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Urteil Obergericht (BE)

Kopfdaten
Kanton:BE
Fallnummer:BK 2017 167
Instanz:Obergericht
Abteilung:Beschwerdekammer in Strafsachen
Obergericht Entscheid BK 2017 167 vom 17.07.2017 (BE)
Datum:17.07.2017
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Einstellung Strafverfahren wegen Zivildienstversäumnisses, evtl. Zivildienstverweigerung (Leitentscheid)
Schlagwörter : Beschwerde; Schuldig; Beschuldigte; Zivildienst; Beschwerdeführerin; Zustellfiktion; Sendung; Erfahren; Stellt; Beschuldigten; Empfänger; Adresse; Bedingung; Zustellung; Anzeige; Einsatz; Zugestellt; Anzeigebeilage; Verfahren; Aufgebot; Ermittelt; Verfahrens; Kenntnis; Verfügung; Postsendung
Rechtsnorm: Art. 104 StPO ; Art. 20 VwVG ; Art. 34 VwVG ; Art. 382 StPO ; Art. 42 BGG ; Art. 428 StPO ; Art. 44 BGG ; Art. 85 StPO ;
Referenz BGE:-
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid
BK 2017 167 - Einstellung Strafverfahren wegen Zivildienstversäumnisses, evtl. Zivildienstverweigerung (Leitentscheid)
Obergericht
des Kantons Bern

Beschwerdekammer in Strafsachen
Cour suprême
du canton de Berne

Chambre de recours pénale

Hochschulstrasse 17
Postfach
3001 Bern
Telefon +41 31 635 48 09
Fax +41 31 635 48 15
obergericht-straf.bern@justice.be.ch
www.justice.be.ch/obergericht
Beschluss
BK 17 167
Bern, 26. Juni 2017



Besetzung Oberrichterin Schnell (Präsidentin), Oberrichter J. Bähler, Oberrichter Trenkel
Gerichtsschreiber Müller



Verfahrensbeteiligte A.________
Beschuldigter


B.________
Beschwerdeführerin



Gegenstand Einstellung
Strafverfahren wegen Zivildienstversäumnisses, evtl. Zivildienstverweigerung

Beschwerde gegen die Verfügung der Regionalen Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland vom 13. März 2017 (BJS 15 19350)

Regeste
Art. 72-74 ZDG, Art. 20 Abs. 2bis VwVG; Zustellungsfiktion
Wenn der angeschriebene Empfänger einer Sendung durch die Post nicht ermittelt werden kann, ist die Fiktion der Sendungszustellung im Sinne von Art. 20 Abs. 2bis VwVG ausgeschlossen (E. 7.2).
Erwägungen:
1. Am 31. Juli 2015 erstattete B.________ (nachfolgend: Beschwerdeführerin) Strafanzeige gegen A.________ (nachfolgend: Beschuldigter) wegen mehrfachen Zivildienstversäumnisses, eventuell Zivildienstverweigerung im Sinne von Art. 72-74 Zivildienstgesetz (ZDG; SR 824). Am 13. März 2017 stellte die Regionale Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) das Verfahren ein. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin am 20. April 2017 Beschwerde und beantragte was folgt:
1. Die Verfügung der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Berner Jura-Seeland, vom 13. März 2017 sei aufzuheben.
2. Herr A.________ sei des Vergehens gegen das Bundesgesetz über den zivilen Ersatzdienst schuldig zu erklären und angemessen zu bestrafen.
In ihrer Stellungnahme beantragte die Generalstaatsanwaltschaft die Abweisung der Beschwerde; die Kosten seien dem Bund aufzuerlegen. In der Replik vom 16. Juni 2017 hielt die Beschwerdeführerin an ihren Rechtsbegehren fest.
2. Gegen Verfügungen und Verfahrenshandlungen der Staatsanwaltschaft kann bei der Beschwerdekammer in Strafsachen innert 10 Tagen schriftlich und begründet Beschwerde geführt werden (Art. 393 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Art. 396 Abs. 1 Schweizerische Strafprozessordnung [StPO; SR 312], Art. 35 des Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft [GSOG; BSG 161.1] i.V.m. Art. 29 Abs. 2 des Organisationsreglements des Obergerichts [OrR OG; BSG 162.11]). Bei der als Einstellungsverfügung bezeichneten Verfügung vom 13. März 2017 handelt es sich in Wirklichkeit um eine Nichtanhandnahmeverfügung, was an ihrer Beschwerdefähigkeit indessen nichts ändert. Die Beschwerdeführerin hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung der Einstellungs- respektive Nichtanhandnahmeverfügung und ist somit zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 382 Abs. 1 StPO; Art. 104 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 78a Abs. 2 ZDG). Auf die form- und fristgerechte Beschwerde ist einzutreten.
3. Die Einstellungs- respektive Nichtanhandnahmeverfügung wird zusammengefasst damit begründet, dass der Beschuldigte erst mit E-Mail vom 11. Juni 2015 und somit zeitlich nach dem 22. Mai 2015 beziehungsweise dem 8. Juni 2015 von den Aufgeboten zum Zivildiensteinsatz Kenntnis erhalten habe. Folglich habe er weder zum Vorstellungsgespräch vom 22. Mai 2015 erscheinen noch den Zivildiensteinsatz am 8. Juni 2015 antreten können. Ihm könne diesbezüglich kein Verschulden nachgewiesen werden.
4. Die Beschwerdeführerin behauptet in der Beschwerdeschrift, es greife die Zustellfiktion. Der Beschuldigte habe spätestens seit dem Schreiben des Regionalzentrums vom 9. Oktober 2014 von seiner Einsatzpflicht im Jahr 2015 gewusst. Ihm sei aus dem Einführungskurs bekannt gewesen, dass er von Amtes wegen aufgeboten werde, falls er fristgerecht keine Einsatzvereinbarung einreiche. Im Zeitpunkt der Erstellung des Aufgebots von Amtes wegen seien seit dem Erinnerungsschreiben vom 9. Oktober 2014 nur rund vier Monate vergangen. Der Beschuldigte habe mit dem Aufgebot rechnen müssen. Ausserdem sei er verpflichtet gewesen, der B.________ seinen Aufenthaltsort oder eine Korrespondenzadresse bekannt zu geben. Die Aufgebote seien dem Beschuldigten an die der B.________ zuletzt gemeldete Adresse gesendet worden. Das pflichtwidrige Verhalten des Beschuldigten könne nicht die Verletzung einer anderen Pflicht rechtfertigen. Weil die Aufgebote vom 18. Februar 2015 rechtmässig zugestellt worden seien, der Beschuldigte sie aber nicht befolgt habe, habe er sich strafbar gemacht.
5. Die Generalstaatsanwaltschaft vertritt folgende Auffassung: Die angezeigten Tatbestände setzten objektiv voraus, dass der Beschuldigte zur Zivildienstleistung aufgeboten, ihm die Verfügungen also ordnungsgemäss eröffnet worden sei/en. Massgeblich sei die Sendung vom 18. Februar 2015 (Anzeigebeilagen 9-10). Damit sei der Beschuldigte zum Einsatz vom 8. Juni bis 28. August 2015 und zum Vorstellungsgespräch am 22. Mai 2015 aufgeboten worden. Verschickt worden seien die Schreiben eingeschrieben an die der Beschwerdeführerin einzig bekannte Adresse des Beschuldigten an der C.________-Strasse Nr. ________ in D.________. Sie seien jedoch an die Beschwerdeführerin zurückgegangen mit dem Vermerk «Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden» (Anzeigebeilagen 11-12). Somit handle es sich um eine unzustellbare Sendung. Es stelle sich also nicht die Frage, ob die Sendung nach Ablauf der Abholfrist als zugestellt gelte (Zustellfiktion). Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Beschuldigte von der Postsendung keine Kenntnis habe erlangen können, weil er nicht avisiert, das heisse an seiner Postadresse kein Abholschein deponiert worden sei. Die formelle Bedingung der Zustellfiktion sei nicht erfüllt (Egli, in: Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2016, N. 50 ff. zu Art. 20 VwVG). Fraglich sei überdies, ob der Beschuldigte mit der Verfügung zum Zivildiensteinsatz mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit habe rechnen müssen (Prozessrechtsverhältnis; materielle Bedingung), das heisse, ob dem Beschuldigten die Einleitung eines Verfahrens rechtsgenüglich mitgeteilt worden sei. Nach Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft habe kein Prozessrechtsverhältnis bestanden. Einerseits habe die Beschwerdeführerin keinen Nachweis dafür erbringen können, dass dem Beschuldigten die Postsendung vom 9. Oktober 2014 (Anzeigebeilage 5) effektiv zugestellt worden sei (vgl. dazu Uhlmann/Schilling-Schwank, in: Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2016, N. 13 zu Art. 34 VwVG). Andererseits dürfte der Umstand, dass der Beschuldigte aufgrund der besuchten Einführungsveranstaltung mutmasslich davon Kenntnis gehabt habe, dass zu einem unbestimmten Zeitpunkt ein Zivildiensteinsatz verfügt werden könnte, kein solches Verhältnis begründen.
Am 28. Mai 2015 (d.h. nach Ablauf des Termins für das Vorstellungsgespräch) habe die Beschwerdeführerin sämtliche Schreiben abermals an den Beschuldigten geschickt (Anzeigebeilagen 13-16). Diese Postsendung sei wiederum an die C.________-Strasse Nr.________ in D.________ geschickt worden, obwohl die Beschwerdeführerin in der Zwischenzeit erfahren habe, dass der Beschuldigte ohne festen Wohnsitz sei, ihm also über diese Adresse keine Post zugestellt werden könne (Anzeige vom 31. Juli 2015, S. 2). Es dürfte nicht zulässig sein, einer Person an ihre ehemalige Adresse weiterhin und ohne Aussicht auf eine gesetzmässige Zustellung Postsendungen zukommen zu lassen und sich anschliessend auf die Zustellfiktion zu berufen. Die Schreiben seien am 10. Juni 2015 ausserdem per E-Mail an den Beschuldigten verschickt worden, nachdem auf diesem Weg der Kontakt habe hergestellt werden können. Die Termine zum Vorstellungsgespräch sowie zum Antritt des Zivildiensteinsatzes seien zu diesem Zeitpunkt bereits verstrichen gewesen, jedoch sei der Beschuldigte darauf hingewiesen worden, dass er den Einsatz noch antreten könne (Anzeigebeilage 17). Diese elektronische Zustellung sei jedoch nicht rechtsgültig erfolgt. Es dürfe daraus nicht abgeleitet werden, dass der Beschuldigte von der Aufforderung zum Zivildienst Kenntnis erlangt habe.
Schliesslich könne der subjektive Tatbestand von Art. 72 und 73 ZDG nicht über die Zustellfiktion begründet werden. Selbst wenn dem Beschuldigten die Verfügung vom 18. Februar 2015 gestützt auf die Zustellfiktion zugestellt worden wäre, dieser aber keine Kenntnis vom Inhalt der Verfügungen habe nehmen können, sei eine vorsätzliche Begehung der nicht angetretenen beziehungsweise verweigerten Zivildienstleistungen ausgeschlossen.
6. In ihrer Replik entgegnet die Beschwerdeführerin im Wesentlichen, das Deponieren eines Abholscheins könne keine Voraussetzung sein, damit die Zustellungsfiktion greife. Eine Sendung sei auch dann unzustellbar, wenn der Empfänger durch die Post nicht ermittelt werden könne. Art. 20 Abs. 2bis Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVG; SR 172.021) stelle klar, dass eine Mitteilung diesfalls spätestens am siebten Tag nach dem ersten erfolglosen Zustellversuch als erfolgt gelte (Cavelti; in: Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2008, N. 35 zu Art. 20 VwVG). In der Zivildienstverordnung (ZDV; SR 824.01) sei für Zivildienstpflichtige zudem eine Meldepflicht verankert. Gemäss Art. 75 Abs. 1 Bst. a ZDV melde die zivildienstpflichtige Person der Vollzugsstelle unverzüglich insbesondere die Änderung der Adressen des Wohnsitzes und des Aufenthaltsorts. Es könne nicht sein, dass sich Zivildienstpflichtige durch das Nichtbefolgen von in der Verordnung festgelegten Pflichten ihrer Dienstpflicht respektive einer disziplinar- oder strafrechtlichen Konsequenz entzögen. Auch das Bundesverwaltungsgericht scheine der Ansicht zu sein, dass die Zustellfiktion bei einem pflichtwidrigen Nicht-Mitteilen des Wohnsitzwechsels und damit bei mit dem Vermerk «Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden» retournierten Sendungen greife (vgl. Beilage Replik). Würde die Zustellfiktion nicht greifen, hätte dies für den Vollzug der Dienstpflicht weitreichende Konsequenzen.
Selbst wenn die Zustellung des Erinnerungsschreibens vom 9. Oktober 2014 kaum bewiesen werden könnte, sei grundsätzlich davon auszugehen, dass A-Post-Schreiben zugestellt würden. Der Beschuldigte habe den Erhalt nie bestritten. Es sei davon auszugehen, dass er es erhalten habe. Beim Verfahren betreffend Aufgebot von Amtes wegen handle sich um eine besondere Situation. Man dürfe davon ausgehen, dass Zivildienstpflichtige, die - wie der Beschuldigte - gemäss Art. 39a Abs. 3 Bst. a ZDV jährlich Einsätze zu erbringen hätten, um ihre jährliche Einsatzpflicht wüssten. Sie wüssten, dass ein Aufgebot von Amtes wegen erstellt werde, wenn sie pflichtwidrig selber keine Einsatzvereinbarung einreichten. Dies reiche für die Erfüllung der materiellen Bedingung der Zustellfiktion. Zusätzlich würden die Zivildienstpflichtigen jeweils an ihre konkrete Einsatzpflicht erinnert und bei Bedarf ermahnt.
Die Generalstaatsanwaltschaft gehe des Weiteren von falschen Annahmen aus. Anlässlich eines Telefonats mit der Einwohnerkontrolle D.________ vom 20. Mai 2015 habe diese bestätigt, dass der Beschuldigte nicht mehr polizeilich gesucht werde und er seit April 2015 über einen festen Wohnsitz verfüge. So sei das Einschreiben vom 28. Mai 2015 denn auch nicht mit dem Vermerk «Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden», sondern mit dem Vermerk «nicht abgeholt» retourniert worden. Folglich habe der Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt seinen Wohnsitz an dieser Adresse gehabt. Diese Zustellung sei jedoch rechtlich unerheblich. Die rechtsgültige Zustellung sei bereits mit dem ursprünglichen Einschreiben vom 18. Februar 2015 erfolgt. Zum Zeitpunkt der Nachsendung sei die Aufgebotsfrist abgelaufen und der Termin zum Vorstellungsgespräch vorbei gewesen. Bei der Nachsendung habe es sich um eine blosse Dienstleistung gehandelt, damit der Beschuldigte Kenntnis über sämtliche Schreiben erhalte. Es könne keine Rede davon sein, dass die B.________ dem Beschuldigten an eine ehemalige Adresse und ohne Aussicht auf eine gesetzmässige Zustellung Postsendungen habe zukommen lassen.
Da der Beschuldigte über Monate nicht dafür gesorgt habe, dass er von gültig zugestellten Aufgeboten effektiv Kenntnis nehmen könne, habe er in Kauf genommen, den angeordneten Zivildiensteinsatz sowie das Vorstellungsgespräch zu versäumen. Indem er den Aufgeboten nicht nachgekommen sei, habe er sich des eventualvorsätzlichen Zivildienstversäumnisses gemäss Art. 73 ZDG schuldig gemacht. Allenfalls könne sogar auf eine Verweigerungsabsicht geschlossen werden. So habe der Beschuldigte pflichtwidrig keine Einsatzvereinbarung eingereicht, der B.________ seinen Wohnsitz beziehungsweise seinen Aufenthaltsort nicht bekannt gegeben und seit seiner Zulassung im Jahr 2013 nur einen einzigen Diensttag (Einführungskurs im Jahr 2013) geleistet. Damit wäre der Tatbestand der Zivildienstverweigerung erfüllt. Ferner verkenne die Generalstaatsanwaltschaft - soweit sie ausführe, dass eine Bestrafung wegen nicht angetretenen Zivildienstleistungen ausser Betracht falle, sobald Artikel 73 ZDG nicht erfüllt sei -, dass im ZDG auch der Tatbestand des fahrlässigen Zivildienstversäumnisses existiere.
7.
7.1 Wer in der Absicht, den Zivildienst zu verweigern, eine Zivildienstleistung, zu der er aufgeboten ist, nicht antritt, seinen Einsatzbetrieb ohne Erlaubnis verlässt oder nach einer rechtmässigen Abwesenheit nicht zu ihm zurückkehrt, wird gemäss Art. 72 Abs. 1 ZDG mit Freiheitsstrafe bis zu 18 Monaten oder Geldstrafe bestraft.
Wer ohne die Absicht, den Zivildienst zu verweigern, eine Zivildienstleistung, zu der er aufgeboten ist, nicht antritt, seinen Einsatzbetrieb ohne Erlaubnis verlässt oder nach einer rechtmässigen Abwesenheit nicht zu ihm zurückkehrt, wird gemäss Art. 73 Abs. 1 ZDG mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft.
Wer fahrlässig eine Zivildienstleistung, zu der er aufgeboten ist, nicht antritt, seinen Einsatzbetrieb ohne Erlaubnis verlässt oder nach einer rechtmässigen Abwesenheit nicht oder nicht rechtzeitig zu ihm zurückkehrt, wird gemäss Art. 74 Abs. 1 ZDG mit Busse bestraft.
Nach Art. 20 Abs. 2bis VwVG gilt eine Mitteilung, die nur gegen Unterschrift des Adressaten oder einer anderen berechtigten Person überbracht wird, spätestens am siebenten Tag nach dem ersten erfolglosen Zustellungsversuch als erfolgt. Gemäss Egli müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, um bei eingeschriebenen Sendungen die Zustellfiktion auszulösen: Erstens muss die Abholungseinladung in den physischen oder elektronischen Briefkasten beziehungsweise ins Postfach des Empfängers gelegt worden sein (formelle Bedingung). Zweitens muss der Empfänger eine solche Zustellung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten (insb. bei Vorliegen eines Verfahrens- oder Prozessrechtsverhältnisses; materielle Bedingung). In Bezug auf die formelle Bedingung wird von der natürlichen Vermutung ausgegangen, dass die Einladung zur Abholung der eingeschriebenen Sendung effektiv erfolgt ist (Egli, a.a.O., N. 50 ff. zu Art. 20 VwVG). Cavelti scheint den Begriff des Zustellversuchs etwas weiter zu verstehen, wenn er schreibt: Die Zustellfiktion tritt somit erst nach einem erfolglosen Zustellversuch ein. Unzustellbar ist eine Sendung, wenn der Empfänger durch die Post nicht ermittelt werden kann, die Annahme verweigert wird, die Sendung nicht innert der Frist abgeholt oder der geforderte Preis bzw. der Nachnahmebetrag nicht bezahlt wird. Er verweist dabei auf Ziffer 2.4.1 (heute Ziffer 2.6.1) der AGB «Postdienstleistungen» (Cavelti, a.a.O., N. 35 und Fn. 118 zu Art. 20 VwVG; Hervorhebung hinzugefügt). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung schliesslich gelten behördliche Sendungen in Prozessverfahren nicht erst als zugestellt, wenn der Adressat sie tatsächlich in Empfang nimmt. Es genügt, wenn die Sendung in den Machtbereich des Adressaten gelangt, so dass er sie zur Kenntnis nehmen kann. Wird der Empfänger einer eingeschriebenen Briefpostsendung oder Gerichtsurkunde nicht angetroffen und daher eine Abholeinladung in seinen Briefkasten oder in sein Postfach gelegt, wird die Sendung in jenem Zeitpunkt als zugestellt betrachtet, in dem sie auf der Poststelle abgeholt wird. Geschieht dies nicht innert der Abholfrist, die sieben Tage beträgt, wird angenommen, dass sie am letzten Tag dieser Frist zugestellt wurde (Urteil des Bundesgerichts 6B_511/2010 vom 13. August 2010 E. 3; vgl. auch Amstutz/Arnold, Basler Kommentar BGG, 2. Aufl. 2011, N. 31 zu Art. 44 BGG).
7.2 Hinsichtlich der erwähnten Postsendung vom 18. Februar 2015 stellt sich also die Frage, ob ein (erfolgloser) Zustellversuch erfolgt ist oder nicht. Mit anderen Worten ist zu entscheiden, ob es einen Zustellversuch im Sinne der Zustellfiktion darstellt, wenn ein Postbeamte eine Sendung gleich nach dem Aufsuchen eines Briefkastens o.Ä. wieder mitnimmt, diese mit dem Vermerk ergänzt «Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden», und die Post diese Sendung sofort an den Absender retourniert. Davon ist - entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin - nicht auszugehen. Um von einem Zustellversuch im juristischen Sinne ausgehen zu können, bedarf es für den Empfänger der Möglichkeit, von der Sendung Kenntnis zu erhalten. Dies geschieht für gewöhnlich mit einer Abholungseinladung. Erfolgt mithin keinerlei Benachrichtigung, ist nicht von einem Zustellversuch im Sinne der Zustellfiktion auszugehen. Der Kommentierung Caveltis kann somit nur insoweit gefolgt werden, als er ausführt, dass eine Sendung dann unzustellbar sei, wenn der Empfänger durch die Post nicht ermittelt werden könne, die Annahme verweigert werde, die Sendung nicht innert der Frist abgeholt oder der geforderte Preis beziehungsweise der Nachnahmebetrag nicht bezahlt werde. Daraus den Schluss zu ziehen, in diesen Fällen handle es sich entsprechend um erfolglose Zustellversuche im rechtlichen Sinne, scheint indes als zu weitgehend. Das Erfordernis, dass die Sendung in den Machtbereich des Adressaten gelangt sein muss, hat denn auch bei der Zustellfiktion nach Art. 85 Abs. 4 StPO zur Folge, dass bei Sendungen, bei welchen der Empfänger unter der angegebenen Adresse nicht ermittelt werden konnte, die Zustellfiktion keine Anwendung findet (vgl. Arquint, in: Basler Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, N. 6 und 12 zu Art. 85 StPO). Bei Art. 20 Abs. 2bis VwVG kann nichts anderes gelten.
Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die siebentägige Frist gar nicht eingehalten worden ist. Wie sich aus Anzeigebeilage 11 ergibt, erfolgte der Retoureneingang bei der B.________ bereits am 23. Februar 2015, also nur fünf Tage nach dem Versand am 18. Februar 2015. Dies verdeutlicht gleichzeitig, dass keine Abholungseinladung mit der Möglichkeit der siebentägigen Abholung deponiert worden war. Nichts zu ihren Gunsten abzuleiten vermag die Beschwerdeführerin überdies aus der Beilage zur Replik und ihrem Verweis auf Art. 75 Abs. 1 Bst. a ZDV: Den Schluss zu ziehen, «Sie haben uns Ihren Wohnsitzwechsel nicht mitgeteilt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Ihnen die Verfügung vom 2. Dezember 2014 rechtsgültig eröffnet worden ist», erscheint vor dem Hintergrund der dargelegten Lehre und Rechtsprechung kaum als statthaft. Wer gegen Art. 75 ZDV verstösst, kann hierfür womöglich bestraft werden. Die Erfüllung der formellen Bedingung der Zustellfiktion kann daraus aber nicht - zumindest nicht ohne Weiteres - abgeleitet werden.
Die formelle Bedingung der Zustellfiktion ist somit hinsichtlich der Postsendung vom 18. Februar 2015 nicht erfüllt. Damit kann offengelassen werden, wie es sich diesbezüglich mit der materiellen Bedingung verhält.
7.3 Allerdings erfolgte - wie auch die Parteien ausführen - nach Abklärungen durch die Beschwerdeführerin bei der Stadt D.________ ein weiterer Zustellungsversuch mit eingeschriebenem Brief vom 28. Mai 2015 (Anzeigebeilage 13). In diesem Brief sendete die Beschwerdeführerin sämtliche vorhergegangene Korrespondenz als Beilage mit. Dieser Brief wurde vom Beschuldigten gemäss Anzeigebeilage 14 nicht abgeholt und anschliessend der Beschwerdeführerin retourniert. Eingegangen bei der Zivildienststelle ist er schliesslich am 10. Juni 2015, sodass davon ausgegangen werden kann, dass eine Abholungseinladung deponiert und die Frist abgewartet worden ist (vgl. handschriftlichen Vermerk: «8 6 15»).
Es stellt sich also die Frage, ob für diese Sendung die Zustellfiktion gilt und welche verfahrens- oder strafrechtlichen Konsequenzen damit gegebenenfalls verbunden sind. Nach Ansicht der Kammer ist die formelle Bedingung in dieser Konstellation erfüllt. Ob jedoch die materielle Bedingung der Zustellfiktion erfüllt ist, ist näher zu beleuchten. Das Bundesgericht hielt hierzu Folgendes fest: Die Zustellfiktion kann jedoch bei langer Verfahrensdauer zeitlich nicht unbeschränkt zur Anwendung gelangen. Das Bundesgericht hat verschiedentlich einen Zeitraum bis zu einem Jahr seit der letzten verfahrensrechtlichen Handlung der Behörde als vertretbar erachtet. Während dieser Zeit darf die Zustellfiktion aufrechterhalten werden (vgl. etwa Urteil 6B_553/2008 vom 27. August 2008 E. 3 mit Hinweisen; Urteil 2P.120/2005 vom 23. März 2006 E. 4.2, in: Zbl 108/2007 S. 46). In der Lehre wird ebenfalls ein Zeitraum von mehreren Monaten bis zu einem Jahr genannt. Dauert die Untätigkeit der Behörde länger an, kann nach dieser Meinung die Zustellfiktion nicht mehr greifen (YVES DONZALLAZ, La notification en droit interne suisse, Bern 2002, S. 501). (Urteil des Bundesgerichts 6B_511/2010 vom 13. August 2010 E. 3).
Die Beschwerdeführerin bringt vor, dem Beschuldigten sei das Verfahrens- respektive Prozessrechtsverhältnis bereits als Folge eines «Einführungskurses» bekannt gewesen. Wann ein solcher stattgefunden haben soll, ist allerdings unklar. Aus dem Schreiben der Beschwerdeführerin vom 26. Februar 2013 (Anzeigebeilage 1) ergibt sich bloss, dass der Beschuldigte «in den nächsten Wochen [ ] eine Einladung zu einer Informationsveranstaltung» erhalten werde. Es ist deswegen und vor dem Hintergrund, dass der Beschuldigte gemäss Strafbefehl vom 4. Februar 2014 bereits am 16. Juni 2013 seine erste Verfehlung begangen hat, indem er nicht am Einführungskurs beim Einsatzbetrieb E.________ erschienen ist, davon auszugehen, dass diese bereits im Laufe des ersten Halbjahres 2013 stattgefunden hatte. Dementsprechend kann/konnte im Frühjahr 2015 nicht mehr von einem Verfahrens- oder Prozessrechtsverhältnis ausgegangen werden. Daran vermag auch das Schreiben an den Beschuldigten vom 9. Oktober 2014 (Anzeigebeilage 5) nichts zu ändern. Wie die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht festhält, ist nicht erstellt, dass dieser Brief dem Beschuldigten zugestellt worden ist. Das Argument der Beschwerdeführerin, dass A-Post-Sendungen grundsätzlich zugestellt würden und der Beschuldigte den Erhalt nicht bestritten habe, kann nicht zur Annahme eines rechtsgenügenden Zustellnachweises führen. Analoges gilt für das Erinnerungsschreiben vom 9. Dezember 2014 (Anzeigebeilage 6), da dieses retouniert wurde mit dem Vermerk «Empfänger konnte unter angegebener Adresse nicht ermittelt werden». Die erste Kontaktaufnahme mit dem Beschuldigten gelang vielmehr erst am 10. Juni 2015, und zwar ausschliesslich per E-Mail. Hieraus kann von vornherein keine rechtsgültige Zustellung abgeleitet werden (Anzeigebeilage 17).
Zusammengefasst ist festzuhalten, dass wenn überhaupt anfangs des Jahres 2013 ein Verfahrens- oder Prozessrechtsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und dem Beschuldigten bestanden hatte, dieses Ende Mai 2015 nicht mehr existierte. Die materielle Bedingung der Zustellfiktion ist folglich hinsichtlich der Postsendung vom 28. Mai 2015 nicht erfüllt.
7.4 Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen.
8. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 428 Abs. 1 StPO). Entschädigungswürdige Nachteile sind keine entstanden.
Die Beschwerdekammer in Strafsachen beschliesst:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, bestimmt auf CHF 1‘000.00, werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Zu eröffnen:
• dem Beschuldigten (via Publikation)
• der Beschwerdeführerin
• der Generalstaatsanwaltschaft
Mitzuteilen:
• der Regionalen Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland, a.o. Staatsanwältin F.________ (mit den Akten)



Bern, 26. Juni 2017
Im Namen der Beschwerdekammer
in Strafsachen
Die Präsidentin:
Oberrichterin Schnell

Der Gerichtsschreiber:
Müller


Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden durch die Beschwerdekammer in Strafsachen in Rechnung gestellt.


Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Zustellung beim Bundesgericht, Av. du Tribunal fédéral 29, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 39 ff., 78 ff. und 90 ff. des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) geführt werden. Die Beschwerde muss den Anforderungen von Art. 42 BGG entsprechen.
Quelle: https://www.zsg-entscheide.apps.be.ch/tribunapublikation/
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