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Urteil Obergericht des Kantons Zürich (ZH)

Kopfdaten
Kanton:ZH
Fallnummer:UA120023
Instanz:Obergericht des Kantons Zürich
Abteilung:III. Strafkammer
Obergericht des Kantons Zürich Entscheid UA120023 vom 13.11.2012 (ZH)
Datum:13.11.2012
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Ausstand
Schlagwörter : Verfahren; Gesuch; Ausstand; Verfahrens; Gericht; Kollegialgericht; Bezirksgericht; Gesuchsteller; Verfahrensleitung; Richter; Gesuchsgegner; Einzelgericht; Rich; Massnahme; Schmid; Kommentar; Obergericht; Bezirksgerichts; Überweisung; Stationäre; Kollegialgerichts; Bezirksrichter; Konstellation; Zürich; Urteil; Abteilung; Abteilung; Behörde; Mitglied; Akten
Rechtsnorm: Art. 135 StPO ; Art. 30 BV ; Art. 328 StPO ; Art. 329 StPO ; Art. 334 StPO ; Art. 425 StPO ; Art. 56 StPO ; Art. 59 StGB ;
Referenz BGE:137 I 227;
Kommentar zugewiesen:
Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, Zürich, St. Gallen, Art. 334 StPO, 2009
Yvona Griesser, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Zürich, Art. 334 StPO, 2010
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid

Obergericht des Kantons Zürich

III. Strafkammer

Geschäfts-Nr.: UA120023-O/U/mp

Mitwirkend: die Oberrichter lic. iur. K. Balmer, Präsident, und lic. iur. W. Meyer, Ersatzoberrichterin lic. iur. M. Bertschi sowie der Gerichtsschreiber Dr. iur. S. Christen

Beschluss vom 13. November 2012

in Sachen

A. ,

Gesuchsteller

amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt lic. iur. X.

gegen

Bezirksgericht Zürich, 10. Abteilung,

Gesuchsgegner

sowie

  1. B. , lic. iur., Bezirksrichter
  2. C. , lic. iur., Gerichtsschreiber,

betreffend Ausstand

Erwägungen:

I.
  1. Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führte eine Strafuntersuchung gegen A. wegen Drohung. Sie wirft ihm vor, seine Mutter mittels zweier Messer mit dem Tod bedroht zu haben.

  2. Am 18. September 2012 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Einzelgericht des Bezirksgerichts Zürich. Sie beantragte die Bestrafung von A. wegen Drohung mit einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen und einer Busse. Gleichzeitig ersuchte sie um Anordnung der Sicherheitshaft.

    Am 27. September 2012 überwies das Einzelgericht das Verfahren an das Kollegialgericht, da die Anordnung einer stationären Massnahme in Betracht zu ziehen sei.

  3. Am 3. Oktober 2012 ordnete die Verfahrensleitung des Kollegialgerichts die Einholung eines Ergänzungsgutachtens an. Am 4. Oktober 2012 ersuchte die Verfahrensleitung das Zwangsmassnahmengericht, über die Verlängerung der Sicherheitshaft zu entscheiden und beantragte, die Sicherheitshaft bis zum 26. Mai 2013 zu verlängern.

  4. Mit Eingabe vom 8. Oktober 2012 beantragte A. den Ausstand von Bezirksrichter lic. iur. B. und Bezirksgerichtsschreiber lic. iur. C. . Beide hätten bei der Überweisungsverfügung vom 27. September 2012 des Einzelgerichts mitgewirkt und wirkten nunmehr als Verfahrensleitung des Kollegialgerichts. Es liege ein Ausstandsgrund nach Art. 56 lit. b StPO vor (vgl. Urk. 2).

Mit Schreiben vom 11. Oktober 2012 überwiesen der Bezirksrichter und der Bezirksgerichtsschreiber das Ausstandsgesuch dem Obergericht des Kantons Zü- rich, damit dieses über den Ausstand befinde (Urk. 3). Mit Eingabe vom

8. November 2012 hält A. an den Ausstandbegehren fest (Urk. 7).

II.

1. Der Gesuchsteller macht einen Ausstandsgrund nach Art. 56 lit. b StPO geltend (Urk. 2 und Urk. 7). Betroffen ist das erstinstanzliche Gericht. Das Obergericht ist zur Beurteilung des Ausstandes zuständig (vgl. Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO;

§ 49 GOG/ZH).

2.

    1. Der Gesuchsteller macht geltend (Urk. 2 und Urk. 7), die Gesuchsgegner seien als Mitglieder des Einzelgerichts zum Schluss gekommen, dass eine stationäre Massnahme in Frage komme, weshalb sie das Verfahren an das Kollegialgericht überwiesen hätten (Art. 334 StPO). Behördenmitglieder, die an einer solchen Überweisungsverfügung mitwirken, seien für das nachfolgende Verfahren wegen Vorbefassung ausgeschlossen. Die Gesuchsgegner hätten als Verfahrensleitung des Kollegialgerichts zwei verfahrensleitende Verfügungen erlassen. Aus diesen sei ersichtlich, dass nun auch das Kollegialgericht erwäge, dass eine stationäre Massnahme in Frage komme. Das Vorgehen der Gesuchsgegner sei wegen Vorbefassung unzulässig. Die beiden Verfügungen seien aufzuheben und die Verfahrenshandlungen zu wiederholen.

    2. Gemäss Art. 56 lit. b StPO tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person in den Ausstand, wenn sie in einer anderen Stellung, insbesondere als Mitglied einer Behörde, als Rechtsbeistand einer Partei, als Sachverständige oder Sachverständiger, als Zeugin oder Zeuge in der gleichen Sache tätig war.

    3. Die Frage, ob der Einzelrichter, der eine Überweisung nach Art. 334 StPO verfügt, für das nachfolgende Verfahren vor dem Kollegialgericht vorbefasst bzw. befangen ist, wird in der in der Literatur nicht einheitlich beantwortet. Schmid bejaht dies in seinem Praxiskommentar (vgl. Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2009, N. 4 zu Art. 334 StPO). Griesser bejaht dies ebenfalls und verweist auf das zitierte Werk von Schmid (Yvona Griesser, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Zürich/Basel/Genf 2010, N. 2 zu Art. 334 StPO). In seinem Handbuch bezeichnet Schmid die hier zur Diskussion stehen-

de Konstellation in Bezug auf die Vorbefassung als problematisch (Niklaus Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich/St. Gallen 2009, N. 517). Auch Boog hält die Konstellation für problematisch (Markus Boog, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Basel 2011, N. 25 zu Art. 56 StPO). Demgegenüber führen Stephenson/Zalunardo-Walser aus, bei der Überweisung des Falles an ein zuständiges Gericht könne die Frage der Vorbefassung (Art. 56 lit. b StPO) der bisher involvierten Richter auftauchen. Folge man der Praxis des Bundesgerichts bei der Revision von Abwesenheitsurteilen, sei eine Befangenheit der Richter nicht anzunehmen, zumal sie im ersten Verfahren noch gar kein Urteil gefällt hätten (Stephenson/Zalunardo-Walser, in: Basler Kommentar StPO, a.a.O, N. 4 zu Art. 334 StPO).

Nach dem Willen des Gesetzgebers muss eine Richterin oder ein Richter, die oder der bereits früher in der gleichen Strafsache tätig war, grundsätzlich in den Ausstand treten. Damit wird das der vereinheitlichten Prozessordnung zu Grunde gelegte Konzept verstärkt, wonach für verschiedenartige Funktionen im Verfahren auch verschiedene Behörden zuständig sein sollen (Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1149). Die zitierte Botschaft verweist auf die Art. 18 und Art. 19 E-StPO bzw. StPO. Dabei geht es um die Unterscheidung von Zwangsmassnahmengericht und erstinstanzlichem Gericht. In diesem Sinne stehen vorliegend nicht verschiedene Funktionen im Strafverfahren zur Diskussion. Die Gesuchsgegner waren jeweils in der gleichen Funktion, derjenigen des erstinstanzlichen Gerichts, tätig.

Nach dem Wortlaut von Art. 56 lit. b StPO hat ein Mitglied der Strafbehörde in den Ausstand zu treten, das in einer anderen Stellung in der gleichen Sache tätig war. Nicht erfasst ist demnach die Konstellation, in welcher das Mitglied der Strafbehörde in der gleichen Stellung in der gleichen Sache tätig war (vgl. Andreas

J. Keller, in: Kommentar zur StPO, a.a.O., N. 16 zu Art. 56 StPO). Das ist hier der Fall. Die Gesuchsgegner waren als Sachrichter bzw. Sachgerichtsschreiber auf der Stufe eines erstinstanzlichen Gerichts in der gleichen Sache tätig. So sind sie auch im Rahmen des Kollegialgerichts tätig, als Sachrichter bzw. Sachgerichtsschreiber eines Gerichts erster Instanz in der gleichen Sache. Der vorliegende Fall ist deshalb nicht unter Art. 56 lit. b StPO zu subsumieren. Zu prüfen ist, ob sich aus der gegebenen Konstellation eine Befangenheit im Sinne von Art. 56 lit. f StPO ergibt (vgl. Keller, in: Kommentar zur StPO, a.a.O., N. 16 zu Art. 56 StPO).

3.

    1. Gemäss Art. 56 lit. f StPO tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person in den Ausstand, wenn sie aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte.

    2. Art. 56 StPO konkretisiert die Verfassungsbestimmung von Art. 30 Abs. 1 BV. Danach hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein (BGE 137 I 227 E. 2.1 mit Hinweisen). Bei der Anwendung von Art. 56 lit. f StPO ist entscheidendes Kriterium, ob bei objektiver Betrachtungsweise der Ausgang des Verfahrens noch als offen erscheint (Urteil 1B_170/2012 vom 19. Juni 2012 E. 4.2).

    3. Mit dem Eingang der Anklageschrift wird das Verfahren beim Gericht rechtshängig (Art. 328 Abs. 1 StPO). Gemäss Art. 329 Abs. 1 StPO prüft die Verfahrensleitung, ob a) die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss erstellt sind;

b) die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind; c) Verfahrenshindernisse bestehen.

Zu den Prozessvoraussetzungen gehören namentlich die örtliche, sachliche und funktionelle Zuständigkeit des Gerichts (vgl. Griesser, in: Kommentar zur StPO,

a.a.O., N. 10 zu Art. 329 StPO; Schmid, Handbuch, a.a.O., N. 1282). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts geht die in Art. 329 Abs. 1 StPO umschriebene Prüfung durch die Verfahrensleitung nicht über die in jedem (Straf-)Gerichtsverfahren unumgänglichen ersten Vorkehrungen hinaus und begründet keine Ausstandspflicht. Mit der Erfüllung der in dieser Bestimmung umschriebenen Obliegenheiten allein legt sich die Verfahrensleitung nicht in einem Mass fest, dass sie nicht mehr als unvoreingenommen gelten könnte und das Verfahren nicht mehr als offen erschiene (vgl. Urteil 1B_703/2011 vom 3. Februar 2012 E. 2.6; vgl. auch Urteil 6B_627/2011 vom 30. Januar 2012 E. 1.1 ff.).

Im vorliegenden Fall verhält es sich ähnlich. Die Gesuchsgegner haben im Rahmen der Prüfung der Anklage nach Art. 329 Abs. 1 StPO die Zuständigkeit des Einzelgerichts verneint und das Verfahren an das Kollegialgericht überwiesen. Sie haben entgegen der Auffassung des Gesuchstellers (vgl. Urk. 7 S. 5) in der Verneinung der sachlichen Zuständigkeit keinen Vorabentscheid in der Sache gefällt und legten sich für das Erkenntnisverfahren erkennbar in keiner Weise fest. Sie nahmen keine Beweiswürdigung im Sinne eines auch nur provisorischen Schuldnachweises vor. Sie haben in der Überweisungsverfügung vom 27. September 2012 (Unt.-Akten Urk. 22) lediglich ausgeführt, aufgrund des in den Akten liegenden Gutachtens müsse eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB in Betracht gezogen werden. Die Anordnung einer solchen Massnahme liege in der Kompetenz des Kollegialgerichts. Ob tatsächlich eine stationäre Massnahme anzuordnen ist, haben sie offen gelassen. Eine Verletzung der Ausstandsvorschriften ist unter diesen Umständen nicht gegeben.

Die Literaturmeinungen, wonach die hier zur Diskussion stehende Konstellation problematisch sein könne, könnte auf Fälle zutreffen, in denen das Verfahren vor dem Einzelgericht weiter fortgeschritten ist, sodass sich der erkennende Sachrichter bereits eine Meinung über Schuld und Unschuld gebildet hat. Wie es sich damit verhält, kann hier offen gelassen werden. Eine Hauptverhandlung oder Beweiserhebungen haben vor dem Einzelgericht nicht stattgefunden.

4. Das Gesuch ist abzuweisen. Der Gesuchsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen (Art. 59 Abs. 4 Satz 2 StPO). Angesichts der Bedeutung und

Schwierigkeit des Falls sowie des Zeitaufwands ist die Gerichtsgebühr auf

Fr. 800.-- festzusetzen (§ 15 lit. d der Gebührenverordnung des Obergerichts vom

8. September 2010, LS ZH 211.11). Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Gesuchstellers ist die Gerichtsgebühr auf Fr. 300.-- herabzusetzen (Art. 425 StPO). Die Entschädigung des amtlichen Verteidigers ist am Ende des Verfahrens festzulegen (Art. 135 Abs. 2 StPO).

Es wird beschlossen:

  1. Das Ausstandsgesuch gegen Bezirksrichter lic. iur. B. und Bezirksgerichtsschreiber lic. iur. C. wird abgewiesen.

  2. Die Gerichtsgebühr wird auf Fr. 300.-- festgesetzt und dem Gesuchsteller auferlegt.

  3. Schriftliche Mitteilung an:

    • Rechtsanwalt lic. iur. X. , zweifach, für sich und den Gesuchsteller, per Gerichtsurkunde

    • das Bezirksgericht Zürich, 10. Abteilung, ad DG120324-L, unter Rücksendung der Akten, gegen Empfangsbestätigung

    • Bezirksrichter lic. iur. B. , Bezirksgericht Zürich, 10. Abteilung, unter Beilage einer Kopie von Urk. 7, gegen Empfangsbestätigung

    • Bezirksgerichtsschreiber lic. iur. C. , Bezirksgericht Zürich,

      10. Abteilung, unter Beilage einer Kopie von Urk. 7, gegen Empfangsbestätigung

  4. Rechtsmittel:

Gegen diesen Entscheid kann Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, vom Empfang an gerechnet, bei der Ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen. Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.

Zürich, 13. November 2012

Obergericht des Kantons Zürich

III. Strafkammer

Präsident:

lic. iur. K. Balmer

Gerichtsschreiber:

Dr. iur. S. Christen

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