Instanz: | Bundesverwaltungsgericht |
Abteilung: | Abteilung IV |
Dossiernummer: | D-6135/2019 |
Datum: | 14.12.2020 |
Leitsatz/Stichwort: | Asyl (ohne Wegweisungsvollzug) |
Schlagwörter : | Beschwerde; Beschwerdeführer; Beschwerdeführerin; Beschwerdeführenden; Kinder; Ehemann; Visum; Miliz; Schweiz; Verfügung; Milizen; Habe; Bundesverwaltungsgericht; Person; Visumsakten; Sachverhalt; Gewähren; Erstbefragung; Anhörung; Worden; Verfahren; Recht; Partei; Humanitäre; Hinweise; Geschlechtsspezifische; Nommen; Worden; Beschwerdeführerin; Habe |
Rechtsnorm: | Art. 29 BV ; Art. 29 VwVG ; Art. 30 VwVG ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 83 BGG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar zugewiesen: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
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Abteilung IV D-6135/2019
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Besetzung Richterin Contessina Theis (Vorsitz),
Richter Gérald Bovier, Richter Simon Thurnheer, Gerichtsschreiberin Sarah Ferreyra.
Parteien A. , geboren am (…), und ihre drei Kinder,
alle vertreten durch lic. iur. Michael Steiner, Rechtsanwalt, Beschwerdeführende,
gegen
Vorinstanz.
Gegenstand Asyl (ohne Wegweisungsvollzug);
Verfügung des SEM vom 21. Oktober 2019 / N (…).
Die Beschwerdeführerin und ihre drei Kinder, Kurden aus E. , verliessen ihren Heimatstaat Syrien am 18. Februar 2019 Richtung Türkei und ersuchten am 27. März 2019 beim Schweizerischen Generalkonsulat in Istanbul um humanitäre Visa. Am 15. Mai 2019 wurde die Beschwerdeführerin auf der Botschaft befragt. Am 25. Juni 2019 bewilligte das SEM der Beschwerdeführerin und ihren Kindern die Einreise in die Schweiz.
Am 7. Juli 2019 reisten die Beschwerdeführenden auf dem Luftweg legal in die Schweiz ein und begaben sich zur Tante der Beschwerdeführerin. Am 11. Juli 2019 suchten sie in der Schweiz um Asyl nach.
Am 17. Juli 2019 wurden die Personalien der Beschwerdeführerin und der beiden älteren Kinder im Bundesasylzentrum (…) erfasst. Am 5. August 2019 fand die Erstbefragung nach Art. 26 Abs. 3 AsylG (SR 142.31) der Beschwerdeführerin und die Anhörung zu den Asylgründen nach Art. 29 AsylG der beiden älteren Kinder statt. Am 23. August 2019 wurde die Beschwerdeführerin zu den Asylgründen einlässlich angehört.
Mit Verfügung vom 29. August 2019 stellte das SEM fest, dass das Asylgesuch der Beschwerdeführerin und ihrer drei Kinder im erweiterten Verfahren behandelt wird.
Am 9. Oktober 2019 fand eine ergänzende Anhörung der Beschwerdeführerin im erweiterten Verfahren statt.
Zur Begründung ihres Asylgesuches führte die Beschwerdeführerin aus, sie habe ihre Arbeitsstelle bei der Bank aufgeben müssen, weil man von ihr verlangt habe, nach F. zur Arbeit zu kommen. Aufgrund der unsicheren Lage beziehungsweise der Gefahren auf dem Arbeitsweg habe sie dies nicht tun wollen, worauf sie ihre Stelle am 1. Januar 2016 verloren habe. Sie habe deshalb in der Folge ihren Ehemann unterstützt, der ein grosses Kleidergeschäft besessen habe. Am 18. März 2018 sei E. (von durch die Türkei unterstützten Rebellen) eingenommen worden, worauf in der Stadt Chaos ausgebrochen sei. Milizen seien in ihre Strasse
gekommen und hätten alle Wohnungen durchsucht. Ein Miliz habe von ihrem Mann das Mobiltelefon verlangt und ihm mit einer Handgranate gedroht. Sie habe dies durch einen Türschlitz beobachten können, als sie sich mit den Kindern im Keller versteckt habe. Einmal hätten die Milizen alle elektronischen Geräte aus ihrem Haus entwendet. Am 28. März 2018 sei ihr Ehemann zusammen mit einem Nachbarn zu seinem Geschäft gegangen. Dabei sei er von Milizen mitgenommen worden, wie ihr der Nachbar berichtetet habe. Diese hätten ausserdem den Laden geplündert. Zweieinhalb Monate später, ungefähr am 17. Juni 2018, sei er nach einer Lösegeldzahlung von 2000 USD wieder freigekommen und nachhause zurückgekehrt. Er habe berichtet, dass er in Haft gefoltert worden sei. Ihr Ehemann habe keinerlei politische Verbindungen gehabt, aber die Milizen hätten sich die Ländereien und das Eigentum der Familie aneignen wollen. Da sie wohlhabend gewesen seien, habe man ihnen alles weggenommen. Während der Inhaftierung ihres Ehemannes habe sie immer wieder Drohanrufe der syrisch-kurdischen Partei PYD (Partiya Yekitîya Demokrat; Demokratische Einheitspartei) erhalten, die ihre Familie als Verräter bezeichnet habe, weil sie nach dem Abzug der kurdischen Kämpfer in E. geblieben seien. Sie hätten aber nirgendwo hingehen können. Die türkische Regierung habe ihnen vorgeworfen, sie würden mit der PYD kooperieren, weil sie in E. geblieben seien und auch das syrische Regime habe ihr gekündigt, weil sie nicht mehr nach F. zur Arbeit gegangen sei und sie beschuldigt habe, für die PYD zu sein. Die Lebensbedingungen in E. seien zunehmend schwieriger geworden, insbesondere die medizinische Versorgung. Sie habe sich dann mit einigen
Freundinnen in E.
und Anwälten und anderen hochgebildeten
Leuten zusammengetan, um im Ausland auf die Situation in E. aufmerksam zu machen. Sie hätten immer wieder Fotound Videoaufnahmen von schwerwiegenden Ereignissen in E. , beispielsweise nach Anschlägen, gemacht. Alle Personen, die solche Aufnahmen gemacht hätten, hätten diese jeweils an eine Anwältin namens G. weitergeleitet. G. habe diese dann an die Organisation «(…)» in Deutschland weitergegeben. Ihr Ehemann sei nach seiner Freilassung zusammen mit seinem Bruder zum Verwalter gegangen, um eine Anzeige einzureichen. Bei der Rückfahrt sei er angehalten und bedroht worden. Man habe von ihm verlangt, dass er die Anzeige wieder zurückziehen solle. Würde dem nicht Folge geleistet, würde man dafür sorgen, dass sie oder die Kinder verschwinden würden. Weil es kompliziert gewesen sei, eine Anzeige bei den türkischen Behörden wieder zurückzuziehen, habe ihr Ehemann dies nicht getan. Am 10. Oktober 2018 seien rund dreissig be-
waffnete Milizen zu ihnen nachhause gekommen, in die Wohnung eingedrungen, hätten alles zerbrochen und sie und ihre Kinder angegriffen, geschlagen und beleidigt und ihnen mit dem Tod gedroht. Ihr sei gesagt worden, dass sie (die Milizen) das Recht hätten ihre minderjährige Tochter zu verheiraten, weil sie eine Kurdin sei. Sie hätten ihren Ehemann mitgenommen. Die Kinder seien traumatisiert von diesem Angriff auf ihr Haus. Beim Schulhaus, welches die Milizen zu einem Stützpunkt umfunktioniert hätten, habe sie nach ihrem Ehemann gefragt. Man habe ihr erlaubt, kurz mit ihrem Ehemann zu sprechen. Er habe ihr gesagt, dass sie E. zusammen mit den Kindern verlassen solle. Seitdem wisse sie nichts über den Verbleib ihres Ehemannes. Bezüglich des Grundes seiner Inhaftierung habe sie einzig von einem Übersetzer erfahren, dass den neuen Besatzern eine Namensliste in die Hände gefallen sei, auf denen alle für die kurdische Verwaltung tätigen Personen erfasst gewesen seien. Da ihr Ehemann in der Nachbarschaftswache tätig gewesen sei, sei er vermutlich auch auf dieser Liste gewesen. Einen Tag später nachts hätten die bewaffneten Gruppen an ihre Türe geklopft. Sie habe gespürt, dass ihr Leben in Gefahr sei und habe es geahnt, dass diese Gruppen betreffend ihre Aktivitäten Informationen erhalten hätten. Sie habe um ihr Leben und das ihrer Kinder wirklich Angst bekommen und nicht mehr dortbleiben wollen. In jenem Moment habe sie den Ernst der Lage begriffen und gewusst, wenn sie so weitermache, werde sie bestimmt getötet. Sie habe deshalb mit ihren kurdischen Nachbarn gesprochen, um ihre Flucht zu organisieren. Sie habe versucht, beim Wali (ein von der Türkei eingesetzter Bürgermeister) ihre legale Ausreise bewilligen zu lassen, was dieser aber abgelehnt habe, obwohl sie einen Termin bei der Schweizer Vertretung in Istanbul gehabt hätten. Deshalb hätten sie illegal ausreisen müssen. Am 18. Februar 2019 habe sie mit ihren Kindern Syrien verlassen und sie seien von E. aus bei H. über die Grenze in die Türkei gereist.
B. , der Sohn der Beschwerdeführerin, brachte seinerseits zur Asylbegründung vor, er habe nicht mehr zur Schule gehen können. Er sei von Söhnen und Angehörigen der syrischen Milizen und der freien syrischen Armee geschlagen und bedroht worden. Mitschüler hätten ihn als Ungläubigen beschimpft und gehasst. Zuhause seien sie attackiert und sein Vater entführt worden.
C. , die ältere Tochter der Beschwerdeführerin, brachte ihrerseits zur Asylbegründung vor, sie sei ausgereist, weil ihre Familie ausgereist sei. Ihr Vater sei entführt worden. Die Milizen hätten ihnen alles weg-
genommen. Sie habe nicht mehr zur Schule gehen können, da die Situation für die Kurdinnen sehr beängstigend gewesen sei. Sie hätten sie geschlagen und schlecht behandelt und sie gezwungen, den Nikab zu tragen. Zudem seien Mädchen von der Schule entführt worden.
Die Beschwerdeführenden reichten ihre Reisepässe, die Identitätskarte der Beschwerdeführerin, das Familienbüchlein, mehrere Dokumente betreffend die Arbeitsstelle der Beschwerdeführerin auf der Bank und Schulzeugnisse der Kinder ein.
Mit Verfügung vom 21. Oktober 2019 – eröffnet am 22. Oktober 2019 – stellte das SEM fest, die Beschwerdeführenden würden die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen und lehnte deren Asylgesuche vom 11. Juli 2019 ab. Gleichzeitig verfügte es die Wegweisung aus der Schweiz, schob deren Vollzug jedoch wegen Unzumutbarkeit zu Gunsten einer vorläufigen Aufnahme auf.
Mit Eingabe vom 20. November 2019 liessen die Beschwerdeführenden, handelnd durch ihren Rechtsvertreter, gegen diesen Entscheid beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde erheben und beantragen, es sei vollumfängliche Einsicht in die Akte A26/1 und in die Visa-Akten zu gewähren. Eventualiter sei das rechtliche Gehör zu diesen Akten zu gewähren und eine Frist zur Einreichung einer Beschwerdeergänzung anzusetzen. Weiter wurde beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Sache dem SEM zur richtigen Abklärung und Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Eventualiter sei die angefochtene Verfügung aufzuheben, die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin festzustellen und ihr Asyl zu gewähren. Eventualiter sei sie als Flüchtling anzuerkennen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht liessen sie zudem beantragen, es sei die unentgeltliche Prozessführung zu gewähren und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses zu verzichten.
Mit der Beschwerde reichten sie eine Fürsorgebestätigung vom 15. November 2019, eine Bestätigung von (…) inklusive Übersetzung, einen Ausdruck aus Facebook mit einem Foto des Ehemannes der Beschwerdeführerin inklusive Kommentare und mehrere Fotos des zerstörten Ladens der Beschwerdeführenden ein.
Mit Verfügung vom 28. November 2019 hiess die Instruktionsrichterin des Bundesverwaltungsgerichts das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gut und verzichtete auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Das SEM wurde angewiesen, die Visumsunterlagen zu den Asylakten zu nehmen und den Beschwerdeführenden Einsicht in ihre Visumsakten und in die Akte A26/1 zu gewähren. Gleichzeitig forderte sie das SEM auf, eine Vernehmlassung einzureichen.
Am 12. Dezember 2019 reichte das SEM eine Vernehmlassung ein.
Mit Verfügung vom 17. Dezember 2019 gab die Instruktionsrichterin den Beschwerdeführenden Gelegenheit, eine Replik einzureichen.
Mit der Replik vom 3. Januar 2020 wurde ein Auszug der Facebook-Seite (…) betreffend den Ehemann der Beschwerdeführerin, inklusive einer auszugsweisen Übersetzung eingereicht.
Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht ist daher zuständig für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde und entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – so auch vorliegend – endgültig (Art. 105 AsylG [SR 142.31], Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).
Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht worden. Die Beschwerdeführenden haben am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, sind durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung; sie sind daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 108 Abs. 2 AsylG; Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 37 VGG und Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG (vgl. hierzu BVGE 2014/26 E. 5).
Die Beschwerdeführenden rügen verschiedene Verletzungen des rechtlichen Gehörs. Es sei keine Einsicht in die Akte A26/1 gewährt worden, obschon es sich dabei um einen Arztbericht handle, der entscheidrelevant sei. Das SEM habe es unterlassen, die Visumsakten beizuziehen beziehungsweise Einsicht in diese zu gewähren, obwohl es in der Verfügung ausdrücklich festgehalten habe, die Beschwerdeführenden seien am 7. Juli 2019 legal mit Einreisevisa in die Schweiz gereist. Indem das SEM die Visumsakten nicht beigezogen habe, habe es die Dossierführungspflicht verletzt. Weiter habe das SEM die Abklärungspflicht sowie Art. 6 der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 (AsylV 1, SR 142.311) dadurch verletzt, dass es die Beschwerdeführerin nicht in einer Frauenrunde angehört habe, obwohl sie ausdrücklich eine geschlechtsspezifische Verfolgung geltend gemacht habe. Die Beschwerdeführerin habe wiederholt angetönt, dass sie und die Töchter wiederholt in sexueller Absicht im Visier der islamistischen Milizen gewesen seien. Sie seien ohne den Ehemann beziehungsweise Vater schutzlos gewesen.
Die Asylbehörde hat den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen (Art. 6 AsylG i.V.m. Art. 12 VwVG). Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 29 ff. VwVG i.V.m. Art. 6 und Art. 29 AsylG) ergibt sich, dass Asylsuchende zu ihren Asylgründen anzuhören sind und ihnen das Recht zur Äusserung sowie die Möglichkeit, Einfluss auf die Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhalts zu nehmen, zu gewähren ist (vgl. Art. 30 Abs. 1 VwVG). Liegen konkrete Hinweise auf geschlechtsspezifische Verfolgung vor oder deutet die Situation im Herkunftsland auf geschlechtsspezifische Verfolgung hin, so wird die asylsuchende Person von einer Person gleichen Geschlechts angehört (Art. 17 Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 6 AsylV 1).
In die Akte A26/1 wurde den Beschwerdeführenden inzwischen bereits Einsicht gewährt. Angesichts dessen, dass die Beschwerdeführenden in der Schweiz vorläufig aufgenommen worden sind, stellt sich die Frage des
Gesundheitszustands des Sohnes der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem Wegweisungsvollzug nicht. Der Arztbericht enthält keine asylrelevanten Informationen. Insofern im Bericht Nervosität und Unruhe sowie eine allfällige Entwicklungsverzögerung und eine leichte Verhaltensauffälligkeit des Sohnes der Beschwerdeführerin festgestellt worden sind, wäre dies hinsichtlich der Glaubhaftigkeitsprüfung der Vorbringen des Sohnes zu berücksichtigen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, aus der sich weitergehende Ansprüche der Beschwerdeführenden ergeben könnten, ist in diesem Zusammenhang nicht zu erkennen.
Hinsichtlich des von der Beschwerdeführerin verlangten Beizugs ihrer Visumsakten ist festzuhalten, dass Visumsakten (zum Beispiel Befragungsprotokolle im Zusammenhang mit dem Ersuchen um ein humanitäres Visum) potenziell Hinweise und Rückschlüsse auf asylbedeutsame Umstände liefern können, aber nicht müssen. Die Beschwerdeführerin gab anlässlich der Personalienaufnahme vom 17. Juli 2019 an, dass sie mit einem humanitären Visum in die Schweiz gereist ist (vgl. Akte 1045979-12/7 Ziff. 4.03). Zudem erwähnte sie anlässlich der Erstbefragung, dass sie bei der Schweizer Vertretung ein Interview hatte (vgl. Akte 1045979-A22/19 [nachfolgend A22] F65). Dem SEM waren demnach die Einreisemodalitäten bekannt und es hätte spätestens im Zeitpunkt der Erstbefragung ein Blick in die Visumsakten der Beschwerdeführenden vornehmen müssen, um festzustellen, ob anlässlich des Interviews Asylvorbringen vorgebracht wurden und es die Visumsakten der Beschwerdeführenden beiziehen müsste. Aus den Visumsakten geht sogar hervor, dass dem SEM bereits vor der Einreise der Beschwerdeführerin nicht nur die Asylvorbringen der Beschwerdeführenden bekannt waren, sondern auch, dass diese geschlechterspezifische Komponenten aufweisen würden. Bereits am
5. September 2018 hat die in der Schweiz lebende Tante der Beschwerdeführerin (N […]) nämlich beim SEM um humanitäre Visa für die Beschwerdeführenden ersucht und dabei deren Lage in E. beschrieben. Unter andrem wurde erwähnt, dass die Beschwerdeführerin vergewaltigt worden ist (vgl. Akten 1045979-56/5 [nachfolgende A56] S. 2). Mit Schreiben vom 16. November 2018 erklärte das SEM der Tante dann, dass nicht es für die Entgegennahme und Prüfung eines Visumgesuchs aus humanitären Gründen zuständig sei, sondern die Schweizer Auslandvertretung am Aufenthaltsort der Gesuchstellenden, weshalb sich die Beschwerdeführenden direkt an die schweizerische Vertretung wenden müssten (vgl. A56
S. 1). Unter diesen Umständen lagen dem SEM eindeutige Anhaltspunkte dafür vor, dass die Visumsakten der Beschwerdeführenden Hinweise und
Rückschlüsse auf asylbedeutsame Umstände liefern könnten und es hätte deswegen die Visumsakten beiziehen müssen.
Die Beschwerdeführerin führte ihrerseits detailliert in zwei Schreiben an die schweizerische Vertretung in Istanbul ihre Gründe für das humanitäre Visum aus (vgl. Akten 1045979-57/8 [nachfolgend A57] S. 6-8 und 1045979-60/53 [nachfolgende A60] S. 20-22). Aus beiden Schreiben gehen eindeutige Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung hervor. Im ersten Schreiben (A60 S. 20 f.) macht sie unter anderem geltend, als ihr Haus gestürmt und geplündert worden sei, hätten ihr die Täter sogar die Goldkette vom Hals gerissen. Als sie als Protest gegen dieses Vorgehen diese Leute angeschrien habe, hätten sie sie beleidigt und geschlagen. Die Kinder hätten grosse Angst bekommen und angefangen zu weinen. Die Banditen hätten sie weiter geschlagen und dabei immer «Allah Akbar, Allah Akbar» gerufen. Sie hätten von diesem Vorfall überall Prellungen gehabt und sie sei persönlich auch belästigt worden, aber könne hier nicht sagen, was sie erlebt habe, weil die Erinnerungen an diesen Moment sie dermassen aufregen würden, als würde ihr Herz explodieren. Aus Angst könne sie über diese schlimmen Sachen, die sie erlebt habe, nicht reden. Im zweiten Schreiben (A57 S. 6) erwähnt sie unter anderem, dass das nächtliche Einschleichen der maskierten Leute in die Häuser der Einheimischen für sie als alleinstehende junge Frau und ihre Kinder eine grosse Gefahr darstelle. Bereits aus diesen beiden Schreiben wird ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin Hemmungen hatte, über allfällig geschlechtsspezifische Vorkommnisse zu berichten. Anlässlich der Erstbefragung erzählte die Beschwerdeführerin und auch ihre Kinder, dass sie angegriffen worden seien. Die Beschwerdeführer berichtete anlässlich der Erstbefragung sodann, dass die bewaffneten Gruppen auch nachts an die Tür geklopft hätten. Sie beendete jedoch nach diesem Satz abrupt die Erzählung dieses Geschehnisses und meinte, in jenem Moment habe sie wirklich Angst bekommen und nicht mehr dort bleiben wollen (vgl. Akte A22 S. 10). Zudem erwähnte die Beschwerdeführerin, dass die Milizen nach der Mitnahme ihres Ehemannes nun wüssten, dass sie als Frau mir drei Kindern alleine zu Hause lebe, was sie natürlich ausnützen würden (vgl. Akte 1045979-A28/19 F112). Die Beschwerdeführerin wurde weder bei der Erstbefragung noch bei der Anhörung zu den Asylgründen oder bei der ergänzenden Anhörung in einem Frauenteam angehört. Der Befrager war sowohl bei der Erstbefragung wie bei beiden Anhörungen männlich. Anlässlich der Anhörung vom 23. August 2019 war zudem auch noch der Dolmetscher männlich. Die sich aus Art. 17 Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 6 AsylV 1 ergebende Verfah-
rensvorschrift, wonach die asylsuchende Person von einer Person gleichen Geschlechts befragt wird, wenn konkrete Hinweise auf geschlechtsspezifische Verfolgung vorliegen, stellt einerseits als Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs eine Schutzvorschrift dar, deren Zweck es ist, dass asylsuchende Personen ihre Vorbringen angemessen vortragen, das heisst konkret erlittene Übergriffe möglichst frei und unbeeinträchtigt von Schamgefühlen schildern können. Gleichzeitig dient sie dazu, die Richtigkeit der Sachverhaltsabklärung zu gewährleisten. Da diese Schutzvorschrift nicht bloss ein Recht der asylsuchenden Person beinhaltet, eine solche Befragung zu verlangen, sondern die Behörde dazu verpflichtet, in der vorgesehenen Weise vorzugehen, sobald entsprechende Hinweise vorliegen, ist sie von Amtes wegen anzuwenden (vgl. BVGE 2015/42 E. 5.2). Nachdem dies vorliegend nicht geschehen ist, kann in Bezug auf die Beschwerdeführerin nicht davon ausgegangen werden, der rechtserhebliche Sachverhalt sei richtig und vollständig erhoben worden.
Vorliegend ist aufgrund der mangelhaft durchgeführten Anhörung der Sachverhalt nicht vollständig erstellt, weshalb eine Heilung nicht in Betracht kommt. Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen, die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zur vollständigen und richtigen Erhebung des rechtserheblichen Sachverhalts und zur neuen Entscheidfindung an das SEM zurückzuweisen. Das SEM ist anzuweisen, die Beschwerdeführerin in einer Frauenrunde nochmals zu den Asylgründen anzuhören.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 VwVG).
Den vertretenen Beschwerdeführenden ist angesichts ihres Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom
21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihnen notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Der Rechtsvertreter hat mit der Beschwerde keine Kostennote eingereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist den Beschwerdeführenden zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1265.– zuzusprechen.
Die Beschwerde wird gutgeheissen.
Die Verfügung des SEM vom 21. Oktober 2019 wird aufgehoben und die Angelegenheit im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.
Das SEM wird angewiesen, den Beschwerdeführenden für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 1265.– auszurichten.
Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführenden, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.
Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:
Contessina Theis Sarah Ferreyra
Versand:
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