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Urteil Verwaltungsgericht (LU)

Kopfdaten
Kanton:LU
Fallnummer:A 97 91
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Abgaberechtliche Abteilung
Verwaltungsgericht Entscheid A 97 91 vom 29.09.1997 (LU)
Datum:29.09.1997
Rechtskraft:Diese Entscheidung ist rechtskräftig.
Leitsatz/Stichwort:Art. 16 und Art. 22 SVG. Führerausweisentzug; Verhältnis Strafverfahren/Administrativmassnahmeverfahren. Grundsätzlich sollen zwischen der Beurteilung der Verwaltung und derjenigen der Strafjustiz keine Differenzen bestehen, weshalb in Zweifelsfällen wenn immer möglich das Strafurteil abzuwarten ist. Im Hinblick darauf sind die Administrativbehörden an die Feststellungen des Strafrichters gebunden. Dies gilt grundsätzlich auch bei einem summarischen Strafbefehlsverfahren. Allgemein gebieten Treu und Glauben dem Betroffenen, seine Verteidigungsrechte - namentlich betreffend die vollständige Abklärung des Sachverhalts - im Strafverfahren wahrzunehmen.
Schlagwörter: Verfahren; Recht; Recht; Verwaltung; Urteil; Strasse; Sachverhalt; Richter; Strassenverkehrsamt; Führerausweis; Verfahrens; Beschwerdeführer; Würdigung; Verfügung; Rechtlich; Tatsachen; Bundesgericht; Entscheid; Hinweis; Feststellung; Rechtsprechung; Führerausweisentzug; Verwaltungsbehörde; Entscheid; Entzug; Richters; Feststellungen; Zeugen; Verwaltungsverfahren
Rechtsnorm: Art. 4 BV ;
Referenz BGE:119 Ib 158; 119 Ib 160; 119 Ib 163; 119 Ib 164; 121 II 214; 121 II 22; 123 II 104;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
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Entscheid
Die Kantonspolizei Luzern erstattete Strafanzeige gegen A wegen Nichtgewährens des Vortritts gegenüber Fussgängern und Überholens eines Fahrzeuges, das vor dem Fussgängerstreifen angehalten hatte, um Fussgängern das Überqueren der Strasse zu ermöglichen. Gestützt auf diese Widerhandlungen auferlegte ihm der Amtsstatthalter eine Geldbusse von Fr. 180.-; unangefochten erwuchs die Strafverfügung in Rechtskraft.

Nach Einsichtnahme in die Strafakten entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Luzern A den Führerausweis für einen Monat und auferlegte ihm Verkehrsunterricht. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde liess A in beweisrechtlicher Hinsicht beantragen, den Beifahrer B als Zeugen einzuvernehmen und den Entscheid des Strassenverkehrsamts aufzuheben.

Das Strassenverkehrsamt schloss in seiner Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde.

Das Verwaltungsgericht erwog:

1. - In formeller Hinsicht beantragt der Beschwerdeführer die Einvernahme des Beifahrers B als Zeugen. Er begründet dies im wesentlichen damit, versehentlich keine Einsprache gegen die Strafverfügung des Amtsstatthalters erhoben zu haben. Sowohl telefonisch als auch schriftlich habe er dem Strassenverkehrsamt die Gründe dargelegt, weshalb er sich nicht vorschriftswidrig verhalten habe. In einem weiteren Schreiben vom 24. Februar 1997 habe sein Rechtsvertreter diese Gründe wiederholt und für die Sachverhaltsdarstellung zudem die Einvernahme des genannten Zeugen verlangt. Aus diesen Schreiben gehe hervor, dass er irrtümlich die Strafverfügung nicht angefochten habe.

a) Der Führerausweisentzug ist eine administrative Massnahme. Das Bundesgericht folgerte in seiner früheren Rechtsprechung daraus, die Verwaltungsbehörden könnten nach dem Grundsatz der Gewaltentrennung unabhängig von den tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen des Strafrichters über den Entzug des Führerausweises entscheiden, schränkte aber diesen Grundsatz dahingehend ein, dass im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtseinheit nicht ohne Not von den Feststellungen im Strafurteil abzuweichen sei; denn in der Würdigung des Tatbestandes sollten grundsätzlich zwischen Verwaltung und Strafjustiz keine Differenzen bestehen, und es sei in ausgesprochenen Zweifelsfällen wenn immer möglich das Strafurteil abzuwarten, bevor eine Administrativmassnahme verfügt werde (BGE 119 Ib 160 Erw. 2c/aa mit Hinweisen). In BGE 121 II 22 erkannte es, der Entzug des Führerausweises zu Warnzwecken sei ein Entscheid über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Grundsätzlich hat jeder Angeklagte das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Dieses Recht und namentlich der daraus resultierende Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich auch aus Art. 4 BV (Pra 85 [1996] Nr. 143 Erw. 1b und Nr. 204 Erw. 3, je mit Hinweisen).

Die Verwandtschaft des Warnungsentzugs mit den strafrechtlichen Sanktionen hat das Bundesgericht veranlasst, die frühere Unabhängigkeit zwischen Strafverfahren einerseits und Anordnung einer administrativen Massnahme andererseits aufzugeben und - was die Feststellung der tatsächlichen Umstände betrifft - dem Strafverfahren den Vorrang einzuräumen. Damit derselbe Lebensvorgang von den Justizund Verwaltungsbehörden nicht verschieden gewertet wird und die erhobenen Beweise nicht widersprüchlich beurteilt werden, sind die Administrativbehörden grundsätzlich an die Feststellungen des Strafrichters gebunden. Dies gilt namentlich dann, wenn das Strafurteil in einem ordentlichen Verfahren mit öffentlicher Verhandlung und mit der Möglichkeit, Parteien anzuhören und Zeugen zu befragen, ergangen ist (BGE 119 Ib 158, 164). Die Administrativbehörde hat nur dann selbständig den Sachverhalt neu zu ergründen und zu beurteilen, wenn sie ihrer Verfügung Tatsachen zugrunde legen will, die nicht Gegenstand des Strafverfahrens waren oder dem Strafrichter unbekannt waren. Stellt sie jedoch auf denjenigen Sachverhalt ab, auf dem das Strafurteil beruht, ist sie an die tatsächlichen Schlüsse im Strafurteil gebunden; es sei denn, es bestünden klare Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit einzelner Tatsachenfeststellungen. Im übrigen ist die Verwaltungsbehörde auch in bezug auf die Rechtsanwendung an die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts durch das Strafurteil gebunden (zum Ganzen: BGE 119 Ib 164).

Von den im Strafverfahren gewonnenen und im Strafurteil niedergelegten Erkenntnissen darf die Verwaltungsbehörde nach dem Gesagten nur dann abweichen,

- wenn sie Tatsachen feststellt und ihrem Entscheid zugrunde legt, die dem Strafrichter unbekannt waren oder die er nicht beachtet hat;

- wenn sie zusätzliche Beweise erhebt, deren Würdigung zu einem andern Entscheid führt, oder wenn die Beweiswürdigung durch den Strafrichter den feststehenden Tatsachen klar widerspricht; hat sie hingegen keine zusätzlichen Beweise erhoben, hat sie sich grundsätzlich an die Würdigung des Strafrichters zu halten;

- wenn der Strafrichter bei der Rechtsanwendung auf den Sachverhalt nicht sämtliche Rechtsfragen abgeklärt, insbesondere die Verletzung bestimmter Verkehrsregeln übersehen hat (BGE 119 Ib 163f. Erw. 3c/aa).

In BGE 121 II 214 hat das Bundesgericht ferner entschieden, der Angeschuldigte müsse seine Verteidigungsrechte schon im (summarischen) Strafverfahren geltend machen, wenn er weiss oder voraussehen muss, dass gegen ihn ein Führerausweisentzugsverfahren durchgeführt wird; die für den Führerausweisentzug zuständige Behörde dürfe in der Regel nicht von den Tatsachenfeststellungen des rechtskräftigen Strafurteils abweichen. Die dargelegten Grundsätze im Hinblick auf die Bindung der Administrativbehörde an die Tatsachenfeststellungen des Strafrichters hat das Bundesgericht namentlich auch für einen Strafentscheid bestätigt, der im Strafbefehlsverfahren gefällt wurde, und zwar selbst wenn er ausschliesslich auf einem Polizeirapport beruht. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Beschuldigte wusste oder angesichts der Schwere der ihm vorgeworfenen Delikte voraussehen musste, dass gegen ihn ein Führerausweisentzugsverfahren eröffnet würde, und er es trotzdem unterlässt oder darauf verzichtet, im Rahmen des (summarischen) Strafverfahrens die ihm garantierten Verteidigungsrechte geltend zu machen. Unter diesen Umständen darf der Betroffene nicht das Verwaltungsverfahren abwarten, um allfällige Rügen vorzubringen und Beweisanträge zu stellen, sondern ist nach Treu und Glauben verpflichtet, dies bereits im Rahmen des (summarischen) Strafverfahrens zu tun, sowie allenfalls die nötigen Rechtsmittel zu ergreifen (BGE 123 II 104 mit Hinweis auf BGE 121 II 214 Erw. 3a).

b) Aus den Akten geht hervor, dass das Strassenverkehrsamt dem Beschwerdeführer bereits am 13. November 1996 unter Hinweis auf die im Sachverhalt erwähnten Verfehlungen eröffnet hat, dass sowohl der Entzug des Führerausweises wie auch die Anordnung von Verkehrsunterricht in Aussicht genommen werde. Von dem ihm eingeräumten Äusserungsrecht hat er sogleich Gebrauch gemacht. Laut Aktennotiz vom 19. November 1996 bestritt A im Rahmen eines Telefonanrufs den ihm vorgeworfenen Tatbestand und ersuchte die Vorinstanz ausdrücklich darum, im Hinblick auf die Übertretungen das Strafverfahren abzuwarten. In seiner Eingabe vom 20. November 1996 äusserte sich A noch schriftlich zum Vorfall und räumte darin ein, dass er in einer Kolonne vor dem geschlossenen Bahnübergang gewartet habe. Nach Öffnung der Schranken habe er die Spur gewechselt und sei in Schrittempo weiteren Fahrzeugen gefolgt. Kurz vor dem Fussgängerstreifen habe er eine Fussgängerin wahrgenommen, die «zuerst Anstalten machte, die Strasse zu überqueren». Sie habe dann aber optisch unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie warten wolle. Ferner bat er das Strassenverkehrsamt, ihm eine Kopie des Polizeirapportes zuzustellen oder ihm Einsicht in die betreffende Akte zu geben. Daraufhin bestätigte die Vorinstanz am 25. November 1996 nochmals, dass der Ausgang des Strafverfahrens abgewartet werde; auf entsprechende Voranmeldung hin könne er indessen bereits vorher seine Akten einsehen.

Aufgrund dieser Abfolge musste dem Beschwerdeführer klar sein, dass der Ausgang des Strafverfahrens auch für die Beurteilung im Administrativverfahren eine entscheidende Rolle spielt. Dies um so mehr, als die im Schreiben des Strassenverkehrsamtes vom 13. November 1996 angegebenen Verkehrsregelverletzungen inhaltlich übereinstimmten mit den Straftatbeständen, die der Amtsstatthalter in seiner Strafverfügung gleichen Datums berücksichtigt hatte. Diese Verfügung hat der Beschwerdeführer ohne Widerspruch in Rechtskraft erwachsen lassen. Als er im Besitze dieses Entscheides war, wusste er aber bereits, dass das Strassenverkehrsamt gegen ihn ein Verfahren wegen Führerausweisentzuges eröffnet hatte, ergingen doch die diesbezügliche Mitteilung und die fragliche Strafverfügung am gleichen Tag. Im Lichte der erörterten Rechtsprechung des Bundesgerichts ist der dem rechtskräftigen Strafentscheid zugrunde liegende Sachverhalt ebenfalls für die Entzugsbehörde verbindlich. Es ist somit nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz nach Einsichtnahme in die Strafakten keine weiteren Abklärungen vorgenommen hat. Rechtserhebliche Anhaltspunkte, die ein Abweichen vom Strafentscheid rechtfertigten, liegen entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht vor. Sein Einwand, irrtümlich keine Einsprache gegen die Strafverfügung erhoben zu haben, vermag für sich allein keine Zweifel an der Richtigkeit der ihm zur Last gelegten Straftatbestände zu wecken. Wusste nämlich der Beschwerdeführer angesichts der ihm bekannt gegebenen Widerhandlungen, dass die Administrativbehörde vom gleichen Tatbestand ausgeht, wie ihn der Strafrichter berücksichtigt und beurteilt hatte, so musste auch für ihn als juristisch nicht gebildeten Laien erkennbar sein, dass sein strafrechtlich relevantes Verhalten für den Ausgang des Administrativverfahrens nicht unbedeutend sein konnte, zumal er selbst seinerzeit dessen Aussetzung bis zum Abschluss des Strafverfahrens verlangt hatte. Unter diesem Blickwinkel mag auch nicht recht einleuchten, weshalb er den ihm vorgeworfenen Sachverhalt strafrechtlich auf sich beruhen liess und aus Versehen die Strafverfügung nicht angefochten haben soll, wie er behauptet. Der Umstand, dass er erst nach Ablauf der Einsprachefrist und erst im Rahmen des ihm zum zweiten Mal eingeräumten Äusserungsrechts im Administrativverfahren einen Rechtsvertreter konsultiert hat, vermag hieran ebensowenig etwas zu ändern wie die nachträgliche Schuldbestreitung gegenüber der Vorinstanz in seinem Schreiben vom 24. Februar 1997. Vielmehr hätte er nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesgerichts von seinem Einspracherecht im Strafverfahren Gebrauch machen müssen. Soweit er erst im vorinstanzlichen Administrativverfahren wie auch im Beschwerdeverfahren vor Verwaltungsgericht Beweisanträge hinsichtlich seiner Sachverhaltsschilderung stellt, kann seinem Begehren nicht entsprochen werden. Vielmehr liegen auch für das Verwaltungs-gericht keine Gründe im Sinne der Rechtsprechung vor, von der strafrechtlichen Würdigung des Geschehens abzuweichen. Die Strafanzeige wurde rechtskräftig durch Ausfällung einer Busse vom Amtsstatthalter erledigt. Rechtsmittel, mit denen die tatsächlichen Feststellungen und die rechtliche Würdigung hätten aufgeworfen werden können, hat der Beschwerdeführer im Strafverfahren nicht ausgeschöpft. In der Sache bildete der Polizeirapport Grundlage für die Beurteilung durch den Strafrichter. Wenn nun der Beschwerdeführer den Sachverhalt abweichend vom Polizeibeamten, der das Geschehen beobachtet hat, schildert, so rechtfertigt allein dieser Standpunkt - in Anlehnung an die erwähnten Grundsätze - weder die Abnahme zusätzlicher Beweise noch eine andere Würdigung durch die Verwaltungsbehörden. Dass das Formular «Informationen über Administrativmassnahmen», das jeweils den vom Verwaltungsverfahren betroffenen Personen ausgehändigt wird, keine Erläuterungen über die Abhängigkeit von Strafund Verwaltungsverfahren enthält, ist angesichts der hier vorliegenden konkreten Umstände belanglos. Abgesehen davon enthält dieses Formular vor allem Hinweise auf die gesetzlichen Bestimmungen; ein Anspruch auf Belehrung über die aktuelle bundesgerichtliche Rechtsprechung kann daraus nicht abgeleitet werden, um so weniger, als das Verwaltungsverfahren hinsichtlich der Anordnung der eigentlichen Massnahme und der Würdigung der einzelnen Zumessungsfaktoren (z.B. berufliche Notwendigkeit, automobilistischer Leumund) frei durchgeführt wird. Nach dem Gesagten hat das Strassenverkehrsamt zu Recht auf die Ergebnisse des Strafverfahrens abgestellt.
Quelle: https://gerichte.lu.ch/recht_sprechung/publikationen
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