Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung VI |
Dossiernummer: | F-1988/2019 |
Datum: | 19.11.2020 |
Leitsatz/Stichwort: | Erteilung der vorläufigen Aufnahme |
Schlagwörter : | Beschwerde; Vorinstanz; Beschwerdeführerin; Verfügung; Gehör; Bundesverwaltungsgericht; Schweiz; Botschaft; Entscheid; Akten; Anspruch; Recht; Stellungnahme; Migration; Verfahrens; Rechtliches; Schweizer; Parteien; Verletzung; Richter; Migrationsamt; Praxiskommentar; Rechtsmittelverfahren; Erhob; Vorgängig; Vorinstanzliche; Dokument; Verletzt; Beschwerdeführerin; Behörde |
Rechtsnorm: | Art. 27 VwVG ; Art. 30 VwVG ; Art. 48 VwVG ; Art. 50 VwVG ; Art. 62 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 64 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | 142 II 218; ; |
Kommentar zugewiesen: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
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Abteilung VI F-1988/2019
Besetzung Richterin Regula Schenker Senn (Vorsitz), Richter Yannick Antoniazza-Hafner, Richter Gregor Chatton, Gerichtsschreiberin Annina Mondgenast.
Parteien A. ,
Beschwerdeführerin,
gegen
Quellenweg 6, 3003 Bern, Vorinstanz.
Gegenstand Erteilung der vorläufigen Aufnahme.
Die Beschwerdeführerin, eine (…) geborene sri-lankische Staatsangehörige tamilischer Ethnie, reiste nach ihrer Heirat mit einem Schweizer Bürger am 29. September 2014 in die Schweiz ein und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei ihrem Ehemann. Mit Schreiben vom 22. Juli 2016 informierte der Ehegatte das kantonale Migrationsamt über die Trennung von seiner Ehefrau. Gemäss seinen Ausführungen sei der Ehewille bereits im Mai 2015 erloschen. Am 9. Dezember 2016 widerrief das Migrationsamt des Kantons Zürich die Aufenthaltsbewilligung der Beschwerdeführerin, wies sie aus der Schweiz weg und setzte ihr eine Frist zum Verlassen des Landes. Einen dagegen erhobenen Rekurs hiess die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich mit Entscheid vom 15. Mai 2018 teilweise gut und wies das Migrationsamt an, beim SEM die vorläufige Aufnahme der Beschwerdeführerin zu beantragen.
Am 9. Juli 2018 beantragte das Migrationsamt diese beim SEM. Mit Schreiben vom 11. Juli 2018 informierte das SEM die Betroffene über eine beabsichtige Verweigerung der Zustimmung zur Anordnung der vorläufigen Aufnahme, was ihre Wegweisung aus der Schweiz zur Folge hätte, und gewährte ihr dazu das rechtliche Gehör. Sie reichte mit Eingabe vom 25. September 2018 eine Stellungnahme ein. Am 21. November 2018 ersuchte die Vorinstanz die Schweizerische Botschaft in Colombo um Beantwortung konkreter Fragen. Die Botschaftsantwort erfolgte am 8. März 2019.
Mit Verfügung vom 29. März 2019 lehnte die Vorinstanz den kantonalen Antrag auf vorläufige Aufnahme der Beschwerdeführerin ab.
Gegen diesen Entscheid erhob die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom
27. April 2019 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht und beantragte sinngemäss die Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung und die Zustimmung zur Erteilung der vorläufigen Aufnahme. Zur Stützung ihrer Vorbringen legte sie ein Schreiben ihres Vaters vom 25. April 2019, zwei Internetberichte vom 24. beziehungsweise 27. April 2019 zu den Anschlägen in Sri Lanka sowie weitere, sich bereits in den Akten der Vorinstanz befindliche Dokumente ins Recht.
In ihrer Vernehmlassung vom 12. Juni 2019 schloss die Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde. Von dem ihr am 14. Juni 2019 eingeräumten Replikrecht machte die Beschwerdeführerin keinen Gebrauch.
Verfügungen der Vorinstanz betreffend vorläufige Aufnahme sind mit Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht anfechtbar (Art. 31 ff. VGG). Dieses entscheidet in der vorliegenden Materie endgültig (vgl. Art. 83 Bst. c Ziff. 3 BGG).
Das Rechtsmittelverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht richtet sich nach dem VwVG, soweit das VGG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG).
Die Beschwerdeführerin ist als Verfügungsadressatin zur Beschwerde legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde ist einzutreten (Art. 50 und 52 VwVG).
Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht kann die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und – sofern nicht eine kantonale Behörde als Beschwerdeinstanz verfügt hat – die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 49 VwVG). Das Bundesverwaltungsgericht wendet im Beschwerdeverfahren das Bundesrecht von Amtes wegen an. Es ist gemäss Art. 62 Abs. 4 VwVG an die Begründung der Begehren nicht gebunden und kann die Beschwerde auch aus anderen als den geltend gemachten Gründen gutheissen oder abweisen. Massgebend ist grundsätzlich die Sachlage zum Zeitpunkt seines Entscheides (vgl. BVGE 2014/1 E. 2 m.H.).
Mit Schreiben vom 21. November 2018 ersuchte die Vorinstanz die Schweizer Vertretung in Colombo um Abklärung vor Ort und Stellungnahme zu konkreten Fragen. Die Botschaftsantwort erfolgte am 8. März 2019 (vgl. Akten der Vorinstanz [SEM act.] 15/117–118, 16/119–122). Am
29. März 2019 erging die vorinstanzliche Verfügung, ohne dass die Beschwerdeführerin vorgängig über die botschaftlichen Abklärungen unterrichtet worden war. Nachfolgend ist vorab zu prüfen, ob die Vorinstanz mit diesem Vorgehen den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt hat. Auch wenn die Betroffene in ihrer Beschwerdeschrift keine formellen Rügen anführt, ist eine allfällige Verletzung von Amtes wegen zu berücksichtigen.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst unter anderem das Recht, vor Erlass einer Verfügung angehört zu werden (Art. 30 Abs. 1 VwVG). Dabei verlangt das Gesetz nicht, dass die Parteien Gelegenheit erhalten müssen, sich zu jedem möglichen Ergebnis, das von der entscheidenden Behörde ins Auge gefasst wird, zu äussern; die Behörde hat den Parteien weder den Entwurf der Verfügung noch deren Begründung vorgängig zur Stellungnahme zu unterbreiten. Der Anspruch auf vorgängige Anhörung beziehungsweise Äusserung steht den Betroffenen primär in Bezug auf die Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und des Beweisergebnisses zu (vgl. BERNHARD WALDMANN/JÜRG BICKEL, in: Waldmann/Weissenberger [Hrsg.], Praxiskommentar Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2016 [nachfolgend: Praxiskommentar], Art. 30 N. 19 f.).
Eng mit dem Äusserungsrecht ist der Anspruch auf Akteneinsicht gemäss Art. 26 VwVG verbunden. Dieser ist Vorbedingung dafür, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör überhaupt wirksam wahrgenommen werden kann (vgl. STEPHAN C. BRUNNER, in: Auer/Müller/Schindler [Hrsg.], Kommentar zum Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, 2. Aufl. 2019, Art. 26 N. 2). Das Einsichtsrecht erstreckt sich dabei auf sämtliche Akten, die geeignet sind, Grundlage eines späteren Entscheids zu bilden. (BERNHARD WALDMANN/MAGNUS OESCHGER, Praxiskommentar, Art. 26
N. 60). Es kann eingeschränkt werden, wenn ein überwiegendes Interesse an der Geheimhaltung vorhanden ist (vgl. Art. 27 f. VwVG). Dem Recht auf Akteneinsicht muss aber umso mehr Rechnung getragen werden, je stärker das Verfahrensergebnis von der Stellungnahme der Betroffenen zum konkreten Dokument abhängt und je stärker auf ein Dokument bei der Entscheidfindung (zum Nachteil der Betroffenen) abgestellt wird (vgl. BVGE 2011/37 E. 5.4.1).
Die Vorinstanz setzte die Beschwerdeführerin weder über die Anfrage noch über die im Anschluss an den Besuch ihrer Familie in Sri Lanka ergangene Stellungnahme der Schweizer Botschaft in Kenntnis, weshalb für
sie kein Anlass bestand, Einsicht in die vorinstanzlichen Akten zu verlangen. Vor Erlass der Verfügung wurde ihr sodann keine Gelegenheit eingeräumt, sich zur Botschaftsanfrage und -antwort zu äussern. Erst mit Entscheid der Vorinstanz vom 29. März 2019 wurde die Beschwerdeführerin über die Kontaktaufnahme der Schweizer Vertretung mit ihren Eltern sowie ihrem Bruder informiert. Die durch den Besuch gewonnenen Erkenntnisse waren dabei massgeblich für die Nichterteilung der vorläufigen Aufnahme (vgl. SEM act. 17/123–127). Unter Berücksichtigung allfälliger Geheimhaltungsinteressen wäre die Vorinstanz gehalten gewesen, die Beschwerdeführerin über die festgestellten Lebensumstände in ihrem Heimatland in einer Art und Weise zu informieren, dass es ihr möglich gewesen wäre, konkrete Einwände gegen die Schlussfolgerung der Vorinstanz anzubringen. Mit ihrer Vorgehensweise verletzte die Vorinstanz den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör gemäss Art. 26 und Art. 30 Abs. 1 VwVG.
Wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, so führt dies grundsätzlich zur Aufhebung des formell mangelhaften Entscheides. Das Bundesgericht lässt es jedoch zu, solche Verfahrensfehler im Rechtsmittelverfahren zu heilen beziehungsweise das Versäumte nachzuholen. Dies setzt voraus, dass die Verletzung nicht besonders schwerwiegend ist, die unterlassene Verfahrenshandlung im Rechtsmittelverfahren nachgeholt wird und das verweigerte rechtliche Gehör von der betroffenen Person nachträglich vollumfänglich wahrgenommen werden kann. Die Rechtsmittelinstanz muss dabei über dieselbe Kognition verfügen, wie die Vorinstanz. Des Weiteren dürfen der Betroffenen durch die Heilung keine unzumutbaren Nachteile entstehen (vgl. WALDMANN/BICKEL, a.a.O., Art. 29 N. 114 ff.; BGE 142 II 218 E. 2.8 m.H.).
Vorliegend ist bereits aufgrund der grossen Relevanz der Botschaftsabklärung von einer schwerwiegenden Verletzung des rechtlichen Gehörs auszugehen, welche einer Heilung nicht zugänglich ist. Die Vorinstanz stützte sich in ihrer Verfügung wesentlich auf die Stellungnahme der Botschaft, ohne der Beschwerdeführerin vorab Einsicht in Anfrage und Antwort zu gewähren oder sie anderweitig über deren Inhalt zu informieren. Dies führte für die Betroffene zum Verlust einer Instanz. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen. Die Verfügung der Vorinstanz vom 29. März 2019 ist aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Gewährung des
rechtlichen Gehörs und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Vor diesem Hintergrund erübrigt es sich, auf die weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin näher einzugehen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Der bereits geleistete Kostenvorschuss ist der Beschwerdeführerin zurückzuerstatten.
Der anwaltlich nicht vertretenen Beschwerdeführerin ist in Ermangelung ihr entstandener notwendiger und verhältnismässig hoher Kosten keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 64 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Die angefochtene Verfügung wird aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben. Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 800.– wird der Beschwerdeführerin zurückerstattet.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
Dieses Urteil geht an:
– | die Beschwerdeführerin (Einschreiben; Beilage: Formular | Zahl- |
adresse) | ||
– | die Vorinstanz (mit den Akten Ref-Nr.[…]) |
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Regula Schenker Senn Annina Mondgenast
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