Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung V |
Dossiernummer: | E-2195/2020 |
Datum: | 18.11.2020 |
Leitsatz/Stichwort: | Asyl und Wegweisung |
Schlagwörter : | Beschwerde; Beschwerdeführerin; Recht; Wegweisung; Verfahren; Bundesverwaltungsgericht; Eltern; Vorinstanz; Glaubhaft; Verfügung; Vater; Vollzug; Amtlich; Wegweisungsvollzug; Person; Urteil; Verfügt; Amtliche; Vorbringen; Probleme; Praxis; MwH; Vorliegende; Flüchtlingseigenschaft; Rückkehr; Rechtsvertreter; Heimatstaat; Ausländer; Ausgesetzt; Verfahrens |
Rechtsnorm: | Art. 25 BV ; Art. 30 BV ; Art. 49 BV ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 65 VwVG ; Art. 83 AIG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar zugewiesen: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
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Abteilung V E-2195/2020
Besetzung Richterin Constance Leisinger (Vorsitz), Richterin Daniela Brüschweiler, Richterin Christa Luterbacher, Gerichtsschreiberin Natassia Gili.
Parteien A. , geboren am (…), Irak,
vertreten durch den amtlichen Rechtsbeistand lic. iur. Roger Kuhn, Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende
(…),
Beschwerdeführerin,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl und Wegweisung;
Verfügung des SEM vom 24. März 2020 / N (…).
Die Beschwerdeführerin ersuchte gemeinsam mit ihren Eltern und minderjährigen Geschwistern am 22. Oktober 2019 in der Schweiz um Asyl und wurde dem Bundesasylzentrum (BAZ) der Region B. zugewiesen. Am 26. November 2019 wurde sie vertieft zu ihren Asylgründen befragt. Am 20. Dezember 2019 wurde sie dem erweiterten Verfahren zu gewiesen.
Zur Begründung ihres Asylgesuchs machte sie im Wesentlichen geltend, irakische Staatsangehörige kurdischer Ethnie zu sein und aus der Autonomen Region Kurdistan (ARK) zu stammen. Sie habe in Dohuk die Schule
besucht und die 12. Klasse abgeschlossen. Ihr Vater C.
habe
Probleme mit der Asayesh, den Sicherheitsbehörden, mit Mitgliedern des Barzani-Clans sowie dem Erziehungsamt gehabt. Sie selbst habe keinerlei Probleme gehabt. Wegen der Probleme ihres Vaters sei sie zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern am 28. August 2019 aus ihrem Heimatland ausgereist.
Zur Untermauerung ihrer Identität reichte sie eine Kopie ihrer irakischen Identitätskarte zu den Akten.
Im Rahmen der Entscheidfindung wurden die Akten ihrer Eltern und minderjährigen Geschwister (N […]) konsultiert.
Mit Verfügung vom 24. März 2020 – eröffnet am 25. März 2020 – stellte die Vorinstanz fest, dass die Beschwerdeführerin die Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle, lehnte ihr Asylgesuch ab und verfügte die Wegweisung sowie den Wegweisungsvollzug.
Mit Eingabe vom 24. April 2020 erhob die Beschwerdeführerin, handelnd durch den rubrizierten Rechtsvertreter, Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht und beantragte die Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung und die Gewährung von Asyl unter Anerkennung ihrer Flüchtlingseigenschaft. Eventualiter sei infolge Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs die vorläufige Aufnahme anzuordnen.
In formeller Hinsicht beantragte sie, dass das vorliegende Verfahren mit demjenigen ihrer Eltern zu vereinen sei. Zudem sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren, auf die Erhebung eines Kostenvorschusses sei
zu verzichten und es sei ihr in der Person des rubrizierten Rechtsvertreters ein amtlicher Rechtsbeistand beizuordnen. Unter Hinweis auf Art. 30 Abs. 1 BV sei ihr die Zusammensetzung des Spruchkörpers bekanntzugeben.
Am 28. April 2020 (Datum Poststempel) wurde eine Fürsorgebestätigung des Departements Gesundheit und Soziales des Kantons D. vom
27. April 2020 nachgereicht.
Mit Zwischenverfügung vom 8. Mai 2020 wurde das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege unter Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses sowie um Beiordnung des mandatierten Rechtsvertreters als amtlicher Rechtsbeistand gutgeheissen. Der rubrizierte Rechtsvertreter wurde amtlich beigeordnet. Es wurde mitgeteilt, dass das Verfahren mit demjenigen der Eltern (E-2194/2020) koordiniert behandelt werde. Zudem wurde die Vorinstanz zur Einreichung einer Vernehmlassung eingeladen.
Mit Vernehmlassung vom 4. Juni 2020 hielt die Vorinstanz mit ergänzenden Ausführungen an ihren Erwägungen fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
Mit Zwischenverfügung vom 15. Juni 2020 wurde die Beschwerdeführerin zur Einreichung einer Replik eingeladen, welche diese am 26. Juni 2020 einreichte.
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls endgültig, ausser bei Vorliegen eines Auslie-
ferungsersuchens des Staates, vor welchem die beschwerdeführende Person Schutz sucht (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Eine solche Ausnahme im Sinne von Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG liegt nicht vor, weshalb das Bundesverwaltungsgericht endgültig entscheidet.
Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).
Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden. Die Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und Art. 108 Abs. 2 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).
Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden (Art. 3 Abs. 1 AsylG). Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken; den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen (Art. 3 Abs. 2 AsylG).
Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen
Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG).
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Anforderungen an das Glaubhaftmachen der Vorbringen in verschiedenen Entscheiden dargelegt und folgt dabei ständiger Praxis. Darauf kann verwiesen werden (vgl. BVGE 2015/3 E. 6.5.1 m.w.H.).
Zur Begründung des ablehnenden Asylentscheids führte die Vorinstanz aus, dass die Beschwerdeführerin lediglich geltend gemacht habe, wegen der Probleme ihres Vaters ausgereist zu sein. Das Asylgesuch ihrer Eltern sei mangels Glaubhaftigkeit der Vorbringen mit Verfügung vom 24. März 2020 abgelehnt worden. In Ermangelung einer Verfolgungssituation ihres Vaters bestehe kein Anlass zur Annahme, dass sie bei der Rückkehr in die ARK einer Reflexverfolgung ausgesetzt wäre. Ohnehin würden ihre Vorbringen auch für sich selbst betrachtet keinen Rückschluss auf eine Reflexverfolgung zulassen. Es seien nämlich keine objektiven Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass sie bei einer Rückkehr in die ARK befürchten müsste, wegen ihres Vaters seitens der Behörden oder des Barzani-Clans Übergriffen ausgesetzt zu sein, zumal sie explizit zu Protokoll gegeben habe, vor der Ausreise keine Probleme gehabt zu haben. Es könne somit nicht davon ausgegangen werden, dass sie in den Fokus des BarzaniClans oder der Behörden geraten wäre.
Mit Verweis auf die im Verfahren ihrer Familie eingereichte Beschwerde (E-2194/2020) wird in der die Beschwerdeführerin betreffenden Beschwerde ausgeführt, dass der Ausgang des vorliegenden Verfahrens massgeblich von demjenigen ihrer Familie beziehungsweise der Glaubhaftigkeit der Vorbringen ihrer Eltern abhängig sei. Zum einen seien Verfahrensrechte sowohl der Mutter als auch des Vaters der Beschwerdeführerin verletzt worden. Zum anderen seien die Asylgründe insgesamt glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt worden. Die Beschwerdeführerin habe aufgrund der genannten Gründe mit ihrer Familie flüchten müssen. Sie könne nicht alleine zurück in ihre Heimat, da ihr dort aufgrund der Ereignisse mit ihrem Vater die sofortige Verhaftung oder noch Schlimmeres drohen würde. Ausserdem würde sie als Druckmittel benutzt werden, um ihren Vater zur Rückkehr zu zwingen.
Für die Ausführungen im Rahmen der Vernehmlassung und der Replik, in welchen ausschliesslich auf das Asylvorbringen der Eltern und die Beurteilung der Glaubhaftigkeit Bezug genommen wird, ist auf das Verfahren E- 2194/2020 zu verweisen.
Eine Prüfung der Akten ergibt, dass die vorinstanzliche Verfügung zu bestätigen ist.
Im Verfahren der Eltern und minderjährigen Geschwister der Beschwerdeführerin (E-2194/2020) kommt das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom gleichen Tag zum Schluss, die Vorbringen seien nicht glaubhaft gemacht worden und eine flüchtlingsrechtlich relevante Gefährdung sei zu verneinen. Da die Beschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe geltend macht, kann vollumfänglich auf die Erwägungen im genannten Entscheid verwiesen werden (a.a.O. E. 6 ff.).
Zusammenfassend ist es der Beschwerdeführerin nicht gelungen, ihre Flüchtlingseigenschaft nachzuweisen oder zumindest glaubhaft zu machen. Die Vorinstanz hat ihr Asylgesuch zu Recht abgelehnt.
Lehnt das SEM das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit der Familie (Art. 44 AsylG).
Die Beschwerdeführerin verfügt weder über eine ausländerrechtliche Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Erteilung einer solchen (Art. 32 AsylV1). Die Wegweisung wurde demnach ebenfalls zu Recht angeordnet (vgl. BVGE 2013/37 E. 4.4; 2009/50 E. 9, je m.w.H.).
Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich, so regelt das SEM das Anwesenheitsverhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme (Art. 44 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AIG).
Beim Geltendmachen von Wegweisungsvollzugshindernissen gilt gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts der gleiche Beweisstandard wie bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft; das heisst, sie sind zu beweisen,
wenn der strikte Beweis möglich ist, und andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (vgl. BVGE 2011/24 E. 10.2 m.w.H.).
Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunftsoder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83 Abs. 3 AIG).
So darf keine Person in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land gezwungen werden, in dem ihr Leib, ihr Leben oder ihre Freiheit aus einem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet ist oder in dem sie Gefahr läuft, zur Ausreise in ein solches Land gezwungen zu werden (Art. 5 Abs. 1 AsylG; vgl. ebenso Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge [FK, SR 0.142.30]).
Gemäss Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (FoK, SR 0.105) und der Praxis zu Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Die Vorinstanz wies in ihrer angefochtenen Verfügung zutreffend darauf hin, dass das Prinzip des flüchtlingsrechtlichen Non-Refoulement nur Personen schützt, die die Flüchtlingseigenschaft erfüllen. Da es der Beschwerdeführerin nicht gelungen ist, eine asylrechtlich erhebliche Gefährdung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen, kann der in Art. 5 AsylG verankerte Grundsatz der Nichtrückschiebung im vorliegenden Verfahren keine Anwendung finden. Eine Rückkehr der Beschwerdeführerin in den Heimatstaat ist demnach unter dem Aspekt von Art. 5 AsylG rechtmässig.
Sodann ergeben sich weder aus den Aussagen der Beschwerdeführerin noch aus den Akten Anhaltspunkte dafür, dass sie für den Fall einer Ausschaffung in den Heimatstaat dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer nach Art. 3 EMRK oder Art. 1 FoK verbotenen Strafe oder Behandlung ausgesetzt wäre. Gemäss Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sowie jener des UN-Anti-Folterausschusses
«real risk») nachweisen oder glaubhaft machen, dass ihr im Fall einer Rückschiebung Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde (vgl. Urteil des EGMR Saadi gegen Italien 28. Februar 2008, Grosse Kammer 37201/06, §§ 124–127 m.w.H.). Nachdem es der Beschwerdeführerin nicht gelungen ist, eine Verfolgung nachzuweisen oder glaubhaft zu machen, ist
diese Voraussetzung nicht erfüllt. Ferner lässt die allgemeine Menschenrechtssituation im Gebiet des «Kurdistan Regional Government (KRG)» den Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt nicht als unzulässig erscheinen (vgl. den als Referenzurteil publizierten Entscheid des BVGer E- 3737/2015 vom 14. Dezember 2015 E. 6.3, mit Hinweis auf E-847/2014 vom 13. April 2015; vgl. E-6504/2018 vom 11. Dezember 2018 E. 7.2.2). Nach dem Gesagten ist der Vollzug der Wegweisung sowohl im Sinne der asylals auch der völkerrechtlichen Bestimmungen zulässig.
Gemäss Art. 83 Abs. 4 AIG kann der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimatoder Herkunftsstaat aufgrund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AIG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren.
In seinem Referenzurteil E-3737/2015 vom 14. Dezember 2015 (E. 7.4) bestätigte das Bundesverwaltungsgericht seine in BVGE 2008/5 publizierte Praxis zur Frage der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs in die kurdischen Provinzen im Nordirak. Es hielt dabei Folgendes fest: In den vier Provinzen des KRG – das betreffende Gebiet wird seit Anfang 2015 durch die Provinzen Dohuk, Erbil, Suleimaniya sowie der von Letzterer abgespalteten Provinz Halabja gebildet – sei nicht von einer Situation allgemeiner Gewalt im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AIG auszugehen, und es lägen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass sich dies in absehbarer Zeit massgeblich ändern würde. Diese Einschätzung hat nach wie vor Gültigkeit. Die langjährige Praxis im Sinne von BVGE 2008/5 für aus dem KRGGebiet stammende Kurdinnen und Kurden bleibt somit weiterhin anwendbar. Besonderes Gewicht ist angesichts der Belastung der behördlichen Infrastrukturen durch im Irak intern Vertriebene («Internally Displaced Persons» [IDPs]) dem Vorliegen begünstigender individueller Faktoren beizumessen (vgl. u.a. Urteile des BVGer D-2775/2020 vom 8. Juli 2020 E. 8.3.2; D-787/2020 vom 17. April 2020 E. 7.3; D-7151/2018 vom 25. Feb-
ruar 2020 E. 7.4.4, m.w.H.; E-2855/2018 vom 14. Januar 2019 E. 5.6.1;
D-1779/2016 vom 6. Dezember 2018 E. 7.3.2; BVGE 2008/5 E. 7.5). Die
Anordnung des Wegweisungsvollzugs setzt insbesondere voraus, dass die betreffende Person ursprünglich aus der Region stammt oder längere Zeit dort gelebt hat und dort über ein soziales Beziehungsnetz (Familie, Verwandtschaft oder Bekanntenkreis) oder über Beziehungen zu den herrschenden Parteien verfügt. Andernfalls dürfte eine soziale und wirtschaftliche Integration in die kurdische Gesellschaft nicht gelingen, da der Erhalt
einer Arbeitsstelle oder von Wohnraum weitgehend von gesellschaftlichen und politischen Beziehungen abhängt (vgl. BVGE 2008/5 E. 7.5; ausführlich zudem Urteil des BVGer E-6430/2016 vom 31. Januar 2018 E. 6.4.1 ff., m.w.H.).
Die Beschwerdeführerin lebte bis zu ihrer Ausreise Ende August 2019 in Dohuk. Gemäss eigenen Aussagen verfügt sie sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits über Verwandte in Dohuk beziehungsweise der Autonomen Region Kurdistan. Demnach kann davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführerin dort über ein tragfähiges Beziehungsnetz verfügt, auf dessen Unterstützung sie zählen kann, zumal sie mit ihren Eltern und Geschwistern in ihren Heimatstaat zurückkehrt. Die Beschwerdeführerin verfügt sodann über eine gute Schulbildung, hat die
12. Klasse abgeschlossen. Es liegen überdies keine Anhaltspunkte für relevante gesundheitliche Probleme vor.
Insgesamt sind keine Aspekte ersichtlich, die darauf schliessen lassen würden, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr aus persönlichen Gründen wirtschaftlicher, sozialer oder gesundheitlicher Art in eine existenzielle Notlage geraten würden.
Nach dem Gesagten erweist sich der Vollzug der Wegweisung als zumutbar.
Schliesslich obliegt es der Beschwerdeführerin, sich bei der zuständigen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr notwendigen Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG und dazu auch BVGE 2008/34 E. 12), weshalb der Vollzug der Wegweisung auch als möglich zu bezeichnen ist (Art. 83 Abs. 2 AIG).
Die aktuellen Massnahmen im Zusammenhang mit der weltweiten Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit (Covid-19) sind aufgrund ihrer vorübergehenden Natur nicht geeignet, die obigen Schlussfolgerungen in Frage zu stellen. Würden diese im vorliegenden Fall den Vollzug der Wegweisung vorübergehend verzögern, so würde dieser zwangsläufig zu einem späteren, angemessenen Zeitpunkt erfolgen (vgl. statt vieler: Urteil der BVGer E-895/2020 vom 15. April 2020 E. 9.6).
Zusammenfassend hat die Vorinstanz den Wegweisungsvollzug zu Recht als zulässig, zumutbar und möglich bezeichnet. Eine Anordnung der vorläufigen Aufnahme fällt somit ausser Betracht (Art. 83 Abs. 1–4 AIG)
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig sowie vollständig feststellt (Art. 106 Abs. 1 AsylG) und – soweit diesbezüglich überprüfbar – angemessen ist. Die Beschwerde ist abzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG). Mit Zwischenverfügung vom 8. Mai 2020 wurde jedoch das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung gemäss Art. 65 Abs. 1 VwVG gutgeheissen, weshalb keine Verfahrenskosten zu erheben sind.
Ebenfalls mit Zwischenverfügung vom 8. Mai 2020 wurde das Gesuch um amtliche Verbeiständung gutgeheissen und der rubrizierte Rechtsvertreter lic. iur. Roger Kuhn als amtlicher Rechtsbeistand eingesetzt. Eine Kostennote wurde nicht eingereicht. Auf die Nachforderung einer solchen kann indessen verzichtet werden, weil der Vertretungsaufwand zuverlässig abgeschätzt werden kann (Art. 14 Abs. 2 in fine des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). In Anwendung der genannten Bestimmung und unter Berücksichtigung der massgeblichen Bemessungsfaktoren (Art. 8 ff. VGKE) ist dem Rechtsvertreter – unter Berücksichtigung des im Verfahren E-2194/2020 ausgerichteten Honorars – ein Honorar im Umfang von Fr. 200.– (inkl. Auslagen) zu entrichten.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.
Dem amtlichen Rechtsbeistand wird ein amtliches Honorar zulasten der Gerichtskasse in der Höhe von Fr. 200.– zugesprochen.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Constance Leisinger Natassia Gili
Versand:
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