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Bundesverwaltungsgericht Urteil D-5941/2020

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-5941/2020
Datum:16.12.2020
Leitsatz/Stichwort:Asyl und Wegweisung
Schlagwörter : Beschwerde; Weisung; Wegweisung; Beschwerdeführer; Aufenthalt; Schweiz; Aufenthaltsbewilligung; Verfügung; Erteilung; Anspruch; Verfahren; Asylgesuch; Bundesverwaltungsgericht; Beschwerdeführers; Wegweisungsvollzug; Recht; Ausländerbehörde; Tochter; Migration; Lanka; Gesuch; Verfügt; Kanton; Vollzug; Kantons; Person; Dispositiv; Familie; Angefochtene
Rechtsnorm: Art. 13 BV ; Art. 49 BV ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 64 VwVG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:135 I 143; ;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV D-5941/2020

U r t e i l v o m 1 6 . D e z e m b e r 2 0 2 0

Besetzung Einzelrichterin Jeannine Scherrer-Bänziger, mit Zustimmung von Richterin Roswitha Petry;

Gerichtsschreiberin Anna Dürmüller Leibundgut.

Parteien A. , geboren am (…), Sri Lanka,

vertreten durch Melanie Aebli, Rechtsanwältin, (…),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Wegweisung und Wegweisungsvollzug; Verfügung des SEM vom 27. März 2020 / N (…).

Sachverhalt:

A.

    1. Der Beschwerdeführer reiste am (…) von B. herkommend in die Schweiz ein und suchte hier tags darauf um Asyl nach.

    2. Das SEM führte am 11. Januar 2017 die Befragung zur Person (BzP) durch. Sodann forderte es den Beschwerdeführer mit Schreiben vom

      5. Mai 2017 auf, innert Frist einige Fragen zu beantworten. Der Beschwerdeführer reichte daraufhin am 16. Mai 2017 eine schriftliche Stellungnahme zu den Akten.

    3. Zur Begründung seines Asylgesuchs machte er geltend, er stamme aus C. , habe aber seine Kindheit grösstenteils in D. verbracht, da seine Familie Ende der 80er-Jahre dorthin gezogen sei. Im Jahr (…) sei er nach Sri Lanka zurückgekehrt und habe in der Folge auf Anregung der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) in einem (…) Englischunterricht erteilt. Im Jahr (…) sei er von der sri-lankischen Armee verhaftet worden. Nach einer Geldzahlung durch seine Familie sei er nach mehrmonatiger Gefangenschaft freigelassen worden, worauf er im Jahr (…) nach B. geflüchtet sei. Er habe dort ein Asylgesuch gestellt, welches aber abgelehnt worden sei. Im Jahr (…) habe er eine Schweizerin kennengelernt, welche daraufhin zu ihm nach B. gezogen sei. Im Mai (…) hätten sie geheiratet, und am (…) sei die gemeinsame Tochter zur Welt gekommen. Da seine Frau in B. aufenthaltsberechtigt gewesen sei, habe auch er eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Seine Frau habe sich indessen im Jahr (…) von ihm getrennt und sei zusammen mit der Tochter in die Schweiz zurückgekehrt. Infolgedessen sei seine Aufenthaltsberechtigung in B. erloschen. Als er Ende (…) von einem Besuch in der Schweiz nach B. habe zurückkehren wollen, hätten ihm die (…) Behörden am Flughafen die Einreise verweigert und ihn am (…) in die Schweiz ausgeschafft.

B.

    1. Mit Verfügung vom 10. Juli 2017 trat das SEM gestützt auf Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuch des Beschwerdeführers nicht ein (sog. Dublin-Verfahren).

    2. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil D-4094/2017 vom 11. August 2017 infolge Verletzung der Begründungspflicht respektive des Anspruchs auf rechtliches Gehör

      gut, hob die Verfügung des SEM vom 10. Juli 2017 auf und wies die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.

    3. Mit Verfügung vom 22. August 2017 trat das SEM gestützt auf Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG auf das Asylgesuch erneut nicht ein, verfügte die Weg-

      weisung nach B.

      und forderte den Beschwerdeführer auf, die

      Schweiz spätestens am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen. Ferner beauftragte es den zuständigen Kanton mit dem Vollzug der Wegweisung, händigte dem Beschwerdeführer die editionspflichtigen Akten aus und stellte fest, einer allfälligen Beschwerde gegen die Verfügung komme keine aufschiebende Wirkung zu.

    4. Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil D-5013/2017 vom 2. Mai 2018 ab.

C.

    1. Da die sich aus der Dublin-III-VO (Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist) ergebende Frist zur Überstellung des Beschwerdeführers nach B. nicht eingehalten werden konnte und die Zuständigkeit für die Behandlung des Asylgesuchs demnach auf die Schweiz übergegangen war, hob das SEM seinen Entscheid vom 22. August 2017 mit Verfügung vom 24. April 2020 auf und nahm das nationale Asylverfahren betreffend den Beschwerdeführer wieder auf.

    2. Am 19. Juni 2020 hörte das SEM den Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Asylgründen an. Dabei wiederholte er im Wesentlichen die bereits im Dublin-Verfahren gemachten Angaben. Er fügte an, die sri-lankische Armee habe nach seinem Halbbruder gesucht und ihn zuhause nicht angetroffen, worauf sie ihn (Beschwerdeführer) festgenommen hätten. Während seiner mehrmonatigen Haft sei er gefoltert und sexuell missbraucht worden. Er sei primär seiner Tochter wegen in der Schweiz. Mit seiner Ex-Frau spreche er nur über die Tochter, ansonsten habe er zu ihr keinen Kontakt mehr. Seine Beziehung zur Tochter sei gut. Infolge der Corona-Situation besuche er sie aber zurzeit nur selten. Der Beschwerdeführer verwies ausserdem auf mehrere medizinische Probleme (posttraumatische Belastungsstörung, Darmblutungen, Gedächtnislücken).

D.

Mit Verfügung vom 27. März 2018 (recte: 27. Oktober 2020) – eröffnet am

28. Oktober 2020 – verneinte das SEM die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers, lehnte das Asylgesuch ab und verfügte die Wegweisung aus der Schweiz sowie den Wegweisungsvollzug.

Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die vorgebrachten Asylgründe seien unglaubhaft, und es bestünden auch keine Risikofaktoren, welche zur Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Sri Lanka führten könnten. Somit erfülle der Beschwerdeführer die Anforderungen an die Flüchtlingseigenschaft nicht, und das Asylgesuch sei abzulehnen. Aufgrund der Ablehnung des Asylgesuchs sei der Beschwerdeführer grundsätzlich zur Ausreise aus der Schweiz verpflichtet. Der Vollzug der Wegweisung sei zulässig, namentlich auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK: Die Wegweisung sei (unter anderem) nicht zu verfügen, wenn ein potenzieller Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung (beispielsweise gestützt auf Art. 8 EMRK) bestehe und dieser Anspruch gegenüber der zuständigen kantonalen Migrationsbehörde bereits geltend gemacht worden sei. Ob gestützt auf Art. 8 EMRK ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung bestehe, sei aber von den Asylbehörden nicht mehr zu prüfen, wenn die kantonalen Ausländerbehörden einen solchen Anspruch bereits verneint hätten. Im vorliegenden Fall sei das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 8 EMRK mit Verfügung des Migrationsdienstes des Kantons E. vom 5. April 2018 abgelehnt worden. Die (…) habe die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 9. August 2019 abgewiesen. Aufgrund der Aktenlage sei daher nicht von einem potentiellen Aufenthaltsanspruch auszugehen. Zwar sei gegen den Entscheid der (…) eine Beschwerde hängig; jedoch hemme dies das asylrechtliche Wegweisungsverfahren nicht. Somit sei der Vollzug der Wegweisung insgesamt als zulässig zu erachten. Ferner seien auch die (generelle und individuelle) Zumutbarkeit sowie die Möglichkeit des Wegweisungsvollzugs zu bejahen.

E.

Mit Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht vom 26. November 2020 beantragte der Beschwerdeführer, die Dispositivziffern 3 bis 5 der angefochtenen Verfügung seien aufzuheben, und er sei in der Schweiz vorläufig aufzunehmen. Eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung sowie um amtliche Rechtsverbeiständung.

Der Beschwerde lagen je in Kopie eine Vollmacht vom 7. Mai 2018, die angefochtene Verfügung, vier Fotos, ein ärztlicher Bericht des (…) vom 24. Mai 2018, ein Austrittsbericht des Psychiatriezentrums F. vom 10. August 2020 sowie eine Sozialhilfebestätigung vom 23. November 2020 bei.

F.

Am 27. November 2020 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Eingang der Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – so auch vorliegend – endgültig über Beschwerden gegen Verfügungen (Art. 5 VwVG) des SEM (Art. 105 AsylG i.V.m. Art. 31–33 VGG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

    2. Das Verfahren richtet sich nach dem VwVG, dem VGG und dem BGG, soweit das AsylG nichts anderes bestimmt (Art. 37 VGG und Art. 6 AsylG).

    3. Für das vorliegende Verfahren gilt das bisherige Recht (vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des AsylG vom 25. September 2015).

    4. Der Beschwerdeführer ist zur Beschwerdeerhebung legitimiert, und die Beschwerde wurde fristund formgerecht eingereicht (Art. 105 AsylG und aArt. 108 Abs. 1 AsylG, Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist demnach einzutreten.

2.

Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Asylbereich nach Art. 106 Abs. 1 AsylG, im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.

Über offensichtlich begründete Beschwerden wird in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden (Art. 111 Bst. e AsylG). Wie nachstehend

aufgezeigt, handelt es sich um eine solche, weshalb das Urteil nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG).

Gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG wurde auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet.

4.

Die Beschwerde richtet sich lediglich gegen die angeordnete Wegweisung sowie den Wegweisungsvollzug (Ziffern 3 bis 5 des Dispositivs der vorinstanzlichen Verfügung vom 27. Oktober 2020). Hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft und des Asyls (Dispositivziffern 1 und 2) ist die angefochtene Verfügung damit in Rechtskraft erwachsen.

5.

In der Beschwerde wird im Wesentlichen vorgebracht, es bestünden mehrere Gründe, welche gegen eine Wegweisung respektive den Wegweisungsvollzug sprächen. Insbesondere sei gemäss Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Wegweisung nicht zu verfügen, wenn ein potentieller Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung bestehe und dieser Anspruch gegenüber der zuständigen kantonalen Migrationsbehörde bereits geltend gemacht worden sei. Vorliegend sei gegenüber den kantonalen Behörden ein aus Art. 8 EMRK fliessender Anspruch geltend gemacht worden, da die Tochter des Beschwerdeführers in der Schweiz über ein gefestigtes Aufenthaltsrecht verfüge, der Beschwerdeführer sorgeberechtigt sei und zu seiner Tochter eine enge Beziehung pflege. Das Verfahren betreffend Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 8 EMRK sei inzwischen vor dem Verwaltungsgericht des Kantons

E.

hängig. Der vom SEM erwähnte ablehnende Entscheid des

Migrationsdienstes des Kantons E. sei somit noch nicht rechtskräftig. Das gemeinsame Sorgerecht könne kaum über Landesgrenzen hinweg wahrgenommen werden, und eine Wegweisung des Beschwerdeführers nach Sri Lanka hätte einen grossen Bruch in der Vater-Kind-Beziehung zur Folge. Die Anwesenheit des Beschwerdeführers in der Schweiz sei namentlich unter dem Blickwinkel des Kindeswohls unabdingbar. Eine Wegweisung würde sowohl die EMRK als auch das Übereinkommen vom

20. November 1989 über die Rechte des Kindes (KRK, SR 0.107) verletzen. Daher müsse die Wegweisung (im Asylverfahren) mindestens so lange unzulässig sein, bis (rechtskräftig) über die Aufenthaltsbewilligung entschieden sei. Im Weiteren sei der Vollzug der Wegweisung in den Norden Sri Lankas im konkreten Fall unzumutbar, da die engsten Verwandten des Beschwerdeführers allesamt in Europa lebten und er zu weiteren, in

Sri Lanka lebenden Verwandten keinen Kontakt habe, weshalb nicht von einem tragfähigen Beziehungsnetz ausgegangen werden könne. Da der Beschwerdeführer insgesamt nur vier Jahre in Sri Lanka gelebt habe, sei er dort auch nicht verwurzelt. Ferner leide er unter multiplen psychischen Störungen, habe einen Suizidversuch hinter sich und befinde sich in psychiatrischer Behandlung. Er sei aufgrund von Folterungen und sexuellem Missbrauch traumatisiert. Im Falle einer Rückkehr nach Sri Lanka drohe eine Retraumatisierung. Zudem hätte der Beschwerdeführer am Herkunftsort kaum Zugang zu einer psychiatrischen Behandlung.

6.

    1. Lehnt das SEM das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit der Familie (Art. 44 Abs. 1 AsylG).

    2. Die Wegweisung wird insbesondere dann nicht verfügt, wenn die asylsuchende Person im Besitze einer gültigen Aufenthaltsoder Niederlassungsbewilligung ist (Art. 32 Bst. a der Asylverordnung 1 vom 11. August 1999 [AsylV 1, SR 142.311]).

    3. Ist die asylsuchende Person nicht im Besitz einer Aufenthaltsoder Niederlassungsbewilligung, so kann sie ab Einreichung des Asylgesuchs bis zur Ausreise nach einer rechtskräftig angeordneten Wegweisung, nach einem Rückzug des Asylgesuchs oder bis zur Anordnung einer Ersatzmassnahme bei nicht durchführbarem Vollzug kein Verfahren um Erteilung einer ausländerrechtlichen Aufenthaltsbewilligung einleiten, ausser es bestehe ein Anspruch auf deren Erteilung (vgl. Art. 14 Abs. 1 AsylG; sog. Grundsatz des Vorrangs des Asylverfahrens [gegenüber dem ausländerrechtlichen Verfahren]). Falls ein solcher Anspruch bejaht wird, geht die Zuständigkeit betreffend die Anordnung der Wegweisung von den Asylbehörden auf die kantonale Ausländerbehörde über, welche über das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung entscheidet (vgl. dazu BVGE 2013/37 E. 4.4; EMARK 2001 Nr. 21 E. 8d).

    4. Im Asylund Wegweisungsverfahren ist die Wegweisung daher auch dann nicht zu verfügen, wenn die asylsuchende Person zwar im Verfügungszeitpunkt nicht aufenthaltsberechtigt ist, aber ein grundsätzlicher Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung besteht, dessen konkrete Beurteilung in die Zuständigkeit der kantonalen Ausländerbehörde fällt (vgl. dazu BVGE 2013/37 E. 4.4; EMARK 2006 Nr. 23 E. 3.2; EMARK 2001

      Nr. 21 E. 9). In diesem Fall ist im Asylund Wegweisungsverfahren mit Blick auf die mögliche Zuständigkeit der kantonalen Ausländerbehörde vorfrageweise (vgl. EMARK 2001 Nr. 21 E. 10) zu prüfen, ob sich die asylsuchende Person grundsätzlich auf einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung (im Sinne von Art. 14 Abs. 1 AsylG) berufen kann.

    5. Als Anspruchsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung kommt unter anderem auch Art. 8 EMRK in Betracht, wobei diesbezüglich die bundesgerichtliche Rechtsprechung massgeblich ist (vgl. BVGE 2013/37 E. 5; EMARK 2001 Nr. 21 E. 8 und 9). Diese besagt, dass Ausländerinnen und Ausländern gestützt auf den in Art. 8 EMRK und Art. 13 Abs. 1 BV gewährleisteten Schutz des Familienlebens ein potenzieller Anspruch auf Aufenthalt in der Schweiz erwächst, wenn enge und tatsächlich gelebte Beziehungen zu nahen Verwandten (sog. Kernfamilie) bestehen, welche ihrerseits in der Schweiz über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht verfügen. Letzteres ist namentlich der Fall, wenn der sich in der Schweiz aufhaltende Angehörige das Schweizer Bürgerrecht oder eine Niederlassungsbewilligung besitzt oder über eine Aufenthaltsbewilligung verfügt, die ihrerseits auf einem gefestigten Rechtsanspruch beruht (vgl. BGE 135 I 143 E. 1.3.1 m.w.H.; EMARK 2005 Nr. 3 E. 3.1).

    6. Ergibt die vorfrageweise Prüfung, dass sich die asylsuchende Person auf einen grundsätzlichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung berufen kann, ist sie im Asylund Wegweisungsverfahren darauf hinzuweisen, dass sie ein entsprechendes Gesuch bei der zuständigen kantonalen Ausländerbehörde einzureichen hat. Ist bei der kantonalen Ausländerbehörde bereits ein Verfahren um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung hängig, so hat das SEM – sofern es das Asylgesuch abweist oder darauf nicht eintritt – die Wegweisung nicht zu verfügen. Das Bundesverwaltungsgericht hebt diesfalls eine vom SEM verfügte Wegweisung auf. Hat die kantonale Ausländerbehörde es bereits (rechtskräftig) abgelehnt, gestützt auf Art. 8 EMRK eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, so haben sich die Asylbehörden bei der Prüfung der Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs nicht mehr mit dieser Norm zu befassen (vgl. dazu beispielsweise Urteil des BVGer E-6885/2017 vom 20. März 2019, E. 11.5, m.w.H.).

7.

    1. Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die in der Schweiz wohnhafte Tochter des sorgeberechtigten Beschwerdeführers über die Schweizer Staatsangehörigkeit und damit über ein gefestigtes Anwesenheitsrecht in der Schweiz verfügt. Damit kann sich der Beschwerdeführer auf das in

      Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens (sog.

      «umgekehrter» Familiennachzug) berufen. Die vorfrageweise Prüfung ergibt somit, dass von einem grundsätzlichen Anspruch des Beschwerdeführers auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung auszugehen ist. Dies wird auch seitens des SEM nicht bestritten.

    2. Ferner hat der Beschwerdeführer bereits am (…) beim Migrationsdienst des Kantons E. ein Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 8 EMRK eingereicht. Der Migrationsdienst wies dieses Gesuch mit Verfügung vom 5. April 2018 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde vom 9. Mai 2018 wurde mit Entscheid der POM des Kantons E. vom 9. August 2019 ebenfalls abgewiesen. Der Beschwerdeführer gelangte daraufhin mit Beschwerde vom 11. September 2019 an das Verwaltungsgericht des Kantons E. . Dieses Beschwerdeverfahren ist nach wie vor hängig (vgl. auch angefochtene Verfügung Ziff. I 2., 1. Abschnitt).

    3. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Zuständigkeit zur allfälligen Anordnung der Wegweisung sowie des Wegweisungsvollzugs respektive für die allfällige Prüfung von Wegweisungsvollzugshindernissen von den Asylbehörden auf die kantonale Ausländerbehörde übergegangen ist. Entgegen der offenbar vom SEM vertretenen Auffassung (vgl. Ziff. III. 1 der vorinstanzlichen Erwägungen) hat die zuständige kantonale Behörde bisher nicht rechtskräftig über das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung entschieden; vielmehr ist das Verfahren nach wie vor hängig (aktuell vor dem Verwaltungsgericht; was auch dem SEM bekannt war). Demnach hat das SEM unzuständigerweise die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz (sowie folglich auch deren Vollzug) angeordnet. Die entsprechenden Anordnungen des SEM sind daher aufzuheben. Damit erübrigen sich weitere Ausführungen zur Frage der Zulässigkeit, Zumutbarkeit und Möglichkeit des Wegweisungsvollzugs.

8.

Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen, soweit damit die Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung bezüglich der Wegweisung und des Wegweisungsvollzugs beantragt wurde. Die Dispositivziffer 3 der angefochtenen Verfügung (Wegweisung) sowie die darauf basierenden Ziffn. 4 und 5 (Wegweisungsvollzug) sind aufzuheben.

9.

10.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG). Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung ist damit gegenstandslos geworden.

    2. Angesichts des Obsiegens des Beschwerdeführers ist auch das Gesuch um amtliche Verbeiständung gegenstandslos geworden. Dem vertretenen Beschwerdeführer ist eine Parteientschädigung für die ihm erwachsenen notwendigen und verhältnismässig hohen Kosten zuzusprechen (Art. 64 Abs. 1 VwVG i.V.m. Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]). Es wurde keine Kostennote zu den Akten gereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Gestützt auf die in Betracht zu ziehenden Bemessungsfaktoren (Art. 9–13 VGKE) ist dem Beschwerdeführer zulasten der Vorinstanz eine Parteientschädigung von pauschal Fr. 750.– zuzusprechen.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.

Die Dispositivziffern 3 bis 5 der angefochtenen Verfügung werden aufgehoben.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4.

Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von insgesamt Fr. 750.– auszurichten.

5.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

Die Einzelrichterin: Die Gerichtsschreiberin:

Jeannine Scherrer-Bänziger Anna Dürmüller Leibundgut

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