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Urteil Obergericht (SH)

Kopfdaten
Kanton:SH
Fallnummer:Nr. 51/2002/58
Instanz:Obergericht
Abteilung:-
Obergericht Entscheid Nr. 51/2002/58 vom 09.05.2003 (SH)
Datum:09.05.2003
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort: Art. 29 Abs. 3 BV; Art. 53 und Art. 287 Abs. 1 StPO. Anspruch des Privatstrafklägers auf unentgeltliche Prozessführung und Vertretung
Schlagwörter : Unentgeltliche; Vertretung; Verfahren; Geboten; Prozessführung; Beschwerde; Sachlich; Beschwerdeführerin; Verbeiständung; Anspruch; Voraussetzungen; Hinweis; Privatstrafkläger; Anwaltlich; Verfahrens; Hinweisen; Gewähren; Gesuch; Amtliche; Person; Rechtlich; Vertreter; Privatstrafklage; Verteidigung; Umstände; Antrag; Einzelrichter; Verfahren; Schwierigkeiten; Beschuldigten
Rechtsnorm: Art. 135 ZPO ; Art. 287 StPO ; Art. 29 BV ; Art. 298 StPO ; Art. 362 StPO ; Art. 48 StPO ;
Referenz BGE:122 I 52; 123 I 149; 125 V 35; 128 I 232;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid
Art. 29 Abs. 3 BV; Art. 53 und Art. 287 Abs. 1 StPO. Anspruch des Privatstrafklägers auf unentgeltliche Prozessführung und Vertretung (Entscheid des Obergerichts Nr. 51/2002/58 vom 9. Mai 2003 i.S. R.).

Im Gegensatz zur unentgeltlichen Vertretung ist die unentgeltliche Prozessführung in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen. Der Privatstrafkläger hat jedoch gegebenenfalls einen verfassungsmässigen Anspruch auf vorläufige Befreiung von der Zahlung der Verfahrenskosten (E. 2a).

Wird der verlangte Kostenvorschuss bezahlt, so wird das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung insoweit gegenstandslos (E. 2d).

Dem Privatstrafkläger ist die unentgeltliche anwaltliche Vertretung nur zu gewähren, wenn die Verbeiständung im konkreten Fall sachlich geboten ist. Daran ist angesichts der Offizialmaxime ein strenger Massstab anzulegen. Es ist vergleichsweise auf die Voraussetzungen zu verweisen, unter denen dem Beschuldigten die amtliche Verteidigung zu gewähren ist (E. 2e).

Im vorliegenden Fall ist die unentgeltliche Verbeiständung im Sinn eines Grenzfalls sachlich geboten: Es geht nicht mehr um ein Bagatelldelikt; der Fall grenzt vielmehr an die sogenannten relativ schweren Fälle an. Die Privatstrafklägerin ist sodann mangels normaler Schulbildung und mit Blick auf ihre Verständigungsprobleme rechtlich unbeholfen (E. 2e).

R. erhob Strafantrag gegen B. wegen Drohung und einfacher Körperverletzung. Das Untersuchungsrichteramt überwies die Verfolgung und Beurteilung des B. ins Privatstrafklageverfahren beim Einzelrichter des Kantonsgerichts. Die Einzelrichterin forderte R. auf, zur Sicherstellung der Staatsgebühr Fr. 400.- einzuzahlen; ein Gesuch von R. um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Vertretung wies sie ab. R. beschwerte sich beim Obergericht und beantragte, ihr die unentgeltliche Prozessführung und die unentgeltliche Vertretung zu gewähren. Das Obergericht hiess die Beschwerde gut, soweit sie nicht gegenstandslos geworden war.

Aus den Erwägungen:

2.- a) Einem bedürftigen Geschädigten, der weder selbst noch durch seinen gesetzlichen Vertreter seine Rechte hinreichend wahrzunehmen ver-

mag, kann zur Führung einer nicht zum vorneherein als mutwillig oder aussichtslos erscheinenden Privatstrafklage oder Zivilklage auf Gesuch hin ein unentgeltlicher Vertreter nach den Bestimmungen der Zivilprozessordnung für den Kanton Schaffhausen vom 3. September 1951 (ZPO, SHR 273.100) bestellt werden. Über ein solches Begehren entscheidet der mit der Sache befasste Gerichtsvorsitzende (Art. 53 der Strafprozessordnung für den Kanton Schaffhausen vom 15. Dezember 1986 [StPO, SHR 320.100]).

Die unentgeltliche Prozessführung ist zwar als solche in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen. Doch hat heute von Verfassungs wegen generell jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht als aussichtslos erscheint (Art. 29 Abs. 3 Satz 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV, SR 101]). Die betroffene Person wird in diesem Fall vorläufig von der Zahlung der Verfahrenskosten - nicht nur von der entsprechenden Vorschusspflicht - befreit (Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. A., Bern 1999, S. 545, mit Hinweisen; Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. A., Zürich 2001, Rz. 841, S. 239; vgl. Art. 130, Art. 133 und Art. 135 ZPO). Auch die Einzelrichterin geht davon aus, dass sich dieser Anspruch auf sämtliche Kosten erstrecken dürfte. Es rechtfertigt sich durchaus, ihn gegebenenfalls auch dem Privatstrafkläger zuzugestehen, der - nachdem der Staat auf die Verfolgung seines Strafanspruchs verzichtet hat - wie der Kläger in einem Zivilprozess das Kostenund Entschädigungsrisiko selber zu tragen hat, wenn er als Strafantragsteller auf der strafrechtlichen Verfolgung des Beschuldigten besteht (vgl. Art. 352 und Art. 362 StPO).

  1. [Die Privatstrafklage kann aufgrund der Akten nicht als zum vornherein aussichtslos bezeichnet werden. Es ist zu prüfen, ob die weiteren Voraussetzungen unentgeltliche Rechtspflege erfüllt seien.]

  2. [Die finanziellen Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege sind erfüllt.]

  3. Die Beschwerdeführerin hat den von der Vorinstanz gestützt auf Art. 287 Abs. 1 StPO verlangten Kostenvorschuss in der Zwischenzeit bezahlt. Insoweit ist ihr Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gegenstandslos geworden. Sie hat dieses jedoch ... generell gestellt und nicht nur den Erlass der in jenem Zeitpunkt konkret in Frage stehenden Vorschusszahlung beantragt. Ihrem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung für das erstinstanzliche Verfahren ist somit zu entsprechen, soweit es allfällige über den bereits geleisteten Vorschuss hinausgehende Kosten betrifft.

  4. Die Einzelrichterin hat ... erklärt, der Beschwerdeführerin könne die unentgeltliche Vertretung nicht zugestanden werden, weil die Vertretung durch einen Anwalt im konkreten Fall nicht erforderlich sei.

Der Anspruch auf unentgeltliche anwaltliche Verbeiständung besteht nicht voraussetzungslos. Diese muss vielmehr im konkreten Fall sachlich geboten sein. Dabei sind die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person der Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa ihre Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden. Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung der Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die Gesuchstellerin auf sich allein gestellt nicht gewachsen ist. Die sachliche Notwendigkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhalts mitzuwirken. Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. E. 4b; vgl. auch BGE 128 I 232 f. E. 2.5.2; je mit Hinweisen). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung sollte ein durchschnittlicher Bürger (auch als juristischer Laie) in der Lage sein, seine Interessen in einer Strafuntersuchung selbst wahrzunehmen. Ausnahmen von diesem Grundsatz können sich unter gewissen Umständen aufdrängen, falls die geschädigte Person in ihrem Geisteszustand beeinträchtigt oder minderjährig ist oder sofern sie nur über geringe Kenntnisse der Verfahrenssprache verfügt und sich zudem in einer schwierigen psychischen Situation befindet, was insbesondere bei schweren Beziehungsdelikten der Fall sein kann (BGE 123 I 149 f. E. 3b mit Hinweisen).

Für die massgebliche Frage, ob die bedürftige Geschädigte im Sinn von Art. 53 Satz 1 StPO selbst oder durch ihren gesetzlichen Vertreter ihre Rechte hinreichend wahrzunehmen vermöge, ist zudem vergleichsweise auch auf die Voraussetzungen zu verweisen, unter denen dem Beschuldigten die amtliche Verteidigung zu gewähren ist. Dieser muss, auch wenn es sich nicht um einen besonders schwerwiegenden Fall handelt, durch einen - allenfalls amtlichen - Verteidiger verbeiständet sein, wenn er infolge geistiger oder körperlicher Gebrechen, wegen Minderjährigkeit, hohen Alters, besonderer sprachlicher Schwierigkeiten oder aus anderen Gründen seine Rechte nicht ausreichend zu wahren vermag, es sei denn, die Verbeiständung durch den gesetzlichen Vertreter oder der Beizug eines Dolmetschers genüge (Art. 47 lit. c [i.V.m.

Art. 48 Abs. 1] StPO). Ausserdem kann amtliche Verteidigung angeordnet werden, wenn aus besonderen Gründen, namentlich wegen verwickelter Sachoder Rechtslage, eine Verbeiständung des Beschuldigten im Interesse der Rechtspflege geboten erscheint (Art. 48 Abs. 3 StPO).

Im vorliegenden Verfahren geht es angesichts der in Frage stehenden Körperverletzung (traumatische Trommelfellperforation rechts, Nasenbeinbruch und gemäss neu eingereichtem ärztlichem Zeugnis auch Orbitabodenfraktur rechts mit Tiefertreten des Auges) nicht mehr um ein offensichtliches Bagatelldelikt. Der zu beurteilende Fall ist zwar nicht besonders schwerwiegend, grenzt aber doch zumindest an die relativ schweren Fälle im Sinn der einschlägigen Rechtsprechung an (bei denen gemäss Rechtsprechung zum Anspruch auf amtliche Verteidigung mit einer Freiheitsstrafe von einigen Wochen bis Monaten zu rechnen ist; vgl. BGE 122 I 52 E. 2c/bb mit Hinweis). Immerhin kann nicht gesagt werden, es handle sich um ein besonders komplexes und aufwendiges Strafverfahren und der Fall biete als solcher besondere Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Natur. Daher ist zu prüfen, ob spezielle, in der Person der Beschwerdeführerin liegende Gründe unter den konkreten Umständen eine anwaltliche Vertretung als sachlich geboten erscheinen lassen.

Die Beschwerdeführerin lässt geltend machen, sie sei ungebildet und Analphabetin bzw. leide an starker Schreibund Leseschwäche und spreche nur ungenügend Deutsch; sie könne ohne rechtlichen Beistand ein Privatstrafklageverfahren kaum erfolgreich bestehen. Es ist in der Tat davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin nicht als durchschnittliche Bürgerin mit normaler Schuldbildung und ohne Verständigungsprobleme zu betrachten ist, die sich ohne weiteres im Strafverfahren zurechtfinden sollte. Zwar kann sprachlichen Schwierigkeiten als solchen durch den Beizug eines Dolmetschers begegnet werden. Doch ist zu beachten, dass sich die prozessuale Rolle der Beschwerdeführerin nicht - wie in einer ordentlichen Strafuntersuchung - darauf beschränkt, als mutmassliche Geschädigte allfällige Schadenersatzund Genugtuungsforderungen anzumelden und gegebenenfalls ihre Parteirechte auszuüben, d.h. etwa an den Einvernahmen teilzunehmen und Ergänzungsfragen zu stellen. Vielmehr trägt sie als Privatstrafklägerin letztlich selber die Verantwortung für die vollständige Darstellung des massgeblichen Sachverhalts und die Bezeichnung der Beweismittel (vgl. Art. 298 StPO), auch wenn ihre diesbezüglichen Obliegenheiten durch den Untersuchungsgrundsatz und die richterliche Fragepflicht gemildert werden (vgl. OGE vom

8. Juli 1994 i.S. F. und G., E. 2 mit Hinweisen, Amtsbericht 1994, S. 181). Kommt dazu, dass der Angeklagte - offenbar über eine Rechtsschutzversicherung - anwaltlich vertreten ist; dies ist mit Blick auf den Grundsatz der Waf-

fengleichheit ebenfalls zu berücksichtigen (vgl. Müller, S. 552, mit Hinweisen).

In der Gesamtbetrachtung erscheint unter den gegebenen Umständen die anwaltliche Vertretung der rechtlich unbeholfenen Beschwerdeführerin als sachlich geboten, auch wenn es sich um einen Grenzfall handeln mag. Es ist ihr somit - da auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind - für das kantonsgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Vertretung zu gewähren.

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