Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung IV |
Dossiernummer: | D-7179/2016 |
Datum: | 15.12.2020 |
Leitsatz/Stichwort: | Asyl und Wegweisung |
Schlagwörter : | Beschwerde; Beschwerdeführer; Renden; Beschwerdeführenden; Richt; Bundesverwaltungsgericht; Flüchtling; Politisch; Verfügung; Politische; Reichte; Wegweisung; Vorinstanz; Beweismittel; Recht; Exilpolitisch; Beschwerdeführers; Politischen; Exilpolitische; Wiesen; Flüchtlingseigenschaft; Iranische; Reichten; Eingabe; Iranischen; Urteil; Aktivitäten; Verfahren; Glaubhaft; Kurdische |
Rechtsnorm: | Art. 49 BV ; Art. 52 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar zugewiesen: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
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Abteilung IV D-7179/2016
Besetzung Richterin Daniela Brüschweiler (Vorsitz),
Richter William Waeber, Richterin Contessina Theis, Gerichtsschreiberin Kathrin Mangold Horni.
, geboren am (…), und das Kind
, geboren am (…), Iran,
alle vertreten durch Christian Wyss, Fürsprecher, (…),
Beschwerdeführende,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl und Wegweisung (Mehrfachgesuch/Wiedererwägung); Verfügung des SEM vom 20. Oktober 2016 / N (…).
A. (nachfolgend: Beschwerdeführer) suchte am 2. April 2012 in der Schweiz um Asyl nach. Dabei machte er im Wesentlichen geltend, er habe sich im Heimatland für die kurdische Komala-Partei betätigt. Nachdem er telefonisch informiert worden sei, dass bei ihm eine Hausdurchsuchung stattgefunden habe und Gegenstände beschlagnahmt worden seien, sei er ausgereist.
Mit Verfügung vom 15. September 2014 lehnte das damalige BFM (Bundesamt für Migration; heute: SEM) sein Asylgesuch ab und verfügte die Wegweisung sowie den Wegweisungsvollzug. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Urteil D-6019/2014 vom 4. Juni 2015 abgewiesen.
B.a Am 15. Juni 2015 reiste B. (nachfolgend: Beschwerdeführerin) mit dem gemeinsamen Sohn C. in die Schweiz ein, wo sie am
17. Juni 2015 ebenfalls ein Asylgesuch einreichten.
Mit einer als "Wiederaufnahme meines Asylverfahrens / Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung N" betitelten Eingabe wandte sich der Beschwerdeführer am 5. August 2015 an die Vorinstanz, in welcher er darauf hinwies, seine Ehefrau und das gemeinsame Kind befänden sich in der Schweiz im Asylverfahren. Das SEM teilte dem Beschwerdeführer in der Folge mit, der Vollzug seiner Wegweisung werde bis zum Abschluss des Asylverfahrens seiner Ehefrau und des Sohnes sistiert.
Mit Verfügung des SEM vom 7. Januar 2016 wurden die Asylgesuche der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes abgelehnt und deren Wegweisung sowie Wegweisungsvollzug angeordnet. Diese Verfügung blieb unangefochten.
Das SEM hob daraufhin mit Verfügung vom 13. Juni 2016 die Sistierung des Wegweisungsvollzuges des Beschwerdeführers auf.
Das gegen diese Verfügung gerichtete Beschwerdeverfahren wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid D-4174/2016 vom 27. September 2016 als gegenstandslos geworden abgeschrieben.
Am 5. Juli 2016 reichten die Beschwerdeführenden durch ihren zwischenzeitlich mandatierten Rechtsvertreter beim SEM ein Gesuch nach Art. 111b AsylG (SR 142.31) ein.
Mit Verfügung vom 20. Oktober 2016 erwog die Vorinstanz, die Eingabe der Beschwerdeführenden sei als Mehrfachgesuch zu behandeln, und stellte fest, sie erfüllten die Flüchtlingseigenschaft nicht, lehnte ihre Asylgesuche ab und ordnete erneut die Wegweisung sowie den Wegweisungsvollzug an. Der zuständige Kanton wurde mit dem Vollzug der Wegweisung beauftragt, es wurde eine Gebühr von Fr. 600.– erhoben und das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde abgelehnt.
Mit Eingabe vom 21. November 2016 liessen die Beschwerdeführenden beim Bundesverwaltungsgericht gegen die Verfügung des SEM vom
20. Oktober 2016 Beschwerde erheben. Sie beantragten, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und ihnen sei Asyl zu erteilen, eventuell sei der Beschwerdeführer wegen Nachfluchtgründen als Flüchtling anzuerkennen, subeventuell sei vom Vollzug der Wegweisung abzusehen und ihnen die vorläufige Aufnahme zu gewähren, im Sinne eines zweiten Eventualantrages sei die Sache zur korrekten Überprüfung der Beweismittel an das SEM zurückzuweisen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersuchten sie um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung unter Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses sowie um Beiordnung ihres Rechtsvertreters als unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Auf die Begründung der Rechtsbegehren wird, soweit für den Entscheid wesentlich, in den nachfolgenden Erwägungen eingegangen.
Mit Zwischenverfügung vom 19. Dezember 2016 wies die Instruktionsrichterin das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ab und forderte die Beschwerdeführenden auf, bis zum 3. Januar 2017 einen Kostenvorschuss in der Höhe von Fr. 600.– zu leisten.
Am 21. Dezember 2016 ging beim Bundesverwaltungsgericht ein Arztzeugnis betreffend die Beschwerdeführerin ein.
Der Kostenvorschuss wurde am 28. Dezember 2016 bezahlt.
Ein Gesundheitsbericht betreffend den Beschwerdeführer ging am 3. Januar 2017 beim Gericht ein.
Mit Eingabe vom 16. Februar 2017 reichten die Beschwerdeführenden weitere Beweismittel ein.
Mit Verfügung vom 7. März 2017 wurde die Vorinstanz zur Einreichung einer Vernehmlassung eingeladen. Das SEM teilte in seiner Stellungnahme vom 14. März 2017 mit, es halte vollumfänglich an seinen Erwägungen fest.
Am 16. März 2017 teilte die Schweizer Sektion von Amnesty International mit, es würden hinsichtlich des Beschwerdeführers weitere Abklärungen getätigt. Überdies wurde die Einreichung einer Stellungnahme zu den exilpolitischen Tätigkeiten des Beschwerdeführers in Aussicht gestellt. Am
29. März 2017 ging die angekündigte Stellungnahme beim Bundesverwaltungsgericht ein.
Mit Eingaben vom 11. April 2017, 3. Juli 2017 und 10. August 2017 liessen die Beschwerdeführenden weitere Beweismittel zu den Akten reichen.
Die Instruktionsrichterin lud das SEM in der Folge zur Einreichung einer zweiten Vernehmlassung ein. Die Vorinstanz nahm am 12. Oktober 2017 Stellung.
Mit Instruktionsverfügung vom 8. November 2017 wurde den Beschwerdeführenden Frist eingeräumt, sich zur vorinstanzlichen Stellungnahme vom
12. Oktober 2017 zu äussern.
Die Beschwerdeführenden machten von ihrem Äusserungsrecht mit Eingabe vom 23. November 2017 – unter Einreichung weiterer Beweismittel sowie einer Honorarnote – Gebrauch.
Am 14. August 2018 gingen beim Bundesverwaltungsgericht weitere Beweismittel ein.
Mit Eingabe vom 8. Dezember 2020 reichten die Beschwerdeführenden zusätzliche Beweismittel – insbesondere zu ihrer (gesundheitlichen) Situation in der Schweiz – ein und wiesen auf die lange Verfahrensdauer hin. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführenden bekräftige mit Eingabe vom
9. Dezember 2020 die Anliegen seiner Mandanten.
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – so auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
Am 1. März 2019 ist eine Teilrevision des AsylG in Kraft getreten (AS 2016 3101); für das vorliegende Verfahren gilt jedoch das bisherige Recht (vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des AsylG vom 25. September 2015).
Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden. Die Beschwerdeführenden haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und aArt. 108 Abs. 1 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).
Die Beschwerdeführenden begründeten ihr Gesuch vom 5. Juli 2016 im Wesentlichen damit, dass ihnen in Bezug auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Asylgründe nunmehr ein neues Beweismittel – eine Erklärung ihrer früheren Nachbarn im Iran über die vom Beschwerdeführer in seinem Asylverfahren erwähnte Hausdurchsuchung – vorliege. Zudem habe sich der Beschwerdeführer dadurch, dass er am 6. Juni 2016 in D. an einer Demonstration teilgenommen und eine Rede gehalten habe, welche gefilmt worden und auf dem Internet abrufbar sei, exponiert. Somit liege ein Nachfluchtgrund vor. Schliesslich wurde auf die Bürgerkriegssituation im Grenzgebiet Iran/Irak sowie auf die gesundheitliche Situation der Beschwerdeführerin hingewiesen.
In Bezug auf die vom Beschwerdeführer im ersten Asylverfahren vorgetragenen Fluchtgründe führte das SEM im angefochtenen Entscheid aus, dem dazu neu eingereichten, wiedererwägungsrechtlich zu prüfenden Beweismittel, einem von den Nachbarn im Iran ausgestelltes Bestätigungsschreiben, komme keine Beweiskraft zu, es sei als Gefälligkeitsschreiben zu qualifizieren. Auch die ärztlichen Zeugnisse die Beschwerdeführerin betreffend änderten nichts an der festgestellten Unglaubhaftigkeit der Fluchtgründe. Weiter erwog die Vorinstanz, die im Rahmen des Mehrfachgesuches eingereichten Beweismittel betreffend die exilpolitischen Tätigkeiten seit Erlass des Urteils D-6019/2014 vom 4. Juni 2015 wiesen nicht auf ein exponiertes exilpolitisches Profil hin. Der Wegweisungsvollzug sei nach wie vor zulässig, zumutbar und möglich, zumal der Iran über ein gutes Gesundheitssystem verfüge, welches auch die Behandlung psychischer Krankheiten gewährleiste.
Die Beschwerdeführenden bemängeln in ihrer Beschwerdeschrift zunächst, dass die Vorinstanz dem Bestätigungsschreiben der Nachbarn zu Unrecht einen Beweiswert abgesprochen habe. Vielmehr hätte das SEM das eingereichte Dokument vor Ort überprüfen lassen müssen, zumal keine Fälschungsmerkmale festgestellt worden seien. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer gestützt auf das damals beschlagnahmte Material als Mitglied oder Kollaborateur der Komala-Partei identifiziert worden und entsprechend registriert sei. Bei einer Rückkehr sei er unmittelbar von Verhaftung bedroht und damit mit grosser Wahrscheinlichkeit auch Folter ausgesetzt. Er sei als Flüchtling anzuerkennen und ihm und seiner Familie sei Asyl zu gewähren.
In Bezug auf die exilpolitische Betätigung des Beschwerdeführers sei unverständlich, dass das SEM zum Schluss komme, die Rede des Beschwerdeführers in D. hätte keine ernsthaften Massnahmen zur Folge. Da er im Iran als Komala-Anhänger registriert und die Rede im Internet abrufbar sei, erwecke diese grössere Aufmerksamkeit. Die weitere dokumentierte Kundgebung in E. im Spätsommer 2016 habe zwar weniger Aufmerksamkeit erregt, diese sei aber vom Beschwerdeführer organisiert worden. Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er bei einer Rückkehr als kurdischer Kommunist erkannt und verfolgt würde. Er und seine Familie wären somit jedenfalls als Flüchtling vorläufig aufzunehmen.
Schliesslich sei ein Wegweisungsvollzug der Beschwerdeführenden weder zulässig noch zumutbar. Dies vor dem Hintergrund einerseits der aktuellen Situation im Heimatland, anderseits der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Beschwerdeführenden.
Im Laufe des Beschwerdeverfahrens reichten die Beschwerdeführenden diverse weitere Beweismittel sowohl zu exilpolitischen Aktivitäten des Beschwerdeführers wie auch zur ihrer gesundheitlichen Verfassung zu den Akten.
Gemäss Art. 2 Abs. 1 AsylG gewährt die Schweiz Flüchtlingen grundsätzlich Asyl. Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Anschauungen wegen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen (Art. 3 AsylG).
Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen. Diese ist glaubhaft gemacht, wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält. Unglaubhaft sind insbesondere Vorbringen, die in wesentlichen Punkten zu wenig begründet oder in sich widersprüchlich sind, den Tatsachen nicht entsprechen oder massgeblich auf gefälschte oder verfälschte
Beweismittel abgestützt werden (Art. 7 AsylG). Das Bundesverwaltungsgericht hat die Anforderungen an das Glaubhaftmachen der Vorbringen in verschiedenen Entscheiden dargelegt und folgt dabei ständiger Praxis. Darauf kann hier verwiesen werden (vgl. BVGE 2015/3 E. 6.5.1 mit Verweisen).
Wer sich darauf beruft, dass durch sein Verhalten nach der Ausreise aus dem Heimatoder Herkunftsstaat eine Gefährdungssituation erst geschaffen worden ist, macht subjektive Nachfluchtgründe geltend (vgl. Art. 54 AsylG). Subjektive Nachfluchtgründe können zwar die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3 AsylG begründen, führen jedoch nach Art. 54 AsylG zum Ausschluss des Asyls, unabhängig davon, ob sie missbräuchlich oder nicht missbräuchlich gesetzt wurden. Stattdessen werden Personen, welche subjektive Nachfluchtgründe nachweisen oder glaubhaft machen können, als Flüchtlinge vorläufig aufgenommen (vgl. dazu BVGE 2009/28 E. 7.1 S. 352, m.w.H.).
Die von der Vorinstanz vorgenommene rechtliche Qualifikation der Vorbringen in der Eingabe vom 5. Juli 2016 (Wiedererwägungsund Mehrfachgesuch) wird von den Beschwerdeführenden zu Recht nicht beanstandet. Weitere Ausführungen dazu erübrigen sich.
Die Vorinstanz kam im ersten Asylverfahren des Beschwerdeführers zum Schluss, die von ihm vorgetragenen Fluchtgründe seien nicht glaubhaft, da seine Angaben dazu vage, widersprüchlich und unstimmig ausgefallen seien. Die Ausführungen zur Komala-Mitgliedschaft und zur angeblichen Kontaktperson seien unsubstanziiert geblieben. Die Schilderungen, wonach er und sein Bruder regelmässig Parteizeitschriften und Flugblätter verteilt hätten und der Bruder im (…) 2006 dabei verhaftet worden sei, seien widersprüchlich und hätten Unstimmigkeiten aufgewiesen. Nicht geglaubt werden könne, dass der Beschwerdeführer nach der angeblichen Festnahme untergetaucht sei, um einer Verhaftung durch die iranischen Behörden zu entgehen. Dasselbe gelte für die Ausführungen, wonach er die politischen Aktivitäten nach dem Untertauchen wiederaufgenommen habe, seine Kontaktperson verhaftet und sein Haus durchsucht worden sei. Das Bundesverwaltungsgericht teilt diese Auffassung in seinem Urteil D-6019/2014.
In der angefochtenen Verfügung hielt das SEM, wie vorstehend bereits erwähnt, zunächst fest, das neu eingereichte Beweismittel vom 4. Februar 2016 – das Bestätigungsschreiben der Nachbarn im Iran betreffend die
Hausdurchsuchung – sei im Rahmen einer Wiedererwägung zu prüfen. Dabei sei es als Gefälligkeitsschreiben zu qualifizieren und vermöge deshalb die als unglaubhaft erachtete Verfolgung im Iran nicht in einem anderen Licht erscheinen zu lassen.
Die Beschwerdeführenden bemängeln diese Qualifikation durch die Vorinstanz. Die Behauptung, es handle sich um ein Gefälligkeitsschreiben, sei durch nichts belegt, und das SEM habe es unterlassen, etwa mit einem der Unterzeichner oder Unterzeichnerinnen Kontakt aufzunehmen. Es habe keine sachlichen Gründe genannt, welche Zweifel am Dokument wecken könnten, was eine Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör darstelle. Bei einer Rückweisung sei das SEM anzuweisen, das Dokument sorgfältig vor Ort überprüfen zu lassen.
Der Vorinstanz ist darin zuzustimmen, dass das am 6. Juli 2016 eingereichte Bestätigungsschreiben ehemaliger Nachbarn im Iran an der festgestellten Unglaubhaftigkeit einer Vorverfolgung nichts zu ändern vermag. Die Qualifikation als Gefälligkeitsschreiben ist nicht zu beanstanden, auch wenn es sich bei den fraglichen Personen nicht um Familienmitglieder der Beschwerdeführenden handelt. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführenden war die Vorinstanz auch nicht gehalten, vor Ort Nachforschungen zum Bestätigungsschreiben vorzunehmen. Die Vorinstanz hat nicht bezweifelt, dass es sich bei den Unterzeichnenden tatsächlich um Nachbarn der Beschwerdeführenden handelt. Indessen würde selbst eine persönliche Bestätigung nichts am Gefälligkeitscharakter von entsprechenden Aussagen ändern, da nach wie vor nicht von unabhängigen Auskunftspersonen ausgegangen werden könnte (vgl zur antizipierten Beweiswürdigung BVGE 2008/24 E. 7.2).
Die Schlussfolgerung des SEM, das eingereichte Beweismittel ändere nichts an der Unglaubhaftigkeit der geschilderten Vorfluchtgründe, ist somit nicht zu beanstanden.
gebung. Es sei nicht von einer exponierten exilpolitischen Betätigung auszugehen. Diese Auffassung wurde vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil D-6019/2014 vom 4. Juni 2015 bestätigt.
Im Mehrfachgesuch vom 5. Juli 2016 machten die Beschwerdeführenden – wie bereits vorstehend erwähnt – geltend, der Beschwerdeführer habe anlässlich einer Kundgebung in D. am (…) 2016 erneut eine Rede gehalten, welche auf Youtube veröffentlicht worden sei.
Mit der Beschwerdeschrift sowie im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens reichten die Beschwerdeführenden weitere Dokumente zur exilpolitischen Betätigung des Beschwerdeführers ein. Darunter befinden sich Fotos und Screenshots von mehreren Kundgebungen, an welchen er sich beteiligt hatte, teilweise habe er dabei eine Rede gehalten, welche gefilmt worden sei. Weiter wurden die Kopien zweier behördlicher Bewilligungen für je eine Kundgebung in E. (am … 2016) und eine solche in D. (am … 2017) zu den Akten gereicht, auf welchen der Beschwerdeführer als Organisator bzw. Adressat aufgeführt ist. Sodann belegte der Beschwerdeführer seine Aktivitäten auf den sozialen Medien (Facebook und Twitter) durch die Einreichung einer Vielzahl von Kopien seiner Posts und Tweets. Inhaltlich richten sich die darin enthaltenen Äusserungen soweit ersichtlich teilweise gegen das iranische Regime, es werden Texte aus anderen Medien aufgeführt und es wird auf frühere und aktuelle Ereignisse in Bezug auf die kurdische Bevölkerung in verschiedenen Ländern hingewiesen. Weiter wird zur Unterstützung von inhaftierten kurdischen Aktivisten im Iran aufgerufen beziehungsweise auf deren Schicksal aufmerksam gemacht.
Der Beschwerdeführer reichte weiter Unterlagen über seine Teilnahme an der "10th session of the Forum on Minority Issues" vom 29. November 2017 bis 1. Dezember 2017 des OHCHR (United Nations High Commissioner for Human Rights) zu den Akten.
Die Schweizer Sektion von Amnesty International (AI) verfasste am
28. März 2017 eine Stellungnahme zur Situation von exilpolitisch tätigen Iranerinnen und Iranern in Verbindung mit den exilpolitischen Tätigkeiten des Beschwerdeführers. Eine weitere Stellungnahme wurde vom Menschenrechtsverein augenauf Bern zu Handen des Rechtsvertreters der Beschwerdeführenden erstellt und von diesem dem Bundesverwaltungsge-
richt eingereicht. Schliesslich liegt als zusätzliches Beweismittel ein Schreiben des "Centre Zagros pour les droits de l'homme" vom 14. Juni 2018 bei den Akten.
Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Praxis grundsätzlich von einer unbefriedigenden Menschenrechtssituation im Iran aus. Auch nach den Präsidentschaftswahlen im Juni 2013 steht es vor allem um die Wahrung der politischen Rechte und insbesondere der Meinungsäusserungsfreiheit schlecht. Jegliche Kritik am System der Islamischen Republik und deren Würdenträgern ist tabu, ebenso die Berichterstattung über politische Gefangene oder echte Oppositionsbewegungen. Die iranischen Behörden unterdrücken in systematischer Weise die Meinungsäusserungsfreiheit durch die Inhaftierung von Journalisten und Redakteuren, und die Medien sind einer strengen Zensur respektive einem Zwang zur Eigenzensur unterworfen. Somit hat sich die Einschätzung des Bundesverwaltungsgericht zur Lage im Iran (vgl. BVGE 2009/28 E. 7.3.1) auch nach den Präsidentschaftswahlen im Juni 2013 nicht geändert und behält nach wie vor ihre Gültigkeit (vgl. Urteil des BVGer E-353/2019 vom 22. März 2019
E. 7.2.1; Human Rights Council, Report of the Secretary-General on the Situation of Human Rights in the Islamic Republic of Iran, A/HRC/25/75, 11. März 2014, S. 4, Ziff. 7 ff.).
Es ist sodann seit längerem bekannt, dass die iranischen Behörden die politischen Aktivitäten ihrer Staatsangehörigen auch im Ausland überwachen und erfassen (vgl. dazu beispielsweise Urteile des BVGer E- 5292/2014 und E-5296/2014 vom 25. Februar 2016 E. 7.4 m.w.H.). Insbesondere haben die iranischen Behörden auch die technischen und organisatorischen Möglichkeiten, Personen im Ausland aufgrund ihrer Internetaktivitäten zu überwachen und zu identifizieren (vgl. Urteil des BVGer E- 5466/2019 vom 28. Juli 2020 E. 7.2.2 ff.). Es bleibt jedoch im Einzelfall zu prüfen, ob die konkret geltend gemachten exilpolitischen Aktivitäten bei einer allfälligen Rückkehr in den Iran mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ernsthafte Nachteile im asylrechtlichen Sinn nach sich ziehen. Gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts ist dabei davon auszugehen, dass sich die iranischen Geheimdienste auf die Erfassung von Personen konzentrieren, die über die massentypischen, niedrigprofilierten Erscheinungsformen exilpolitischer Proteste hinaus Funktionen ausgeübt und/oder Aktivitäten vorgenommen haben, welche die jeweilige Person aus der Masse der mit dem Regime Unzufriedenen herausstechen und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lassen. Dabei darf davon aus-
gegangen werden, dass die iranischen Sicherheitsbehörden zu unterscheiden vermögen zwischen tatsächlich politisch engagierten Regimekritikern und Exilaktivisten, die mit ihren Aktionen in erster Linie die Chancen auf ein Aufenthaltsrecht zu erhöhen versuchen (vgl. BVGE 2009/28 E. 7.4.3).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geht ebenfalls davon aus, dass eine möglicherweise drohende Verletzung von Art. 3 EMRK jeweils aufgrund der persönlichen Situation der Beschwerdeführenden zu beurteilen ist. Die Berichte über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Iran begründen für sich allein noch keine Gefahr einer unmenschlichen Behandlung (vgl. Urteil des EGMR S.F. et al. gegen Schweden vom 15. Mai 2012, 52077/10, §§ 63 f.).
Angesichts der insbesondere im Verlauf des Beschwerdeverfahrens eingereichten Dokumente ist festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer ernsthaft exilpolitisch betätigt, sei dies einerseits im Zusammenhang mit den (fehlenden) Rechten der kurdischen Minderheit sowohl im Iran als auch in anderen Staaten mit kurdischen Gemeinschaften, anderseits für die Einhaltung der Menschenrechte im Heimatland. Auch wenn nicht allein die Masse an Posts auf Facebook und an Twittereinträgen oder die alleinige Anzahl an Demonstrationsteilnahmen ausschlaggebend sein kann, so ist angesichts der eingereichten Beweismittel dennoch davon auszugehen, dass die Aktivitäten des Beschwerdeführers über die massentypischen Betätigungen vieler anderer Iraner hinausgehen. Er kann nicht (mehr) als reiner Mitläufer bezeichnet werden. Zwar tritt er in den sozialen Medien mit einem anderen Vornamen, aber mit seinem wirklichen Nachnamen auf, und er ist auf diversen Profilfotos deutlich zu erkennen. Auch dürften einzelne Einträge wie etwa die Unterstützung prokurdischer, inhaftierter und zwischenzeitlich hingerichteter Aktivisten oder die Bezugnahme auf Israel die Aufmerksamkeit der heimatlichen Behörden auf sich gezogen haben. Schliesslich zeigt ein Blick in das öffentlich zugängliche Facebook-Profil des Beschwerdeführers, dass er auf dieser Plattform nach wie vor sehr aktiv ist.
Insgesamt ist aufgrund der Regelmässigkeit und der Intensität der prokurdischen einerseits sowie der regimkritischen Aktivitäten des Beschwerdeführers anderseits, welche dem iranischen Regime bekannt geworden sein dürften, der Schluss zu ziehen, dass er sich durch diese in erheblichen Mass exponiert hat und sich durch sein Engagement deutlich von der breiten Masse von iranischen Regimegegnern im Ausland abhebt. Demnach
besteht Grund zur Annahme, dass er von den iranischen Sicherheitskräften als ernstzunehmender Regimekritiker eingestuft werden dürfte.
Vor diesem Hintergrund hat der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Iran mit überwiegender Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante, ernsthafte Nachteile im Sinne von Art. 3 AsylG zu gewärtigen. Es ist ihm somit eine begründete Furcht vor Verfolgung zu attestieren und er ist folglich als Flüchtling im Sinne von Art. 3 AsylG anzuerkennen. Da dies auf sein Verhalten nach der Ausreise zurückzuführen ist, ist hingegen die Gewährung von Asyl ausgeschlossen (Art. 54 AsylG). Im Weiteren bestehen gemäss Aktenlage keine Ausschlussgründe im Sinne von Art. 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (FK, SR 0.142.30).
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde betreffend Flüchtlingseigenschaft sowie Wegweisungsvollzug gutzuheissen; betreffend Asylgewährung ist sie abzuweisen. Die Dispositivziffern 1, 4 und 5 der angefochtenen Verfügung sind aufzuheben und das Staatssekretariat ist anzuweisen, den Beschwerdeführer als Flüchtling anzuerkennen und vorläufig aufzunehmen.
Die Beschwerdeführerin sowie der minderjährige Sohn erfüllen die originäre Flüchtlingseigenschaft nach Art. 3 AsylG nicht. Da der Beschwerdeführer die (originäre) Flüchtlingseigenschaft erfüllt und keine besonderen Umstände vorliegen, werden seine Ehefrau und der Sohn nach Art. 51 Abs. 1 AsylG in die Flüchtlingseigenschaft des Ehemannes beziehungsweise Vaters einbezogen. Indes habe sie keinen Anspruch auf Asyl, wenn die Person, von der die Flüchtlingseigenschaft abgeleitet wird, vom Asyl ausgeschlossen wurde. Ein Flüchtling kann nicht mehr Rechte übertragen, als er oder sie selber besitzt (vgl. Entscheidungen und Mitteilungen der Schweizerischen Asylrekurskommission [EMARK 2006 Nr. 7 E. 5.5. f.
S. 79). Da dem Beschwerdeführer aufgrund von Art. 54 AsylG kein Asyl gewährt wird, sind auch seine Ehefrau und der Sohn vorliegend von der Asylgewährung auszuschliessen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist praxisgemäss von einem Obsiegen der Beschwerdeführenden im Umfang von 2/3 auszugehen. Die reduzierten Verfahrenskosten in der Höhe von Fr. 200.– sind den Beschwerdefüh-
renden aufzuerlegen. Der in der Höhe von Fr. 600.– geleistete Kostenvorschuss ist den Beschwerdeführenden im Umfang von Fr. 400.– zurückzuerstatten, der Restbetrag von Fr. 200.– ist zur Deckung der Verfahrenskosten zu verwenden.
Den vertretenen Beschwerdeführenden ist angesichts ihres teilweisen Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine reduzierte Entschädigung für die ihnen notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen.
Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführenden reichte mit der Replik eine Honorarnote vom 23. November 2017 zu den Akten. Unter Berücksichtigung auch des nachträglich entstandenen zeitlichen Aufwandes erscheint der in der Honorarnote geltend gemachte Aufwand von 11.5 Stunden angemessen, der geltend gemachte Stundenansatz von Fr. 200.– ist nicht zu beanstanden. Unter Berücksichtigung der Auslagen sowie des Mehrwertsteueranteils ist die um einen Drittel reduzierte Parteientschädigung auf gerundet Fr. 1'733.– festzusetzen.
(Dispositiv nächste Seite)
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft betreffend. Soweit die Asylgewährung und die Wegweisung betreffend, wird die Beschwerde abgewiesen.
Die Ziffern 1, 4 und 5 der Verfügung des SEM vom 20. Oktober 2016 werden aufgehoben und das SEM wird angewiesen, die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführenden festzustellen und sie wegen Unzulässigkeit des Vollzugs vorläufig aufzunehmen.
Die Verfahrenskosten von Fr. 600.– werden im Umfang von Fr. 200.– den Beschwerdeführenden auferlegt. Der geleistete Kostenvorschuss wird den Beschwerdeführenden im Umfang von Fr. 400.– zurückerstattet, der Restbetrag des Kostenvorschusses von Fr. 200.– wird zur Begleichung der Verfahrenskosten verwendet.
Das SEM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1'733.— auszurichten.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Daniela Brüschweiler Kathrin Mangold Horni
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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