Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung IV |
Dossiernummer: | D-2336/2020 |
Datum: | 25.11.2021 |
Leitsatz/Stichwort: | Asyl (ohne Wegweisungsvollzug) |
Schlagwörter : | Beschwerde; Beschwerdeführerin; Vorinstanz; Behörde; Ehemann; Verfügung; Behörden; Akten; Reflexverfolgung; Person; Verfolgung; Flüchtling; Recht; Verfahren; Eritreische; Eritrea; Bundesverwaltungsgericht; Eritreischen; Ausreise; Furcht; Familie; Wegweisung; Asylgesuch; Flüchtlingseigenschaft; Vorbringen; Schweiz; Begründet; SEM-Akte; Angefochtene; Glaubhaft |
Rechtsnorm: | Art. 26 VwVG ; Art. 44 BV ; Art. 48 VwVG ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar zugewiesen: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
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Abteilung IV D-2336/2020
Besetzung Richterin Chiara Piras (Vorsitz), Richterin Mia Fuchs,
Richter Daniele Cattaneo, Gerichtsschreiberin Kathrin Rohrer.
Parteien A. , geboren am (…), Eritrea,
vertreten durch MLaw Alexis Heymann, Beschwerdeführerin,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl (ohne Wegweisungsvollzug);
Verfügung des SEM vom 2. April 2020 / N (…).
I.
A.
(nachfolgend: die Beschwerdeführerin) – eine eritreische
Staatsangehörige tigrinischer Ethnie – verliess ihr Heimatland eigenen Angaben zufolge (…) 2018 in Richtung Äthiopien. Von dort aus sei sie per Flugzeug in die Türkei weitergereist und anschliessend via Griechenland und Italien am 24. November 2019 in die Schweiz gelangt, wo sie am darauffolgenden Tag ein Asylgesuch einreichte. Sie wurde in der Folge dem Bundesasylzentrum (BAZ) der Region (…) zugewiesen.
5. Dezember 2019 das persönliche Dublin-Gespräch, wobei auch der medizinische Sachverhalt erfragt wurde, und am 22. Januar 2020 die ausführliche Anhörung zu den Asylgründen statt.
Zur Begründung ihres Asylgesuchs brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, sie sei nach Abschluss der 12. Klasse und der militärischen Grundausbildung in B. dem militärischen Nationaldienst in C. zugeteilt worden, wozu sie sich in D. habe einfinden müssen. Von dort sei sie jedoch weggelaufen und habe sich daraufhin zu Hause in E. (Zoba: F. , Subzoba: G. ) versteckt. Nachdem sie nach etwa einem Monat Zuhause von den eritreischen Behörden aufgegriffen worden sei, sei sie (…) Monate lang im Gefängnis
H.
inhaftiert worden. Als sie nach ihrer Haftentlassung im (…)
2015 erneut dem Nationaldienst eingeteilt worden sei, habe sie beschlossen, zu heiraten. Infolgedessen habe sie sich im (…) 2015 mit I. verlobt und habe im (…) 2015 kirchlich geheiratet. Um nicht mehr in den Militärdienst einrücken zu müssen, habe sie die Verwaltungsbehörden schriftlich über ihre Heirat informiert. Nach der Eheschliessung sei sie zur
Familie ihres Ehemannes, welche ebenfalls im Dorf E.
gelebt
habe, gezogen. Sie habe ein Stück Land mit Gemüse bebaut und zudem ihre Eltern sowie Schwiegereltern im (…) unterstützt. Im (…) 2018 sei ihr Ehemann nach seinem Urlaub nicht mehr in den Militärdienst eingerückt, sondern sei mit ihrem Onkel (väterlicherseits) nach J. gegangen, um dort in der Landwirtschaft zu arbeiten. Ungefähr zwei Wochen später habe die Verwaltungsbehörde ihren Ehemann vorgeladen. Zudem sei der Dorfvorsteher insgesamt vier Mal bei ihnen zu Hause vorbeigekommen, wobei er einmal in Begleitung von Soldaten erschienen sei. Sie habe sich
jeweils versteckt, da sie Angst gehabt habe, anstelle ihres Ehemannes festgenommen und inhaftiert zu werden, denn es sei auch nach ihr gefragt worden. Sie habe sich deshalb nur noch tagsüber im Haus aufgehalten und die Nächte bei Verwandten und Freunden verbracht. Im (…) 2018 sei sie nach der Entspannung der Konflikte zwischen Eritrea und Äthiopien mit einem öffentlichen Bus und ohne eine Bewilligung von K. bis nach
gefahren. Anlässlich der Kontrolle beim Grenzübergang bei
habe sie den äthiopischen Soldaten ihre Identitätskarte hinterlegen müssen.
Im Laufe des vorinstanzlichen Verfahrens reichte die Beschwerdeführerin zum Nachweis ihrer Identität und zur Untermauerung ihrer Vorbringen ein Schulzeugnis, eine Einwohnerkarte, eine Taufurkunde sowie drei Fotos als Beweismittel zu den Akten.
Das SEM unterbreitete der Beschwerdeführerin respektive deren Rechtsvertreter den auf den 31. Januar 2020 datierten Entwurf des Asylentscheids zur Stellungnahme, der die Verneinung der Flüchtlingseigenschaft, die Ablehnung des Asylgesuchs, die Wegweisung aus der Schweiz sowie die Anordnung des Wegweisungsvollzugs vorsah.
Am 30. Januar 2020 nahm die Beschwerdeführerin Stellung zum Entscheidentwurf, wobei sie verdeutlichte, dass sie mit dem Inhalt desselben nicht einverstanden sei.
Mit Verfügung vom 31. Januar 2020 stellte die Vorinstanz fest, die Beschwerdeführerin erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, lehnte ihr Asylgesuch ab, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz und ordnete den Vollzug an.
Mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-798/2020 vom 17. Februar 2020 wurde die gegen die erstinstanzliche Verfügung erhobene Beschwerde vom 11. Februar 2020 wegen Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes und des Anspruchs auf rechtliches Gehör gutgeheissen, die angefochtene Verfügung aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
II.
Mit Verfügung vom 28. Februar 2020 wurde das Asylverfahren der Beschwerdeführerin ins erweiterte Verfahren überführt und sie wurde dem Kanton N. zugewiesen.
Mit gleichentags eröffneter Verfügung vom 2. April 2020 stellte die Vorinstanz die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin fest, lehnte ihr Asylgesuch ab, verfügte die Wegweisung aus der Schweiz und nahm die Beschwerdeführerin wegen Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs vorläufig auf.
Gegen diesen Entscheid erhob die Beschwerdeführerin mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 4. Mai 2020 (Datum Poststempel) beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde und beantragte, die Dispositivziffern 2 bis 5 der Verfügung des SEM vom 2. April 2020 seien aufzuheben und ihr sei Asyl zu gewähren. Als Eventualantrag stellte sie das Begehren, die Sache sei zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht ersuchte sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sowie um Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Ferner seien die Verfahrensakten der Vorinstanz beizuziehen.
Der Beschwerde beigelegt waren jeweils Kopien einer Vollmacht vom
16. März 2020 sowie der Verfügung des SEM vom 2. April 2020.
Mit Schreiben vom 5. Mai 2020 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Eingang der Beschwerde. Gleichentags lagen die vorinstanzlichen Akten in elektronischer Form vor.
Die damals zuständige Instruktionsrichterin stellte mit Verfügung vom
11. Mai 2020 fest, die Beschwerdeführerin dürfe den Ausgang des Verfahrens in der Schweiz abwarten, hiess das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gut und verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Gleichzeitig wurde der Vorinstanz Gelegenheit gegeben, sich zur Beschwerde vernehmen zu lassen.
Das SEM nahm in seiner Vernehmlassung vom 25. Mai 2020 zur Beschwerde Stellung.
Mit Zwischenverfügung vom 29. Mai 2020 liess die Instruktionsrichterin der Beschwerdeführerin die Vernehmlassung zustellen und räumte ihr Gelegenheit ein, eine Replik sowie entsprechende Beweismittel einzureichen.
Die Beschwerdeführerin replizierte innert erstreckter Frist mit Eingabe vom
22. Juni 2020.
Das vorliegende Verfahren wurde aus organisatorischen Gründen auf die gemäss Rubrum vorsitzende Richterin umgeteilt.
Gemäss Art. 31 des Bundesgesetzes über das Bundesverwaltungsgericht vom 17. Juni 2005 (VGG; SR 173.32) beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren vom 20. Dezember 1968 (VwVG; SR 172.021). Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig, ausser bei Vorliegen eines Auslieferungsersuchens des Staates, vor welchem die beschwerdeführende Person Schutz sucht (Art. 105 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG; SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 [BGG; SR 173.110]). Eine solche Ausnahme im Sinne von Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG liegt nicht vor, weshalb das Bundesverwaltungsgericht endgültig entscheidet.
Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
Die Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert, weshalb auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde einzutreten ist (Art. 105 AsylG und Art. 108 Abs. 2 AsylG; Art. 48 Abs. 1 VwVG und
Art. 52 Abs. 1 VwVG).
Nachdem das SEM mit der angefochtenen Verfügung die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin festgestellt und sie wegen Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs vorläufig in der Schweiz aufgenommen hat, beschränkt sich der materielle Prüfungsgegenstand im vorliegenden Beschwerdeverfahren auf die Frage, ob das SEM zu Recht das Asylgesuch der Beschwerdeführerin abgelehnt hat (vgl. Dispositivziffer 2 der angefochtenen Verfügung). Formell erhob die Beschwerdeführerin zwar auch die Dispositivziffern 3 bis 5 der angefochtenen Verfügung (Wegweisung und Anordnung der vorläufigen Aufnahme) zum Prozessgegenstand (vgl. Rechtsbegehren 1 der Beschwerde). Indessen handelt es sich bei der Wegweisung um eine (negative) Regelfolge der Ablehnung des Asylgesuchs und bei der vorläufigen Aufnahme um eine (positive) Rechtsfolge der Feststellung der Flüchtlingseigenschaft. Beide Regelbeziehungsweise Rechtsfolgen werden als solche von der Beschwerdeführerin substanziell nicht bestritten und bilden daher materiellrechtlich nicht Prüfungsgegenstand. Bei einer Gutheissung der Beschwerde infolge eines festzustellenden Anspruchs auf Gewährung des Asyls würden die Ziffern 3 bis 6 des Dispositivs der angefochtenen Verfügung ohnehin dahinfallen (vgl. hierzu Urteil des BVGer E-3971/2016 vom 22. November 2018 E. 1.4).
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).
Die Beschwerdeführerin rügte auf Beschwerdeebene zunächst, die Vorinstanz habe das Akteneinsichtsrecht und dadurch ihr rechtliches Gehör verletzt, indem sie ihr – obwohl im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-798/2020 vom 17. Februar 2020 festgehalten worden sei, dass die
Akten ihres Bruders, O. Einsicht in diese gewährt habe.
(N […]), herauszugeben seien – keine
Diese formelle Rüge der Verletzung des Akteneinsichtsrechts respektive des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist vorab zu prüfen, da sie unter Umständen geeignet sein könnte, eine Kassation der vorinstanzlichen Verfügung zu bewirken (vgl. BVGE 2013/34 E. 4.2).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV; SR 101], Art. 29 VwVG) beinhaltet als Mitwirkungsrecht alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (vgl. PATRICK SUTTER, in: AUER/MÜLLER/SCHINDLER [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren [VwVG], 2. Auflage, 2019, Rz. 1 zu Art. 29 VwVG m.w.H.).
Teilgehalt des rechtlichen Gehörs ist der verfahrensrechtliche Anspruch auf Akteneinsicht (Art. 26 VwVG). So können sich die Betroffenen in einem Verfahren nur dann wirksam zur Sache äussern und geeignet Beweis führen beziehungsweise Beweismittel bezeichnen, wenn ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, die Unterlagen einzusehen, auf welche die Behörde ihren Entscheid stützt. Das Recht auf Akteneinsicht kann eingeschränkt werden, wenn ein öffentliches oder privates Interesse überwiegt (Art. 27 VwVG). Wird einer Partei die Einsichtnahme in ein Aktenstück verweigert, muss ihr die Behörde zumindest von seinem wesentlichen Inhalt Kenntnis sowie die Gelegenheit geben, sich dazu zu äussern und Gegenbeweismittel zu bezeichnen (Art. 28 VwVG). Wird das Akteneinsichtsrecht eingeschränkt, ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten. Je stärker das Verfahrensergebnis von der Stellungnahme der Betroffenen zum konkreten Dokument abhängt und je stärker auf ein Dokument bei der Entscheidfindung (zum Nachteil des Betroffenen) abgestellt wird, desto intensiver ist dem Akteneinsichtsrecht Rechnung zu tragen (vgl. BVGE 2011/37 E. 5.4.1; 2013/23 E. 6.4.1 und 6.4.2 je m.w.H.).
Das Akteneinsichtsrecht gemäss Art. 26 ff. VwVG bezieht sich vorab auf die Akten des eigenen Verfahrens. Bei Akten von Verwandten handelt es sich um Akten Dritter, in die grundsätzlich nur mit einer Einwilligungserklärung der betreffenden Person(en) Einsicht gewährt werden kann, wobei die Beibringung einer entsprechenden Einwilligungserklärung – entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin – nicht Sache des SEM ist. Das SEM hat sich bei der Entscheidfindung nicht zulasten der Beschwerdeführerin auf Aussagen ihres Bruders abgestützt. In der Zwischenverfügung
vom 11. Mai 2020 wurde darauf hingewiesen, dass – unter der Voraussetzung einer Einverständniserklärung – ein Akteneinsichtsgesuch bei der Vorinstanz einzureichen sei (vgl. BVGer-Akte 3). Den vorliegenden Akten ist jedoch nicht zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin eine entsprechende Erklärung ihres Bruders zur Einsicht in dessen Akten eingereicht hat. Ohne eine solche Erklärung darf der beschwerdeführenden Person nur insoweit Einsicht in die Akten Dritter gewährt werden, wie es zur Wahrung des rechtlichen Gehörs notwendig ist (vgl. beispielsweise Urteile des BVGer E-5901/2016 vom 31. Juli 2018 E. 3.13 [mit Hinweis auf D-8014/2016 vom 2. Oktober 2017 E. 3.3] und D-4909/2017 vom 19. Dezember 2017 E. 2.2). Damit ist keine diesbezügliche Gehörsverletzung ersichtlich.
Zwar kann sich, wenn die asylsuchende Person ausdrücklich und glaubhaft einen Zusammenhang zwischen den eigenen Vorbringen und der Verfolgung von als Flüchtlingen anerkannten Familienangehörigen geltend macht – oder aus anderen objektiven Gründen – ein Beizug der entsprechenden Dossiers aufdrängen (vgl. statt vieler Urteil des BVGer E 2791/2019 vom 22. Juni 2020 E. 5.2.2 m.w.H.). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Zum einen hat sich die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit einer allfälligen Reflexverfolgung in der Anhörung ausschliesslich auf ihren Ehemann bezogen. Zum anderen ist das SEM in seinem Asylentscheid auf die Asylgründe des Bruders der Beschwerdeführerin eingegangen und hat deutlich festgehalten, dass diesem einzig aufgrund der damaligen Praxis wegen seiner illegalen Ausreise die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde (vgl. dort E. II, Ziff. 3). Ohnehin machte die Beschwerdeführerin an der Anhörung nicht geltend, wegen ihres Bruders – welcher Eritrea bereits im (…) 2013 verlassen habe – konkrete Nachteile erlitten zu haben.
Nach dem Gesagten erweist sich die erhobene Rüge der Verletzung des formellen Rechts als unbegründet. Das (Eventual-) Begehren der Beschwerdeführerin, es sei die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zur rechtsgenüglichen Sachverhaltsabklärung und Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Rechtsbegehren 3), ist demzufolge abzuweisen.
Im angefochtenen Entscheid verneinte das SEM die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin aufgrund der von ihr geltend gemachten
Reflexverfolgung sowie wegen einer bei ihrer Ausreise bestehenden Verfolgung ihrer Person. Aufgrund der geltend gemachten illegalen Ausreise bejahte das SEM, indes gestützt auf Art. 54 AsylG (subjektive Nachfluchtgründe) ihre Flüchtlingseigenschaft und wies das Asylgesuch folglich ab. Im vorliegend zu beurteilenden Fall bleibt umstritten, ob die Vorinstanz zu Recht davon ausging, bei der Beschwerdeführerin seien keine konkreten Anzeichen für eine (Reflex-) Verfolgung bei ihrer Ausreise gegeben, und damit zu Recht ihr Asylgesuch abwies.
Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden (Art. 3 Abs. 1 AsylG). Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken; den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen (Art. 3 Abs. 2 AsylG).
Eine asylsuchende Person erfüllt die Flüchtlingseigenschaft gemäss Art. 3 AsylG, wenn sie Nachteile von bestimmter Intensität erlitten hat beziehungsweise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft begründeterweise befürchten muss (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.2). Eine bloss entfernte Möglichkeit künftiger Verfolgung genügt nicht, vielmehr müssen konkrete Indizien die Furcht vor erwarteten Benachteiligungen realistisch und nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. BVGE 2010/57
E. 2.5). Massgeblich für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist die Situation im Zeitpunkt des Asylentscheids. Die Gewährung des Asyls kann nicht dazu dienen, einen Ausgleich für vergangenes Unrecht zu schaffen, sondern bezweckt, Schutz vor künftiger Verfolgung zu gewähren (vgl. BVGE 2008/4 E. 5.4).
Erstrecken sich Verfolgungsmassnahmen neben der primär betroffenen Person auch auf Familienangehörige und Verwandte, liegt eine Reflexverfolgung vor. Diese ist flüchtlingsrechtlich relevant, wenn die von der Reflexverfolgung betroffene Person ernsthaften Nachteilen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG ausgesetzt ist oder sie die Zufügung solcher Nachteile mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zukunft begründet befürchten muss (zum Begriff der Reflexverfolgung vgl. BVGE 2007/19
E. 3.3 m.w.H.). Die erlittene Verfolgung beziehungsweise die begründete
Furcht vor zukünftiger (Reflex-) Verfolgung muss ferner sachlich und zeitlich kausal für die Ausreise aus dem Heimatoder Herkunftsstaat und grundsätzlich auch im Zeitpunkt des Asylentscheides noch aktuell sein.
Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält (Art. 7 Abs. 1 und 2 AsylG). Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 Abs. 3 AsylG). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Anforderungen an das Glaubhaftmachen der Vorbringen in verschiedenen Entscheiden dargelegt und folgt dabei ständiger Praxis. Darauf kann hier verwiesen werden (vgl. beispielsweise BVGE 2015/3 E. 6.5.1; 2013/11 E. 5.1; 2012/5 E. 2.2; 2010/57 E. 2.2 und 2.3, jeweils m.w.H.).
Zur Begründung ihres Entscheids führte die Vorinstanz aus, die sechsmonatige Inhaftierung der Beschwerdeführerin (…) 2015 sei nicht asylrelevant, weil es sich dabei um eine abgeschlossene Massnahme der eritreischen Behörden infolge ihrer unerlaubten Entfernung vom Sammelplatz für die Einziehung in den Militärdienst gehandelt habe und ein zeitlicher Kausalzusammenhang mit ihrer Ausreise nicht gegeben sei. Des Weiteren sei ihre subjektive Furcht, an Stelle ihres Ehemannes inhaftiert zu werden, angesichts ihrer bereits erlittenen Inhaftierung zwar durchaus nachvollziehbar und es seien auch Fälle in Eritrea bekannt, in denen Familienmitglieder von Deserteuren und Dienstverweigerern einer Reflexverfolgung ausgesetzt gewesen seien. Aus den Akten und den Schilderungen der Beschwerdeführerin ergebe sich jedoch nicht, dass sie gezielt und individuell von den eritreischen Behörden gesucht werde oder eine Reflexverfolgung zu befürchten habe. Es sei durchaus nachvollziehbar, dass die Behörden respektive der Dorfvorsteher nach ihr gefragt hätten, jedoch handle es sich dabei nicht um asylrelevante Nachteile, da sie weder konkret bedroht noch behördlich vorgeladen worden sei. Andere bekannte Massnahmen, wie etwa die Forderung einer Geldbusse, das Entziehen von Nahrungsmittelgutscheinen oder das Entsenden von Soldaten seien auch nicht ergriffen worden. Ferner erscheine es unplausibel, dass der Dorfvorsteher sie nicht entdeckt habe, zumal sie angegeben habe, in einem kleinen Dorf gelebt zu haben. Wäre sie tatsächlich persönlich behördlich gesucht worden, wäre
es für die Behörden einfach gewesen, sie aufzuspüren und sie festzunehmen. Infolgedessen könne davon ausgegangen werden, dass ihr keine gezielte (Reflex-) Verfolgung durch die eritreischen Behörden drohe. Überdies gehe aus Berichten hervor, dass die Grenze zwischen Eritrea und Äthiopien bei M. erst am 11. September 2018 eröffnet worden sei, weshalb davon auszugehen sei, dass sich die Beschwerdeführerin nicht nur bis (…) 2018, sondern bis mindestens (…) 2018 in Eritrea aufgehalten habe. Des Weiteren lebe ihr Ehemann weiterhin in Eritrea und arbeite im landwirtschaftlichen Sektor bei ihrem Onkel, ohne dass gegen ihn als Deserteur während rund eineinhalb Jahren wesentliche Verfolgungsmassnahmen ergriffen worden wären. Abschliessend sei hinzuzufügen, dass weder die eingereichten Beweismittel noch die Aussagen ihres Bruders geeignet seien, die von ihr vorgebrachten Vorfluchtgründe zu belegen.
In ihrer Rechtsmittelschrift rügte die Beschwerdeführerin zunächst, die Frage der Reflexverfolgung sei nicht genügend behandelt worden. Da das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil D-798/2020 vom 17. Februar 2020 diese nicht thematisiert habe und die damalige Beschwerde nicht nur teilweise gutgeheissen habe, sei davon auszugehen, dass die Reflexverfolgung implizit nicht verneint worden sei, weshalb die Frage nach wie vor offen sei. Obwohl gemäss dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) vom 30. September 2018, auf welchen sich die Vorinstanz stütze, seit dem Jahr 2019 die Reflexverfolgungen im eritreischen Kontext zurückgegangen seien, habe die Vorinstanz in ihrer Verfügung die subjektive Furcht vor einer Reflexverfolgung als nachvollziehbar betrachtet. Aus demselben Bericht der SFH gehe auch hervor, dass "die eritreische Armee nach wie vor Kapazitäten habe, um Familienangehörige von Deserteuren und illegal ausgereisten Personen zu verfolgen". Deshalb sei die Argumentation der Vorinstanz, womit sie die Reflexverfolgung abgelehnt habe, ungeeignet. Vielmehr hätte sie nach aktuelleren Berichten im Zusammenhang mit Reflexverfolgungen in Eritrea suchen müssen. Weiter gehe aus einem Bericht des European Asylum Support Office (EASO) zu Eritrea aus dem Jahr 2015 hervor, dass in ländlichen Gebieten Familienangehörige wie die Beschwerdeführerin von der Reflexverfolgung nach wie vor stark betroffen seien. Entgegen der Ausführungen der Vorinstanz sei es sodann nachvollziehbar und plausibel, dass sie vom Dorfvorsteher und den weiteren Behörden, welche nach ihr gesucht hätten, unbemerkt in ihrem Dorf geblieben sei. Da es den eritreischen Behörden bereits nach den ersten Hausbesuchen klar gewesen sei, dass ihr Ehemann trotz Aufforderung nicht freiwillig wieder bei seiner militärischen Einheit erscheinen werde, hätten die Hausbesuche nur den Grund haben können, sie an seiner statt
mitzunehmen. Zwar seien weder gegen die Beschwerdeführerin noch gegen ihre Schwiegereltern anderweitige Massnahmen, wie beispielsweise Geldbussen oder die Einziehung von Nahrungsmittelgutscheinen, ergriffen worden. Im eritreischen Kontext gebe es jedoch keine klar definierten Abläufe von Sanktionen, weshalb die Argumentation der Vorinstanz, ihr werde nicht geglaubt, da keine solchen behördlichen Massnahmen ergriffen worden seien, zurückzuweisen sei. Dass sie in den Augen der eritreischen Militärbehörden als Deserteurin gelte, sei ein weiterer Faktor, weshalb sie von den eritreischen Behörden, welche eigentlich ihren Ehemann suchen würden, festgenommen werden würde. Zudem würden die regelmässigen Behördenbesuche eine Massnahme darstellen, welche einen unerträglichen psychischen Druck im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG darstellen würden. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Vorinstanz aus dem Verhalten des Ehemannes, welcher nach wie vor auf einer Plantage in Eritrea arbeite, schliesse, dass die Beschwerdeführerin nicht reflexverfolgt werde. Es wäre angebracht gewesen, sie erklären zu lassen, weshalb ihr Ehemann noch im Heimatland lebe. Insgesamt erfülle die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen, um in der Schweiz Asyl zu erhalten.
In ihrer Vernehmlassung hielt die Vorinstanz fest, dass sie die Vorbringen der Beschwerdeführerin – entgegen den Behauptungen in der Beschwerdeschrift – nicht als glaubhaft erachte, denn sie habe den Sachverhalt in der Stellungnahme zum Entwurf des Asylentscheids vom 30. Januar 2020, in der Beschwerdeschrift vom 11. Februar 2020 sowie in der Beschwerde vom 4. Mai 2020 wiederholt anders dargestellt, als im Anhörungsprotokoll vom 22. Januar 2020 festgehalten worden sei. Zudem hätten bereits anlässlich der Anhörung unterschiedliche Angaben zum Sachverhalt Widersprüche erzeugt, welche sich nicht logisch auflösen liessen. Insgesamt würden ihre Vorbringen den Anforderungen an die Glaubhaftigkeit gemäss Art. 7 AsylG nicht standhalten. Auf die aufgezeigten Unglaubhaftigkeitselemente sei bisher einzig deshalb nicht eingegangen worden, weil bei offensichtlich fehlender Asylrelevanz des Sachverhalts aus Gründen der Verfahrenseffizienz darauf verzichtet werden könne. Im Übrigen verwies die Vorinstanz auf die Erwägungen in der angefochtenen Verfügung.
In ihrer Replik wendete die Beschwerdeführerin ein, soweit ihr vorgehalten werde, dass sie den Sachverhalt wiederholt anders als anlässlich der Anhörung vom 22. Januar 2020 vorgebracht habe, sei festzuhalten, dass für die Überprüfung einer angeblichen Unglaubhaftigkeit und mithin
für einen Asylentscheid ihre protokollierten Aussagen anlässlich der Anhörung vom 22. Januar 2020 massgebend seien. Angebliche Widersprüche oder Ungenauigkeiten, welche erst in ihrer Stellungnahme beziehungsweise in ihren Beschwerdeschriften entstanden seien, seien für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit irrelevant. Sodann sei das Vorbringen, wonach die Vorinstanz auf die angeblich aufgezeigten Unglaubhaftigkeitselemente erst in der Vernehmlassung eingegangen sei, weil bei offensichtlich fehlender Asylrelevanz des Sachverhalts aus Gründen der Verfahrenseffizienz darauf verzichtet werden könne, nicht zu hören, da das SEM im erweiterten Verfahren keinem zeitlichen Druck unterstehe und die Interessen der Beschwerdeführerin an der sorgfältigen Prüfung ihres Asylgesuchs das Argument der Effizienz bei weitem überwiegen würden. Sie habe im Rahmen der Anhörung in nachvollziehbarer Weise und widerspruchsfrei von ihren Asylgründen berichtet. Hätte die Vorinstanz ernsthaft ihre Glaubwürdigkeit bezweifelt, wäre sie verpflichtet gewesen, eine weitere Anhörung anzusetzen, um sie mit ihren angeblichen Widersprüchen zu konfrontieren. Bisher sei die Vorinstanz davon ausgegangen, die Besuche des Dorfvorstehers würden die asylrechtliche Relevanz nicht erreichen, in der Vernehmlassung hingegen sei erstmalig von der Unglaubhaftigkeit der Vorbingen ausgegangen worden.
Zunächst ist festzustellen, dass die Vorinstanz in Bezug auf die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Inhaftierung im Gefängnis H. (…) 2015 festhielt, dass diese mangels zeitlichem Kausalzusammenhang zur Ausreise der Asylrelevanz entbehre (vgl. dort E. II, Ziff. 1). Dies wurde von der Beschwerdeführerin in ihren Rechtsmitteleingaben nicht bestritten. Da sich aus den Akten auch keine Hinweise ergeben, dass die Vorinstanz zu Unrecht auf die fehlende Kausalität der vorgebrachten Vorverfolgung durch die eritreischen Behörden geschlossen hat, erübrigen sich diesbezüglich weitere Ausführungen.
Da die Beschwerdeführerin keine weiteren in ihrer Person liegenden Verfolgungsgründe geltend machte, ist in einem nächsten Schritt der Frage nachzugehen, ob sie im Zeitpunkt ihrer Ausreise angesichts der vorgetragenen Desertion ihres Ehemannes einer asylbeachtlichen Reflexverfolgung unterlag.
Von einer begründeten Furcht – auch im Sinne einer Reflexverfolgung – ist erst dann auszugehen, wenn konkreter Anlass zur Annahme besteht, die Verfolgung hätte sich – aus der Sicht im Zeitpunkt der Ausreise –
mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit und in absehbarer Zeit verwirklicht beziehungsweise werde sich – auch aus heutiger Sicht – mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zukunft verwirklichen. Eine bloss entfernte Möglichkeit künftiger Verfolgung genügt dabei nicht; es müssen konkrete Indizien vorliegen, welche den Eintritt der erwarteten – und aus einem der vom Gesetz aufgezählten Motive erfolgenden – Benachteiligung als wahrscheinlich und dementsprechend die Furcht davor als realistisch und nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. BVGE 2011/51 E. 6.2). Ob in einem bestimmten Fall eine solche Wahrscheinlichkeit besteht, ist aufgrund einer objektivierten Betrachtungsweise zu beurteilen. Es müssen damit hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Bedrohung vorhanden sein, die bei jedem Menschen in vergleichbarer Lage Furcht vor Verfolgung und damit den Entschluss zur Flucht hervorrufen würden. Dennoch ist für die Bestimmung der begründeten Furcht nicht allein massgebend, was ein hypothetischer Durchschnittsmensch in derselben Situation empfinden würde. Diese rein objektive Betrachtungsweise ist zusätzlich durch das von der betroffenen Person bereits Erlebte und das Wissen um Konsequenzen in vergleichbaren Fällen zu ergänzen. Wer bereits staatlichen Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt war, hat objektive Gründe für eine ausgeprägtere (subjektive) Furcht als jemand, der in der Vergangenheit keine entsprechenden Erfahrungen gemacht hat (vgl. BVGE 2014/27 E. 6.1 und 2010/57 E. 2.5 je m.w.H.). Die subjektive Furcht ist diesfalls bereits dann begründet, wenn sie zwar diejenige eines in der gleichen Situation befindlichen Durchschnittsmenschen übersteigt, aber trotzdem nachvollziehbar bleibt (vgl. EMARK 2004 Nr. 1 E. 6a m.w.H.).
In diesem Zusammenhang ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz bei der geltend gemachten Reflexverfolgung auf eine Glaubhaftigkeitsprüfung verzichtete, da sie von deren fehlenden Asylrelevanz ausging. Entgegen der Auffassung des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin wurde damit die Glaubhaftigkeit der Vorbringen seiner Mandantin nicht stillschweigend bestätigt. Die Frage der Glaubhaftigkeit ihrer Vorbringen wurde offengelassen, weil ihnen für die Vorinstanz keine Asylrelevanz zukam und daher konsequenterweise gar nicht erst von Belang war, ob diese glaubhaft seien oder nicht. Es entspricht einem prozessökonomischen Vorgehen, wenn bei Klarheit über die Asylirrelevanz von Verfolgungsvorbringen auf die Glaubhaftigkeitsprüfung verzichtet wird, da selbst im hypothetischen Fall der Bejahung der Glaubhaftigkeit kein Anspruch auf die Flüchtlingseigenschaft oder das Asyl bestünde (vgl. hierzu Urteile des BVGer E-1643/2020 vom 11. November 2020 E. 6.1; E-847/2020 vom 10. November 2020 E. 6.1; E-6915/2016 und E-6917/2016 beide vom
11. September 2020 E. 7.2.1). Aufgrund der nachfolgenden Beurteilung der Asylrelevanz der Vorbringen (vgl. nachfolgend E. 7.2.3) erübrigt sich eine vertiefte Glaubhaftigkeitsprüfung und damit auch eine Auseinandersetzung mit den auf Beschwerdeebene vorgebrachten Glaubhaftigkeitselementen.
Soweit die Beschwerdeführerin vorbrachte, sie sei aufgrund der Desertion ihres Ehemannes reflexverfolgt worden, ist zunächst festzuhalten, dass sich ihre Schilderungen grundsätzlich ohne Weiteres im eritreischen Länderkontext einordnen lassen. Auch die Vorinstanz räumte in der angefochtenen Verfügung ein, dass es in Eritrea bei Familienangehörigen von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern zu asylrechtlich relevanten Reflexverfolgungen kommen könne (vgl. dort E. II, Ziff. 2). Gemäss öffentlich zugänglichen Quellen haben die eritreischen Behörden im Jahr 2005 begonnen, Familienangehörige von illegal ausgereisten Personen respektive von Deserteuren und Refraktären zu verfolgen und mit Geldstrafen zu belegen. Diejenigen, die ausserstande waren, die auferlegten Geldstrafen zu bezahlen, wurden inhaftiert. Zudem wurden die Geschäftslizenzen von den Angehörigen widerrufen und deren Besitz beschlagnahmt. Insbesondere aus ländlichen Gebieten gab es Berichte, wonach Sicherheitskräfte die Eltern, Ehegatten und Ehegattinnen oder Geschwister von desertierten oder aus dem Land geflüchteten Personen inhaftiert, befragt und gebüsst haben. Auch die UN-Untersuchungskommission berichtete von Fällen, in denen Familienmitglieder von Deserteuren durch willkürliche Inhaftierung und teilweise Folter bestraft wurden. Freigelassen worden seien diese Personen nur, wenn sich die gesuchte Person gestellt habe oder die Familie eine Geldbusse bezahlt habe (vgl. hierzu Urteil des BVGer E-773/2017 vom
10. Februar 2020 E. 5.2.4.1 m.w.H.). Vorliegend fehlt es der geltend gemachten Reflexverfolgung wegen des Verschwindens des Ehemannes jedoch an der asylrelevanten Intensität. So gab die Beschwerdeführerin anlässlich der Anhörung zu Protokoll, nachdem ihr Ehemann nach einem sechswöchigen Urlaub vom Militärdienst im (…) 2018 nicht zu seiner Einheit zurückgekehrt sei, habe die Verwaltungsbehörde ihm zwei Wochen später eine Vorladung geschickt, worin er aufgefordert worden sei, sich bei den Behörden zu melden (vgl. SEM-Akte 1057289-19/17 [nachfolgend: SEM-Akte 19], F52, F57 und F61). Das Schreiben sei in ihrer Abwesenheit bei ihren Schwiegereltern abgegeben worden (vgl. SEM-Akte 19, F94). Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung und weil vorher bereits andere Ehefrauen anstelle ihrer Ehemänner mitgenommen und inhaftiert worden seien, habe sie sich in der Folge vor den Behörden versteckt (vgl. SEM-
Akte 19, F61 f.). Der Dorfvorsteher sei in den nächsten drei Monaten insgesamt vier Mal unangemeldet bei ihnen zu Hause vorbeigekommen, wobei er einmal in Begleitung von Soldaten aufgetaucht sei, weil er entweder ihren Ehemann oder sie habe mitnehmen wollen (vgl. SEM-Akte 19, F97 ff.). Als sie gefragt wurde, weshalb sie wisse, dass sie mitgenommen worden wäre, erklärte sie, in ihrem Dorf seien bereits andere Frauen wegen ihren Ehemännern, welche dem Militärdienst ferngeblieben seien, inhaftiert worden (vgl. SEM-Akte 19, F69). Auch auf die Frage, weshalb sie denke, dass die Behörden sie zu Hause gesucht hätten und nicht wegen ihres Ehemannes vorbeigekommen seien, antwortete sie ausweichend, ihr Ehemann könne sich nur der Behörde stellen, wenn diese sie (die Beschwerdeführerin) inhaftieren würden (vgl. SEM-Akte 19, F87). Insgesamt vermag sie damit keine gezielt gegen sie gerichtete (Reflex-) Verfolgung geltend zu machen, zumal sie selber im (…) 2018 in keinem direkten Kontakt mit den heimatlichen Behörden stand. Hätten die eritreischen Behörden tatsächlich ein Interesse an der Person der Beschwerdeführerin gehabt und sie anstelle ihres Mannes inhaftieren wollen (vgl. SEM-Akte 19, F58 ff., F66 und F85), wäre es ihnen zweifellos ein Leichtes gewesen, sie (die Beschwerdeführerin) ausfindig zu machen. Sie gab nämlich an, sie habe sich, nachdem ihr Ehemann nicht zu seiner Einheit zurückgekehrt sei, bis zu ihrer Ausreise aus Eritrea, tagsüber zu Hause aufgehalten und habe bei ihren Eltern, ihren Freundinnen und anderen Verwandten in E. übernachtet (vgl. SEM-Akte A19, F60 und F64). Weiter ist davon auszugehen, dass wenn die Behördenvertreter sie anstelle ihres Ehemannes festnehmen wollten, sie dies gleich beim ersten Besuch getan und nicht gewartet hätten, bis die Beschwerdeführerin sich absetzt. Die eigentliche Aufmerksamkeit der Behörden galt demnach offensichtlich nicht der Beschwerdeführerin selbst, sondern vielmehr ihrem Ehemann. Hinzu tritt, dass den Angaben der Beschwerdeführerin zufolge weder ihre eigene Familie noch diejenige ihres Mannes von den Soldaten vor und nach ihrer Ausreise behelligt worden war (vgl. SEM-Akte 19, F75 ff.). Dabei erstaunt, dass insbesondere ihre Schwiegermutter, welche (…) sei und deshalb die meiste Zeit Zuhause verbringe (vgl. SEM-Akte 19, F98 ff.), nie anstelle ihres Sohnes mitgenommen wurde. Zudem habe sich auch ihr Ehemann nach ihrer Ausreise noch jahrelang weiterhin in Eritrea aufgehalten (vgl. SEM-Akte 19, F72). Damit zeigte die Desertion ihres Ehemannes
– abgesehen von den geltend gemachten vier Behördenbesuchen – keine weiteren (nachteiligen) Folgen, weshalb die notwendige Intensität der geltend gemachten Reflexverfolgung nicht gegeben ist. Nach dem Gesagten ist nicht davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt ih-
rer Ausreise aus Eritrea im Zusammenhang mit der Desertion ihres Ehemannes asylrelevante Nachteile erlitten hat beziehungsweise solche objektiv begründet zu befürchten hatte. Entgegen den Ausführungen in der Replik kann ihren Vorbringen auch kein unerträglicher psychischer Druck im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG abgeleitet werden, der ihr den weiteren Verbleib in ihrer Heimat verunmöglicht hätte beziehungsweise verunmöglichen würde.
Lehnt das Staatssekretariat das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit der Familie (Art. 44 AsylG). Die Beschwerdeführerin verfügt weder über eine ausländerrechtliche Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Erteilung einer solchen. Die Wegweisung wurde demnach zu Recht angeordnet (Art. 44 AsylG; vgl. BVGE 2013/37 E. 4.4; 2009/50 E. 9, je m.w.H.).
Ausführungen zum Wegweisungsvollzug erübrigen sich angesichts der angeordneten vorläufigen Aufnahme.
Die vom SEM in seiner Verfügung vom 2. April 2020 angeordnete vorläufige Aufnahme tritt mit dem vorliegenden Entscheid formell in Rechtskraft.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt
richtig sowie vollständig feststellt (Art. 106 Abs. 1 AsylG) und – soweit diesbezüglich überprüfbar – angemessen ist. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG; Art. 1–3 des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Nachdem jedoch das mit der Beschwerde gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung mit Verfügung vom 11. Mai 2020 gutgeheissen wurde und weiterhin von der prozessualen Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin auszugehen ist, werden ihr keine Verfahrenskosten auferlegt. Ausgangsgemäss fällt die Ausrichtung einer Parteientschädigung ausser Betracht.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das SEM und die zuständige kantonale Migrationsbehörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Chiara Piras Kathrin Rohrer
Versand:
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