E-MailWeiterleiten
LinkedInLinkedIn

Bundesverwaltungsgericht Urteil D-7483/2018

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-7483/2018
Datum:14.12.2020
Leitsatz/Stichwort:Asyl und Wegweisung
Schlagwörter : Revision; Beilage; Verfahren; Verfahrens; Recht; Beschwerde; Urteil; Bundesverwaltungsgericht; Verfahren; Verfahrensakten; Türkische; Sachverhalt; Türkei; Türkischen; Partei; Revisionsverbesserung; Eingabe; Gesuch; Revisionsgesuch; Tatsache; Erheblich; Urteils; Reichte; Verfügung; Rechtsanwältin; Entscheid; Revisionsverbesserungsbeilage; Vollmacht; Beschwerdeverfahren; Dispositiv
Rechtsnorm: Art. 12 BGG ; Art. 12112 BGG ; Art. 123 BGG ; Art. 124 BGG ; Art. 128 BGG ; Art. 48 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 65 VwVG ; Art. 67 VwVG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV

D-4886/2020/D-7483/2018

law/gnb

U r t e i l v o m 14 . D e z e m b e r 2 0 2 0

Besetzung Richter Walter Lang (Vorsitz),

Richter Daniele Cattaneo, Richterin Daniela Brüschweiler, Gerichtsschreiberin Barbara Gysel Nüesch.

Parteien A. , geboren am (…), Türkei,

vertreten durch MLaw Saban Murat Özten, Gesuchstellerin,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Revision; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts D-6401/2018 vom 22. Juni 2020.

Asyl und Wegweisung; Verfügung des SEM vom 26. September 2018 / N (…).

Sachverhalt:

A.

Die Gesuchstellerin reichte am 19. Januar 2016 in der Schweiz ein Asylgesuch ein.

B.

Mit Verfügung vom 26. September 2018 verneinte die Vorinstanz die Flüchtlingseigenschaft der Gesuchstellerin, lehnte ihr Asylgesuch ab und ordnete die Wegweisung aus der Schweiz sowie den Wegweisungsvollzug an.

C.

Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde vom 9. November 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil D-6401/2018 vom 22. Juni 2020 ab (Dispositivziffer 1). Verfahrenskosten wurden keine auferlegt (Dispositivziffer 2) und der eingesetzten amtlichen Rechtsbeiständin wurde zulasten der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2718.– zugesprochen (Dispositivziffer 3).

D.

Die Gesuchstellerin reichte am 25. September 2020 beim SEM eine mit "Mehrfachgesuch nach Art. 111c AsylG" betitelte Eingabe ein. Dabei machte sie geltend, sie habe nach dem ablehnenden Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts ihren Anwalt damit beauftragt, ihre rechtliche Situation in der Türkei abzuklären. Vor kurzem sei sie von ihm darüber informiert worden, dass in der Türkei ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet worden sei wegen des Vorwurfs, "Propaganda für eine terroristische Organisation" zu machen. Sie werde von der türkischen Polizei gesucht.

Der Eingabe lagen – unter anderem – Fotos von drei Dokumenten aus den türkischen Verfahrensakten (mit deutscher Übersetzung, vgl. nachfolgend Bst. I.b, Beilagen 5, 9 und 10) sowie ein undatiertes Schreiben des Bündnisses der kurdischen Frauen in der Schweiz bei.

E.

Das SEM stellte sich in seinem Schreiben vom 2. Oktober 2020 auf den Standpunkt, es werde die ursprüngliche Fehlerhaftigkeit des Urteils vom

22. Juni 2020 geltend gemacht und das Begehren ziele auf die Neubeurteilung eines Sachverhalts ab, welcher bislang zwar nicht geltend gemacht worden sei, zum Urteilszeitpunkt jedoch schon bestanden habe. Da das SEM für die Beurteilung von Revisionsgründen funktionell nicht zuständig

sei, werde die Eingabe der Gesuchstellerin gestützt auf Art. 8 Abs. 1 VwVG an das Bundesverwaltungsgericht übermittelt.

F.

Mit Eingabe vom 8. Oktober 2020 liess die Gesuchstellerin dem Bundesverwaltungsgericht – unter anderem – die gesamten türkischen Verfahrensakten inklusive Zustellcouvert in Kopie zukommen (vgl. nachfolgend Bst. I.b, Beilagen 5 bis 17 und 22). Es wurde ausgeführt, die Gesuchstellerin sei trotz ihrer schlechten finanziellen Lage bereit, auch die noch nicht übersetzten Dokumente oder wichtige Teil davon ins Deutsche übersetzen zu lassen.

G.

Der Instruktionsrichter setzte mit superprovisorischer Massnahme vom

13. Oktober 2020 den Vollzug der Wegweisung per sofort einstweilen aus.

H.

Die Gesuchstellerin wurde mit Zwischenverfügung vom 22. Oktober 2020 aufgefordert, bis am 6. November 2020 eine Revisionsverbesserung einzureichen, ansonsten auf die Eingabe vom 25. September 2020 nicht eingetreten werde. Des Weiteren habe sie innert der gleichen Frist die gesamten türkischen Verfahrensakten im Original einzureichen und diese in eine Amtssprache übersetzen zu lassen. Gleichzeitig wurde verfügt, dass der verfügte Vollzugsstopp bis zum Ergehen anderslautender Anweisungen seitens des Bundesverwaltungsgerichts aufrechterhalten bleibe.

I.

    1. Mit der Revisionsverbesserung vom 4. November 2020 liess die Gesuchstellerin durch die rubrizierte Rechtsvertretung folgende Rechtsbegehren stellen:

      1. Das Urteil D-6401/2018 vom 22. Juni 2020 sei aufzuheben und es sei auf das Revisionsgesuch einzutreten.

      2. Der neue rechtserhebliche Sachverhalt sei festzustellen, die bereits entschiedene Streitsache sei neu zu beurteilen und ein neues Urteil sei zu fällen.

      3. Es sei der Gesuchstellerin zu erlauben, den Ausgang des Gesuchsverfahrens in der Schweiz abzuwarten.

      4. Die Gesuchstellerin sei als Flüchtling anzuerkennen und es sei ihr Asyl zu gewähren.

      5. Eventualiter: Es sei festzustellen, dass die Gesuchstellerin die Flüchtlingseigenschaft erfüllt, und es sei die vorläufige Aufnahme als Flüchtling anzuordnen.

      6. Subeventualiter: Es sei festzustellen, dass der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig beziehungsweise nicht zumutbar ist. Die Vorinstanz sei anzuweisen, die vorläufige Aufnahme der Gesuchstellerin zu verfügen.

      7. Subeventualiter: Die Beschwerdesache sei an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen.

      8. Der Gesuchstellerin sei das Recht zur unentgeltlichen Rechtspflege zu erteilen.

    2. Der Eingabe lagen folgende Beweismittel bei:

  • Urteil des BVGer D-6401/2018 vom 22. Juni 2020 Beilage 1

  • Vollmacht vom 2. November 2020 Beilage 2

  • Ausländerausweis der Gesuchstellerin Beilage 3

  • Zustellnachweis betreffend Sendung aus der Türkei Beilage 4

  • Türkische Verfahrensakten in Kopie und mit deutscher Übersetzung:

    • Beschluss über Zusammenlegung vom (…) 2020 Beilage 5

    • Schreiben des Polizeipräsidiums B. an das Ermittlungsbüro für Terrorverbrechen B.

      vom (…) 2019 Beilage 6

    • Ermittlungsprotokoll vom (…) 2019 Beilage 7

    • Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft B. an das Richteramt des diensthabenden (…)

      vom (…) 2019 Beilage 8

    • Beschluss der (…) B.

      vom (…) 2019 Beilage 9

    • Haftbefehl vom (…) 2019 Beilage 10

    • Personenkarte Beilage 11

    • Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft B.

      vom (…) 2019 Beilage 12

    • Schreiben des Polizeipräsidiums B. an die Oberstaatsanwaltschaft B._ vom (…) 2019

      (deutsche Übersetzung Seiten 1 und 28) Beilage 13

    • Ermittlungsprotokoll vom (…) 2019 Beilage 14

    • Sitzungsprotokoll der Polizei und Oberstaatsanwaltschaft

      vom (…) 2019 Beilage 15

    • Ermittlungsbericht vom (…) 2019 Beilage 16

    • Inhaltsanalyse (…) Beilage 17

  • Mehrfachgesuch vom 25. September 2020 Beilage 18

  • Schreiben des SEM vom 2. Oktober 2020 Beilage 19

  • Zwischenverfügung des BVGer D-4886/2020 vom 22. Oktober 2020 Beilage 20

  • Türkische Verfahrensakten in beglaubigter Kopie Beilage 21

  • Zustellcouvert betreffend Sendung aus der Türkei (Verfahrensakten) Beilage 22

  • Verfügung des SEM vom 26. September 2018 Beilage 23

  • Beschwerde vom 9. November 2018 im Verfahren D-6401/2018 Beilage 24

  • Vollmacht für Rechtsanwalt C._ vom 24. August 2020 Beilage 25

  • Gesuch um Ansetzung einer neuen Ausreisefrist vom 23. Juli 2020 Beilage 26

  • Schreiben des SEM vom 5. August 2020 Beilage 27

  • Gesuch um Aufhebung der Ausreisefrist vom 7. September 2020 Beilage 28

  • Schreiben des SEM vom 14. September 2020 Beilage 29

  • Eingabe an das BVGer vom 8. Oktober 2020 Beilage 30

  • Vorladung zum Ausreisegespräch vom 9. Oktober 2020 Beilage 31

  • Superprovisorische Massnahme vom 13. Oktober 2020 Beilage 32

  • Schreiben von Rechtsanwältin D._ vom 2. November 2020

    (mit deutscher Übersetzung) Beilage 33

  • Vollmacht für Rechtsanwältin D._ vom (…) 2019 Beilage 34

  • Amnesty International: Amnesty Report, Türkei 2017/18,

    vom 22. Februar 2018 Beilage 35

  • Amnesty International: Amnesty Report, Türkei 2019,

    vom 16. April 2020 Beilage 36

  • Der Standard, Anti-Folter-Gremium appelliert an türkischen

Präsidenten Erdogan, vom 5. August 2020 Beilage 37

J.

Die Gesuchstellerin liess mit Schreiben vom 16. November 2020 eine Fürsorgebestätigung vom 2. November 2020 nachreichen.

K.

Mit Eingabe vom 2. Dezember 2020 reichte der Rechtsvertreter die Originale der deutschen Übersetzungen der Revisionsverbesserungsbeilagen 5 bis 17 (vgl. Bst. I.b) inkl. Zustellcouvert nach.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

I.

1.

    1. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet gemäss Art. 105 AsylG auf dem Gebiet des Asyls in der Regel endgültig über Beschwerden gegen Verfügungen des SEM (vgl. zur Ausnahme: Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG). Es ist ausserdem zuständig für die Revision von Urteilen, die es in seiner Funktion als Beschwerdeinstanz gefällt hat (vgl. BVGE 2007/21 E. 2.1).

    2. Gemäss Art. 45 VGG gelten für die Revision von Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts die Art. 121128 des BGG sinngemäss. Nach Art. 47 VGG findet auf Inhalt, Form und Ergänzung des Revisionsgesuches Art. 67 Abs. 3 VwVG Anwendung.

    3. Das Revisionsgesuch ist ein ausserordentliches Rechtsmittel, das sich gegen einen rechtskräftigen Beschwerdeentscheid richtet. Wird das Gesuch gutgeheissen, beseitigt dies die Rechtkraft des angefochtenen Urteils, und die bereits entschiedene Streitsache ist neu zu beurteilen (vgl. MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 2. Aufl. 2013, S. 303 Rz. 5.36).

    4. Das Bundesverwaltungsgericht zieht auf Gesuch hin seine Urteile aus den in Art. 121123 BGG aufgeführten Gründen in Revision (Art. 45 VGG). Nicht als Revisionsgründe gelten Gründe, welche die Partei, die um Revision nachsucht, bereits im ordentlichen Beschwerdeverfahren hätte geltend machen können (sinngemäss Art. 46 VGG).

2.

Vorliegend erging mit dem Urteil D-6401/2018 vom 22. Juni 2020 ein materieller Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Die von der Gesuchstellerin mit Eingabe an das SEM vom 25. September 2020 teilweise und mit Eingaben an das Bundesverwaltungsgericht vom 8. Oktober 2020 und

4. November 2020 vollständig eingereichten türkischen Verfahrensakten (vgl. Bst. I.b) datieren mit einer Ausnahme (vgl. Revisionsverbesserungsbeilage 5) vor dem genannten Urteil. Das SEM hat demnach zu Recht die Eingabe vom 25. September 2020 an das Gericht zur revisionsrechtlichen Prüfung überwiesen.

3.

    1. Die Begründung eines Gesuchs um Revision eines Beschwerdeentscheides des Bundesverwaltungsgerichts hat insbesondere den angerufenen Revisionsgrund und die Rechtzeitigkeit des Revisionsbegehrens im Sinne von Art. 124 BGG darzutun (Art. 67 Abs. 3 VwVG).

    2. Zur Begründung des Revisionsgesuches wird der Revisionsgrund des nachträglichen Erfahrens erheblicher Tatsachen und des nachträglichen Auffindens entscheidender Beweismittel (Art. 123 Abs. 2 Bst. a BGG) geltend gemacht. Gemäss Art. 124 Abs. 1 Bst. d BGG ist ein Revisionsgesuch innert 90 Tagen nach deren Entdeckung, frühestens jedoch nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung des Entscheides, einzureichen. Diesbezüglich wird in der Revisionsverbesserung ausgeführt, die Gesuchstellerin habe Mitte August 2020 Rechtsanwalt C. telefonisch beauftragt, ihre aktuelle rechtliche Situation in der Türkei abzuklären. Am 18. August 2020 sei sie von ihm darüber informiert worden, dass in der Türkei ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet worden sei und sie von der türkischen

      Polizei gesucht werde. Am 8. September 2020 habe sie von Rechtsanwalt

      C.

      Fotos von drei Dokumenten aus den Verfahrensakten per

      WhatsApp erhalten. Schliesslich seien am 6. Oktober 2020 die gesamten Verfahrensakten per Post in der Schweiz angekommen. Angesichts der

      eingereichten Vollmacht für Rechtsanwalt C.

      vom 24. August

      2020 (mit amtlich beglaubigter Unterschrift der Gesuchstellerin vom gleichen Datum), gemäss welcher Rechtsanwalt C. ermächtigt wird, Einsicht in die türkischen Verfahrensakten zu nehmen, des Zustellnachweises und des Zustellcouverts erscheint der dargelegte zeitliche Ablauf glaubhaft (vgl. Revisionsverbesserungsbeilagen 4, 22 und 25). Die Eingabe an das SEM vom 25. September 2019 erfolgte demnach innert der gesetzlichen Frist von Art. 124 Abs. 1 Bst. d BGG. Die Frage, ob die "neuen Tatsachen" bei zumutbarer prozessualer Sorgfalt nicht bereits im ordentlichen Verfahren hätten geltend gemacht werden können, ist praxisgemäss im Rahmen der nachfolgenden materiellen Prüfung des Gesuchs zu beurteilen.

    3. Die Revisionsverbesserung enthält die Begehren für den Fall eines neuen Beschwerdeentscheids (vgl. Art. 47 VGG i.V.m. Art. 67 Abs. 3 Satz 2 VwVG) und ist auch sonst formgerecht eingereicht worden. Die Gesuchstellerin ist durch das angefochtene Urteil besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung beziehungsweise Änderung, womit die Legitimation mit Bezug zum Revisionsgesuch gegeben ist (Art. 48 Abs. 1 VwVG analog).

    4. Auf das Revisionsgesuch ist nach dem Gesagten einzutreten.

4.

    1. Gemäss Art. 123 Abs. 2 Bst. a BGG kann die Revision in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten verlangt werden, wenn die ersuchende Partei nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht beibringen konnte, unter Ausschluss der Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem Entscheid entstanden sind.

    2. Erhebliche Tatsachen beziehungsweise entscheidende Beweismittel bilden nur einen Revisionsgrund, wenn sie vor dem in Revision zu ziehenden Entscheid entstanden sind, in früheren Verfahren aber nicht beigebracht werden konnten, weil sie der gesuchstellenden Person damals nicht bekannt waren beziehungsweise trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt

      sein konnten oder ihr die Geltendmachung oder Beibringung aus entschuldbaren Gründen nicht möglich war. Der Revisionsgrund der nachträglich erfahrenen Tatsache setzt demnach zum einen voraus, dass sich diese bereits vor Abschluss des Beschwerdeverfahrens verwirklicht hat; zum anderen verlangt er, dass die gesuchstellende Person die betreffende Tatsache während des vorangegangenen Verfahrens – das heisst, bis das Urteil gefällt worden ist – nicht gekannt hat und deshalb oder aus anderen entschuldbaren Gründen nicht beibringen konnte. Ausgeschlossen sind demnach Umstände, welche die gesuchstellende Person bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte kennen können (vgl. zum Ganzen MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, Prozessieren vor dem Bundesverwaltungsgericht, 2. Aufl. 2013,

      S. 306 Rz. 5.47 ff.), zumal es den Prozessparteien obliegt, rechtzeitig und prozesskonform zur Klärung des Sachverhalts entsprechend ihrer Beweispflicht beizutragen (vgl. SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, Bundesgerichtsgesetz (BGG), 2. Aufl. Bern 2015, Art. 123 N 8).

    3. Die neue Tatsache muss sodann erheblich sein, nämlich geeignet, die tatbestandliche Grundlage des Entscheides zu ändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einem anderen, für die gesuchstellende Partei günstigeren Ergebnis zu führen. Es braucht dabei nicht schon festzustehen, dass der Prozessausgang ein anderer sein wird, sondern neu entdeckte Tatsachen sind in revisionsrechtlicher Hinsicht erheblich, wenn sie die Beweisgrundlage des früheren Urteils so zu erschüttern vermögen, dass der veränderte Sachverhalt zu einem für die Gesuchstellerin günstigeren Entscheid führen könnte (vgl. MOSER/BEUSCH/KNEUBÜHLER, a.a.O., Rz. 5.51, m.w.H.).

5.

    1. In der Revisionsverbesserung wird ausgeführt, die Gesuchstellerin habe bereits am (…) 2019 die in E. ansässige türkische Rechtsanwältin D. damit beauftragt, ihre rechtliche Situation in der Türkei abzuklären. Rechtsanwältin D. habe sie in der Folge darüber informiert, dass sie in der Türkei nicht gesucht werde. Erst vor wenigen Wochen habe sich herausgestellt, dass Rechtsanwältin D. aufgrund eines Missverständnisses nur bei den Justizbehörden in E. nachgefragt habe. Dort sei kein Strafverfahren gegen sie eröffnet worden. Deshalb habe sie während des Beschwerdeverfahrens nicht gewusst, dass in der Türkei ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet worden sei. Mitte August 2020 habe sie dann Rechtsanwalt C. _, B. _, telefonisch damit beauftragt, Nachforschungen in der Türkei anzustellen.

    2. Dem in Kopie eingereichten Schreiben von Rechtsanwältin D. vom 2. November 2020 in Verbindung mit der (in türkischer Sprache verfassten) Vollmacht vom (…) 2019 (vgl. Revisionsverbesserungsbeilagen 33 und 34) ist zu entnehmen, dass Rechtsanwältin D. am (…) 2019 beauftragt wurde abzuklären, ob in E. gegen die Gesuchstellerin ein Ermittlungsoder Strafverfahren eingeleitet worden ist. Zwar wurde die Vollmacht (nur) vom Bruder der Gesuchstellerin unterschrieben

      – und dessen Unterschrift in der Schweiz amtlich beglaubigt –, jedoch ist auch der Name der Gesuchstellerin auf der Vollmacht aufgeführt. Damit sind die Vorbringen, die Gesuchstellerin habe sich bereits während des ordentlichen Verfahrens darum bemüht, Abklärungen in der Türkei zu tätigen, und es sei hinsichtlich des Ortes der zu tätigenden Abklärungen zu einem Missverständnis gekommen, als glaubhaft zu qualifizieren. Ergänzend ist festzuhalten, dass die Ermittlungen gemäss den eingereichten Verfahrensakten erst am (…) 2019, somit fünf Tage nach der Bevollmächtigung von Rechtsanwältin D. _, aufgenommen wurden (vgl. Revisionsverbesserungsbeilagen 16 und 17). Nach dem Gesagten liegen entschuldbare Gründe vor, weshalb die Gesuchstellerin die türkischen Verfahrensakten nicht bereits im ordentlichen Verfahren beibringen konnte.

    3. Den eingereichten türkischen Verfahrensakten ist zu entnehmen, dass die Gesuchstellerin aufgrund von Inhalten in den sozialen Medien, welche am (…) 2019 und vorher veröffentlicht worden seien, der "Propaganda für eine terroristische Organisation" im Sinne von Art. 7 Abs. 2 des türkischen Terrorbekämpfungsgesetzes verdächtigt wird. So wurde unter anderem ein am (…) 2019 vom Richteramt (…) B. erlassener Haftbefehl eingereicht (vgl. Revisionsverbesserungsbeilage 10). Die neu erfahrenen Tatsachen und entdeckten Beweismittel sind – die Echtheit der türkischen Verfahrensakten vorausgesetzt – daher grundsätzlich geeignet, die tatbeständliche Grundlage des Urteils D-6401/2018 vom 22. Juni 2020 zu ändern und sind damit erheblich im Sinne von Art. 123 Abs. 2 Bst. a BGG.

    4. Der Beschluss über die Zusammenlegung (vgl. Revisionsverbesserungsbeilage 5) datiert vom (…) 2020 und damit nach dem Urteil vom

      22. Juni 2020. Nachdem die übrigen türkischen Verfahrensakten (vgl. Revisionsverbesserungsbeilagen 6 bis 17) revisionstauglich sind, ist auch der Beschluss vom (…) 2020, welcher zu den übrigen Verfahrensakten in Zusammenhang steht, in das Revisionsverfahren miteinzubeziehen.

    5. Das Revisionsgesuch ist demnach gutzuheissen und die Dispositivziffern 1 und 2 des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts D-6401/2018 vom

22. Juni 2020 sind aufzuheben.

6.

    1. Bei diesem Ausgang des Revisionsverfahrens sind keine Verfahrenskosten aufzuerlegen (Art. 37 VGG i.V.m. Art. 68 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Art. 65 Abs. 1 und 2 VwVG erweist sich mithin als gegenstandslos.

    2. Der vertretenen Gesuchstellerin ist angesichts ihres Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom

      21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihr notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen.

    3. Es wurde keine Kostennote zu den Akten gereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist der Gesuchstellerin zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von Fr. 1400.– (inkl. Auslagen und allfälligem Mehrwertsteuerzuschlag) zuzusprechen.

II.

7.

Als Folge der Gutheissung des Revisionsgesuchs und der Aufhebung der Dispositivziffern 1 und 2 des Urteils D-6401/2018 vom 22. Juni 2020 ist das diesem Urteil zugrundeliegende Beschwerdeverfahren (unter der Verfahrensnummer D-7483/2018) wiederaufzunehmen und über die Beschwerde neu zu entscheiden (vgl. Art. 128 Abs. 1 BGG). Mit dem vorliegenden Urteil wird die mit Verfügung vom 13. Oktober 2020 angeordnete superprovisorischer Massnahme (einstweilig per sofort ausgesetzter Vollzug der Wegweisung) hinfällig. Gleichzeitig ist festzustellen, dass sich die Beschwerdeführerin infolge des wiederaufzunehmenden Beschwerdeverfahrens wiederum im ordentlichen Asylverfahren befindet und den Ausgang desselben gestützt auf Art. 42 AsylG in der Schweiz abwarten darf.

8.

Im Revisionsverfahren wurden zahlreiche türkische Verfahrensakten eingereicht. In diesem Zusammenhang stellt sich vorab die Frage, ob diese Dokumente als echt zu qualifizieren sind. Sollte sich die Echtheit bestätigen, wäre in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in den Heimatstaat aufgrund des gegen sie laufenden Verfahrens eine asylrelevante Verfolgung droht. Der rechtserhebliche Sachverhalt erweist sich insofern als nicht vollständig und nicht beurteilt.

9.

Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar die Kompetenz, den festgestellten Sachverhalt mit voller Kognition zu überprüfen (Art. 106 Abs. 1 Bst. b AsylG), und es stellt grundsätzlich auf den Sachverhalt ab, wie er sich im Zeitpunkt des Urteils verwirklicht hat (vgl. BVGE 2012/21 E. 5). Es kann indessen nicht die Aufgabe der Beschwerdeinstanz sein, grundlegende Fragen zum Sachverhalt als erste Instanz zu klären. Das ergibt sich aus der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung. Das Gericht beurteilt Beschwerden gegen Verwaltungsverfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG, ist mithin zur Überprüfung von Verfügungen zuständig (Art. 31 VGG). Die Bestimmung zur Sachverhaltsfeststellung in Art. 32 VwVG ist denn auch primär auf das Verwaltungsverfahren vor den erstinstanzlichen Bundesbehörden und nicht auf das Beschwerdeverfahren zugeschnitten, was die gesetzliche Systematik bestätigt. Schliesslich fällt ins Gewicht, dass die Partei eine Instanz verlöre, wenn das Gericht die Grundlagen des rechtserheblichen Sachverhalts nicht nur ergänzen, sondern gleichsam wie eine erste Instanz erheben würde. Aus diesen Gründen hat das Bundesverwaltungsgericht von eigenen Sachverhaltsabklärungen, die über eine blosse Ergänzung und Erwahrung des rechtserheblichen Sachverhalts hinausreichen, abzusehen (vgl. BVGE 2012/21 E. 5).

10.

Aus den vorstehend genannten Gründen ist die Beschwerde vom 9. November 2018 gutzuheissen, die Verfügung des SEM vom 26. September 2018 aufzuheben und die Sache zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die im Revisionsverfahren eingereichten Beweismittel sind dem SEM zur Berücksichtigung im Rahmen der Neubeurteilung zu überweisen.

11.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Verfahrenskosten aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch um Gewährung der

      unentgeltlichen Rechtspflege gemäss Art. 65 Abs. 1 und 2 VwVG erweist sich mithin als gegenstandslos.

    2. Der vertretenen Beschwerdeführerin ist angesichts ihres Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 VGKE eine Entschädigung für die ihr notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen.

    3. Es wurde keine Kostennote zu den Akten gereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist der Beschwerdeführerin zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von Fr. 500.– (inkl. Auslagen und allfälligem Mehrwertsteuerzuschlag) zuzusprechen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Das Revisionsgesuch wird (Verfahrensnummer D-4886/2020) gutgeheissen. Die Dispositivziffern 1 und 2 des Urteils D-6401/2018 vom 22. Juni 2020 werden aufgehoben.

2.

Für das Revisionsverfahren werden keine Verfahrenskosten auferlegt. Der Gesuchstellerin wird vom Bundesverwaltungsgericht für das Revisionsverfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1400.– ausgerichtet.

3.

Die Beschwerde vom 9. November 2018 wird (unter der Verfahrensnummer D-7483/2018) gutgeheissen. Die Verfügung des SEM vom 26. September 2018 wird aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an das SEM zurückgewiesen.

4.

Für das Beschwerdeverfahren werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

5.

Das SEM wird angewiesen, der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 500.– auszurichten.

6.

Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Der vorsitzende Richter:

Die Gerichtsschreiberin:

Walter Lang

Barbara Gysel Nüesch

Versand:

Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen? Hier geht es zur Registrierung.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

Hier geht es zurück zur Suchmaschine.

SWISSRIGHTS verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf der Website analysieren zu können. Weitere Informationen finden Sie hier: Datenschutz