Fall den Vorrang vor dem Interesse an der Erforschung der Wahrheit und der Durchsetzung des Rechts verdient (vgl. BGE 120 V 435 E. 3b S. 439 f. mit Hinweisen). Vorliegend stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Vorgehensweise des Sachbearbeiters der Beschwerdegegnerin im Rahmen des Standort- und Konfrontationsgesprächs als unzulässige Beweiserhebungsmethode analog Art. 140 Abs. 1 StPO zu qualifizieren ist und die entsprechenden Protokolle demgemäss aus dem Recht zu weisen sind bzw. deren beweisrechtliche Verwertung zu untersagen – und damit dem Antrag der Beschwerdeführerin sinngemäss zu folgen – ist. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin mittels Überrumpelung und Druck (Hinweise auf straf- und zivilrechtliche Folgen) in eine Situation versetzt wurde, in der es ihr offenbar nicht mehr möglich war, nach freiem Willen zu antworten. Immerhin wurde sie mit dem Vorwurf einer gleichsam nachgewiesenen Täuschung konfrontiert, sodass sie davon ausgehen musste, ihrer Entgegnung komme ohnehin kein erhebliches Gewicht mehr zu; zudem wurden ihr weitreichende straf- und zivilrechtliche Konsequenzen in Aussicht gestellt und zugleich angeboten, auf entsprechende Schritte werde verzichtet, wenn sie in eine abweisende Verfügung – die aus Sicht der Beschwerdeführerin ja ohnehin zu erwarten war – einwilligen würde. Entsprechend stimmte sie quasi willenlos allem zu, was ihr vorgehalten wurde. Ausserhalb einer derart ausserordentlichen Situation hätte die Beschwerdeführerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht dieselben Aussagen gemacht; auf rechtmässigem Wege hätten die entsprechenden Beweismittel mithin nicht beschafft werden können. Dem Protokoll ist daher nicht nur der Beweiswert abzusprechen, sondern es ist auch als unverwertbar zu qualifizieren. Das bedeutet, dass weitere Beweismittel, die wesentlich auf dem Protokoll beruhen, insbesondere etwa ein medizinisches Gutachten, dessen Schlussfolgerungen sich wesentlich auf die im Protokoll enthaltenen Aussagen der Beschwerdeführerin stützen, diesbezüglich
ebenfalls als unverwertbar zu qualifizieren sind bzw. ihnen der Beweiswert abzusprechen ist. Dem Anliegen der Beschwerdeführerin, aus dem Inhalt des Protokolls keine Nachteile zu gewärtigen, ist damit sinngemäss entsprochen. Es ist daher nicht notwendig, das Protokoll förmlich aus dem Recht zu weisen.
5.
Was den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung betrifft, so hat die Beschwerdeführerin zwar den Antrag auf Aufhebung der entsprechenden Verfügung tatsächlich nicht näher begründet. Trotzdem ist auf das entsprechende Begehren ein zugehen. In der nicht publizierten E. 8 seines Urteils 8C_272/2011 vom 11. November 2011 (BGE 137 I 327) hat das Bundesgericht ausgeführt, dass bezüglich des Anspruchs auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung unter Umständen von Rechtsmissbrauch auszugehen sei, namentlich wenn die versicherte Person bewusst unwahre Aussagen mache oder Krankheitssymptome vortäusche. Da die Aktenlage im jetzigen Zeitpunkt die Beantwortung der Frage, ob die Beschwerdeführerin bewusst unwahre Aussagen gemacht oder Krankheitssymptome vorgetäuscht hat, nicht erlaubt, kann gemäss erwähnter bundesgerichtlicher Argumentation auch noch nicht über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren befunden werden. Die Beschwerdegegnerin wird nach Durchführung der notwendigen ergänzenden Abklärungen darüber das entsprechende Gesuch neu zu befinden haben.
6.
Im Sinne der obigen Ausführungen sind deshalb die angefochtenen Verfügungen aufzuheben und ist die Sache an die Beschwerdegegnerin zur Einholung einer psychiatrisch-fachärztlichen Beurteilung unter Berücksichtigung der Observationsergebnisse und anschliessender Verfügung über den Rentenanspruch und den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren zurückzuweisen. Da die Rückweisung zu weiteren Abklärungen hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen praxisgemäss als volles Obsiegen gilt, sind die gemäss
Art. 69 Abs. 1bis des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20)
zu verlegenden und angesichts des durchschnittlichen Aufwands auf Fr. 600.--
festzusetzenden Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Der
Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss in gleicher Höhe zurückerstattet. Sodann hat die Beschwerdegegnerin die Beschwerdeführerin mit einer Pauschale von Fr. 3’500.-- (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu entschädigen.
Demgemäss hat das Versicherungsgericht entschieden:
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde werden die angefochtenen Verfügungen vom 11. März 2011 betreffend Rentenanspruch und Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren aufgehoben und die Sache zu weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen und anschliessender Neuverfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.
Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-- zu bezahlen. Der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss in gleicher Höhe zurückerstattet.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin mit Fr. 3’500.--
(einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu entschädigen.
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