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Bundesverwaltungsgericht Urteil D-5045/2020

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-5045/2020
Datum:23.10.2020
Leitsatz/Stichwort:Asyl und Wegweisung (verkürzte Beschwerdefrist)
Schlagwörter : Beschwerde; Beschwerdeführer; Nennung; Wegweisung; Algerien; Vollzug; Schweiz; Wegweisungsvollzug; Verwandte; Behandlung; Recht; Medizinische; Person; Sachverhalt; Vorinstanz; Bundesverwaltungsgericht; Wegweisungsvollzugs; Entscheid; Medizinischen; Zumutbar; Beweis; Rechtlich; Situation; Verfügung; Anhörungsprotokoll; Akten; Focht; Rückkehr; Vollzugs; Urteil
Rechtsnorm: Art. 106 VwVG ; Art. 20 BV ; Art. 25 BV ; Art. 48 VwVG ; Art. 49 BV ; Art. 52 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 65 VwVG ; Art. 83 AIG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:129 I 232; ;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV D-5045/2020

U r t e i l v o m 2 3 . O k t o b e r 2 0 2 0

Besetzung Richterin Jeannine Scherrer-Bänziger (Vorsitz),

Richter David R. Wenger, Richterin Daniela Brüschweiler, Gerichtsschreiber Stefan Weber.

Parteien A. , geboren am (...), Algerien,

vertreten durch MLaw Annalena von Allmen, Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Wegweisung und Wegweisungsvollzug (verkürzte Beschwerdefrist);

Verfügung des SEM vom 9. September 2020 / N .

Sachverhalt:

A.

    1. Der aus B. stammende Beschwerdeführer reichte am (...) ein erstes Asylgesuch in der Schweiz ein. Darin führte er zur Begründung eine Verfolgung von Islamisten an, da er (Nennung Tätigkeit) gearbeitet habe. Am (...) lehnte die Vorinstanz das Gesuch ab. Dieser Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

    2. Am (...) ging der Beschwerdeführer mit (Nennung Person) die Ehe ein, nachdem am (...) der gemeinsame Sohn zur Welt gekommen war. Die Ehe wurde am (...) geschieden, worauf ihm die erteilte Aufenthaltsbewilligung am (...) – auch in Berücksichtigung seines (Nennung Verhalten) Verhaltens in der Schweiz – nicht mehr verlängert wurde.

    3. Am (...) wurde der Beschwerdeführer nach Algerien zurückgeführt.

B.

    1. Am (...) suchte der Beschwerdeführer in der Schweiz erneut um Asyl nach. Er wurde in der Folge ins Bundesasylzentrum (BAZ) C. überwiesen. Am 28. Mai 2020 fand die Personalienaufnahme (PA) statt.

    2. Anlässlich des persönlichen Dublin-Gesprächs gemäss Art. 5 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 2. Juni 2020 führte der Beschwerdeführer an, er habe D. – wo er am (...) um Asyl nachgesucht habe – nach Erhalt eines negativen Asylentscheids verlassen und sei über (Nennung Länder), wo er in E. am (...) um Asyl ersucht habe und wo das

      Asylverfahren noch hängig sei, und schliesslich F.

      bis in die

      Schweiz gelangt. Weiter habe er physische und psychische Probleme, weshalb er Medikamente benötige. Wenn er diese nicht erhalte, müsse er (Nennung Stoff) nehmen. Er habe in Algerien bereits zwei Suizidversuche unternommen.

    3. Am 31. August 2020 wurde der Beschwerdeführer vom SEM zu seinen Asylgründen angehört. Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, er habe nach seiner Rückführung im Jahr (...) zusammen mit (Nennung Verwandte) und der Familie einer weiteren (Nennung Verwandte) in deren Haus in B. gelebt. Er habe kurze Zeit im (Nennung Tätigkeit) gearbeitet. Danach habe ihn seine (Nennung Person)mit Geldzahlungen aus der Schweiz unterstützt. Bereits vor seiner Rückreise sei er (Nennung Leiden und Behandlung) gewesen. Im Jahr (...) habe er erfolglos mit Tabletten

      versucht, sich das Leben zu nehmen. Es sei ihm nicht gelungen, sich wieder in seiner Heimat zu integrieren. Er habe sich fremd und als Ausländer gefühlt. Er habe sich auch während (Nennung Dauer) in seinem Zimmer eingeschlossen. Zudem habe er viel Geld für die Beschaffung von (Nennung Stoff) ausgegeben, welches er nun seiner Familie schulde. Deswegen sei er von seiner (Nennung Verwandte), welche im Jahr (...) seiner (Nennung Verwandte) das Haus abgekauft habe, aufgefordert worden, das Haus zu verlassen. Sie habe ihm mit der Polizei gedroht, falls er es nicht tue. Er habe überdies vergeblich versucht, in Algerien medizinische Hilfe zu erhalten. Im Spital sei ihm gesagt worden, dass die von ihm vorgelegten medizinischen Unterlagen nicht interessieren würden, da er in Algerien und nicht in der Schweiz sei. Ausserdem habe er aus Angst, verrückt zu werden, keinen Entzug im Spital gemacht. Schliesslich habe er Algerien im (...) erneut verlassen.

      Der Beschwerdeführer reichte keine Identitätsdokumente, jedoch verschiedene (Nennung Beweismittel) zu den Akten.

    4. Das SEM räumte der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers am

7. September 2020 Gelegenheit ein, sich zum ablehnenden Entscheidentwurf zu äussern. In ihrer Stellungnahme vom 8. September 2020 verwies die Rechtsvertretung zunächst auf den bereits dargelegten Sachverhalt und führte zudem aus, das SEM habe im Entscheidentwurf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zwar korrekt dargestellt und ausgeführt, dass dieser unter (Nennung Leiden) leide. Es werde jedoch nicht ausreichend begründet, weshalb ein Wegweisungsvollzug dennoch als zumutbar eingestuft werde. Die Arbeitsfähigkeit und die damit verbundenen existenzsichernden Verdienstmöglichkeiten des Beschwerdeführers würden offensichtlich beschönigend dargestellt. Die erwähnte Berufserfahrung liege mehrere Jahrzehnte zurück und sei nicht geeignet, den Wiedereinstieg in das Berufsleben zu sichern. Zudem sei schleierhaft, inwiefern der Beschwerdeführer in Anbetracht seiner (Nennung Erkrankung) an seine kurze damalige Tätigkeit in (Nennung Tätigkeit) anknüpfen können sollte. Zwar bestünden psychiatrische und medizinische Institutionen in Algerien, es sei ihm jedoch der effektive Zugang zur benötigten Behandlung verwehrt geblieben. Sodann gehöre seine Suizidalität zu seinem Krankheitsbild und sei entsprechend zu berücksichtigen. Schliesslich verfüge er über kein tragfähiges familiäres Netz.

C.

Mit Verfügung vom 9. September 2020 – gleichentags eröffnet – stellte das

SEM fest, der Beschwerdeführer erfülle die Flüchtlingseigenschaft nicht, lehnte das Asylgesuch ab und ordnete die Wegweisung sowie deren Vollzug an. Ferner entzog es einer allfälligen Beschwerde die aufschiebende Wirkung und händigte dem Beschwerdeführer die editionspflichtigen Akten gemäss Aktenverzeichnis aus.

D.

Der Beschwerdeführer focht diesen Entscheid mit Eingabe vom 9. Oktober 2020 beim Bundesverwaltungsgericht an. Er beantragte, es seien die Dispositivziffern drei bis fünf der angefochtenen Verfügung aufzuheben und es sei die vorläufige Aufnahme in der Schweiz infolge Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs anzuordnen. Eventualiter sei die Sache zur vollständigen Abklärung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung samt Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses. Ferner sei die Dispositivziffer sechs des angefochtenen Entscheids aufzuheben und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren. Die Vorinstanz und die Vollzugsbehörden seien im Rahmen von vorsorglichen Massnahmen anzuweisen, bis zum Beschwerdeentscheid von jeglichen Vollzugshandlungen abzusehen.

Der Beschwerde lagen (Nennung Beweismittel) bei.

E.

Die vorinstanzlichen Akten lagen dem Bundesverwaltungsgericht am

12. Oktober 2020 in elektronischer Form vor (vgl. Art. 109 Abs. 3 AsylG).

F.

Mit Zwischenverfügung vom 12. Oktober 2020 stellte die Instruktionsrichterin die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wieder her und teilte dem Beschwerdeführer gleichzeitig mit, dass er den Ausgang des Verfahrens in der Schweiz abwarten dürfe.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG ist das Bundesverwaltungsgericht zur Beurteilung von Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG zuständig und

      entscheidet auf dem Gebiet des Asyls in der Regel – wie auch vorliegend

      – endgültig (Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG; Art. 105 AsylG [SR 142.31]).

    2. Der Beschwerdeführer ist als Verfügungsadressat zur Beschwerdeführung legitimiert (Art. 48 Abs. 1 VwVG). Auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde (Art. 108 Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 10 Verordnung über Massnahmen im Asylbereich im Zusammenhang mit dem Coronavirus (Covid-19-Verordnung Asyl, SR 142.318) und Art. 52 Abs. 1 VwVG) ist einzutreten.

2.

Die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts und die zulässigen Rügen richten sich im Bereich des Ausländerrechts nach Art. 49 VwVG (vgl. BVGE 2014/26 E. 5).

3.

Die Beschwerde richtet sich ausschliesslich gegen die Wegweisung als solche sowie den Vollzug der Wegweisung. Die Ziffern 1 (Verneinung der Flüchtlingseigenschaft) und 2 (Ablehnung des Asylgesuchs) des Dispositivs der Verfügung vom 9. September 2020 sind mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen.

4.

    1. Der Beschwerdeführer rügt, das SEM habe den Sachverhalt unrichtig und unvollständig abgeklärt. Diese formellen Rügen sind vorab zu prüfen.

    2. Das SEM hat einerseits die Pflicht, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig und vollständig abzuklären (Art. 12 VwVG i.V.m. Art. 6 AsylG) und hierzu alle für das Verfahren rechtlich relevanten Umstände abzuklären sowie ordnungsgemäss darüber Beweis zu führen. Dabei hat es alle sachund entscheidwesentlichen Tatsachen und Ereignisse in den Akten festzuhalten (vgl. BVGE 2012/21 E. 5.1 m.w.H.). Andererseits ergibt sich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 20 Abs. 2 BV) das Recht der Parteien auf vorgängige Äusserung und Anhörung, welches den Betroffenen Einfluss auf die Ermittlung des wesentlichen Sachverhalts sichert, sowie die Pflicht der Behörde, die Vorbringen sorgfältig und ernsthaft zu prüfen sowie in der Entscheidfindung zu berücksichtigen. Unerlässliches Gegenstück dazu bildet die Pflicht der Parteien, an der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken (Art. 8 AsylG).

    3. Konkret bemängelt der Beschwerdeführer die Ausführungen des SEM zur Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs (Kapitel III Ziff.2 des angefochtenen Entscheids). So sei sein aktueller Gesundheitszustand oder auch die von ihm benötigte Behandlung und die faktische Verfügbarkeit und Möglichkeit der Inanspruchnahme einer solchen Behandlung nicht einzelfallspezifisch geprüft worden. Es wäre seitens der Vorinstanz angezeigt gewesen, eine vertiefte ärztliche Begutachtung in Auftrag zu geben.

    4. Es ergeben sich nach Prüfung der Akten keine hinreichenden Anhaltspunkte, welche den Schluss zulassen würden, das SEM habe den Sachverhalt unrichtig oder unvollständig abgeklärt. Die Vorinstanz hat bei der Prüfung des Wegweisungsvollzugs zunächst die völkerrechtlichen Wegweisungsvollzugshindernisse berücksichtigt, sich danach zur Zumutbarkeit des Vollzugs geäussert und sich dabei insbesondere an den vom Beschwerdeführer angeführten Äusserungen sowie den eingereichten ärztlichen Unterlagen – so auch (Nennung Beweismittel) – orientiert. Dabei hat es auch explizit seine gesundheitliche Situation sowie die Behandlungsmöglichkeiten in Algerien erläutert. Der Umstand, dass es nach einer gesamtheitlichen Würdigung der Parteivorbringen respektive der Situation in Algerien zu einem anderen Schluss als der Beschwerdeführer gelangte, stellt keine unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts oder Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Unter diesen Umständen ist das Vorbringen, die Ausführungen des SEM seien zu wenig einzelfallspezifisch und nicht aktuell, als nicht stichhaltig zu erachten. Im Übrigen ist auch keine Verletzung der Begründungspflicht zu erkennen, weil es dem Beschwerdeführer möglich war, sich ein Bild über die Tragweite des vorinstanzlichen Entscheides zu machen und diesen – wie die vorliegende Beschwerde zeigt – sachgerecht anzufechten (BGE 129 I 232 E. 3.2).

    5. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts erweist sich als unbegründet. Der Eventualantrag auf Rückweisung der Sache an das SEM ist demzufolge abzuweisen.

5.

Lehnt das SEM das Asylgesuch ab oder tritt es darauf nicht ein, so verfügt es in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an; es berücksichtigt dabei den Grundsatz der Einheit der Familie (Art. 44 AsylG). Der Beschwerdeführer verfügt weder über eine ausländerrechtliche Aufenthaltsbewilligung noch über einen Anspruch auf Erteilung einer solchen. Die Wegweisung wurde demnach zu Recht angeordnet (vgl. BVGE 2013/37 E. 4.4; 2009/50 E. 9, je m.w.H.).

6.

Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zulässig, nicht zumutbar oder nicht möglich, so regelt das SEM das Anwesenheitsverhältnis nach den gesetzlichen Bestimmungen über die vorläufige Aufnahme (Art. 44 AsylG; Art. 83 Abs. 1 AIG [SR 142.20]).

Beim Geltendmachen von Wegweisungsvollzugshindernissen gilt gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts der gleiche Beweisstandard wie bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft; das heisst, sie sind zu beweisen, wenn der strikte Beweis möglich ist, und andernfalls wenigstens glaubhaft zu machen (vgl. BVGE 2011/24 E. 10.2 m.w.H.).

7.

    1. Die Vorinstanz führte zur Begründung des angeordneten Wegweisungsvollzugs aus, da der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle, könne der Grundsatz der Nichtrückschiebung nicht angewendet werden. Auch würden keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihm eine durch Art. 3 EMRK verbotene Strafe oder Behandlung drohe. Ein Wegweisungsvollzug sei daher als zulässig zu erachten.

      Weiter sei der Vollzug der Wegweisung nach Algerien grundsätzlich zumutbar. Es herrsche im Land kein Bürgerkrieg. Auch die aktuell herrschende politische Situation oder andere Gründe würden der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nicht entgegenstehen. Zudem würden auch keine individuellen Gründe gegen die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs sprechen. Hinsichtlich der sozialen Situation des Beschwerdeführers sei festzuhalten, dass er trotz angeblich schlechten Verhältnissen in Algerien immer noch über seine (Nennung Verwandte) und deren Familien sowie seine (Nennung Verwandte) verfüge, die ihm immer wieder geholfen hätten. Er habe früher teils auch (Nennung Tätigkeiten). Er könne an diese Tätigkeiten wieder anknüpfen. Insbesondere werde er auch durch seine (Nennung Person)und seinen Sohn regelmässig mit für algerische Verhältnisse relativ hohen Beträgen unterstützt. Aus der Tatsache, dass sich seine (Nennung Person)und sein Sohn in der Schweiz aufhielten, könne er für sich kein Bleiberecht hierzulande ableiten. Die mittels medizinischen Unterlagen belegten gesundheitlichen Schwierigkeiten seien in der Schweiz psychotherapeutisch und medikamentös behandelt worden. Eine Weiterbehandlung seiner Beschwerden sei – gerade auch in seiner Herkunfts-

      stadt B.

      – gewährleistet. Seine Behauptung, im Spital in

      B. seien seine medizinischen Unterlagen aus der Schweiz nicht berücksichtigt worden, spreche nicht gegen die Behandlungsmöglichkeiten

      in Algerien. Es sei das Recht jedes Landes, seine Patienten nach den eigenen Richtlinien zu behandeln. Auch ein zur Schweiz unterschiedlicher Behandlungsstandard spreche nicht gegen eine Behandlung in Algerien. Weiter sei auf die Möglichkeit der medizinischen Rückkehrhilfe zu verweisen. Die angebliche Suizidalität mache nach gefestigter Rechtsprechung den Vollzug der Wegweisung nicht unzumutbar. Dieser wäre bei einem zwangsweisen Wegweisungsvollzug im Rahmen der Vollzugsmodalitäten Rechnung zu tragen. In seiner Stellungnahme vom 8. September 2020 habe der Beschwerdeführer keine Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht, die eine Änderung des vorinstanzlichen Standpunktes zu bewirken vermöchten. Bezüglich der Existenzsicherung sei nicht einzusehen, weshalb er von den Verwandten in Algerien und seiner (Nennung Person)nicht (weiterhin) sollte unterstützt werden können. Zudem sei es ihm möglich, trotz seiner Suchtabhängigkeit einen eigenen Beitrag zur Existenzsicherung zu leisten. Ausserdem sei der Vollzug der Wegweisung technisch möglich und praktisch durchführbar.

    2. Demgegenüber legte der Beschwerdeführer in seiner Rechtsmitteleingabe in einlässlicher Weise seine bereits in der Stellungnahme vom

8. September 2020 vorgebrachte Argumentation, die einem Wegweisungsvollzug entgegenstehe, dar. So verfüge er über kein tragfähiges soziales Netz, da er sich mit seinen (Nennung Verwandte) zerstritten habe und seine (Nennung Verwandte) bereits alt und gesundheitlich angeschlagen sei. Vor seiner Ausreise sei er praktisch obdachlos gewesen und schulde verschiedenen Familienangehörigen insgesamt einen hohen Geldbetrag. Auch könne er aufgrund seiner langen Landesabwesenheit und seiner gesundheitlichen Probleme (...) nicht mehr auf Freunde zurückgreifen. Dies erschwere – nebst fehlender Berufsbildung und wenig Berufserfahrung – die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in erheblicher Weise. Zudem lägen seine ehemaligen beruflichen Erfahrungen sehr lange zurück. Weiter sei seine (Nennung Person) nicht zu Unterhaltszahlungen verpflichtet und könne ihn angesichts ihrer neuen familiären Situation nicht weiter unterstützen. Bei einer Rückkehr würde er deshalb in eine existenzielle Notlage geraten, zumal ihm angesichts der fehlenden familiären Unterstützung auch die Obdachlosigkeit drohe. Er sei nach wie vor in einem schlechten psychischen Zustand und angesichts der Mängel im algerischen Gesundheitssystem und seiner persönlichen Vorgeschichte bleibe ihm der effektive Zugang zur benötigten Behandlung verwehrt.

8.

8.1 Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin oder des Ausländers in den Heimat-, Herkunftsoder einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83 Abs. 3 AIG). So darf keine Person in irgendeiner Form zur Ausreise in ein Land gezwungen werden, in dem ihr Leib, ihr Leben oder ihre Freiheit aus einem Grund nach Art. 3 Abs. 1 AsylG gefährdet ist oder in dem sie Gefahr läuft, zur Ausreise in ein solches Land gezwungen zu werden (Art. 5 Abs. 1 AsylG; vgl. ebenso Art. 33 Abs. 1 FK). Gemäss Art. 25 Abs. 3 BV, Art. 3 des Übereinkommens vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (FoK, SR 0.105) und der Praxis zu Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

8.2

      1. Infolge der auf den Vollzugspunkt beschränkten Anfechtung ist die Feststellung, dass der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt, in Rechtskraft erwachsen. Das Non-Refoulement-Prinzip im Sinne der vorgenannten flüchtlingsrechtlichen Bestimmungen ist daher nicht tangiert. Ferner bestehen keine konkreten und gewichtigen Anhaltspunkte für die Annahme, dass er im Falle einer Ausschaffung nach Algerien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer nach Art. 3 EMRK verbotenen Strafe oder Behandlung ausgesetzt wäre (vgl. aus der Praxis des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) etwa die Urteile i.S. Bensaid, Rep. 2001-I, S. 303, sowie i.S. Saadi vom 28. Februar 2008 [Grosse Kammer], Beschwerde Nr. 37201/06, Ziff. 124 ff.). Auch die allgemeine Menschenrechtssituation in Algerien bietet zum heutigen Zeitpunkt keinen konkreten Anlass zur Annahme, dem Beschwerdeführer drohe eine entsprechende Gefährdung.

      2. Gesundheitliche Probleme stellen unter dem Blickwinkel von Art. 3 EMRK im Übrigen nur unter ganz aussergewöhnlichen Umständen ein völkerrechtliches Wegweisungsvollzugshindernis dar (vgl. Urteil des EGMR Paposhvili gegen Belgien vom 13. Dezember 2016, Grosse Kammer, 41738/10, § 183). Solche Umstände liegen nicht nur in Fällen vor, in denen sich die von einer Ausschaffung betroffene Person in unmittelbarer Gefahr befindet zu sterben, sondern auch dann, wenn Personen darunter fallen, die angesichts fehlender Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat der Ausschaffung einem realen Risiko einer schwerwiegenden, raschen und irreversiblen Verschlechterung des Gesundheitszustands ausgesetzt werden,

die zu heftigen Leiden oder einer erheblichen Reduktion der Lebenserwartung führen. Solche aussergewöhnlichen Umstände können aber hier hinlänglich ausgeschlossen werden (vgl. BVGE 2011/9 E. 7.1 S. 117 f., BVGE 2009/2 E. 9.1.3). Der Vollzug erweist sich damit als zulässig.

    1. Gemäss Art. 83 Abs. 4 AIG kann der Vollzug für Ausländerinnen und Ausländer unzumutbar sein, wenn sie im Heimatoder Herkunftsstaat auf Grund von Situationen wie Krieg, Bürgerkrieg, allgemeiner Gewalt und medizinischer Notlage konkret gefährdet sind. Wird eine konkrete Gefährdung festgestellt, ist – unter Vorbehalt von Art. 83 Abs. 7 AIG – die vorläufige Aufnahme zu gewähren.

      1. Die allgemeine Lage in Algerien ist weder von Bürgerkrieg noch von allgemeiner Gewalt gekennzeichnet, so dass der Vollzug der Wegweisung dorthin grundsätzlich zumutbar ist.

      2. Es bestehen auch sonst keine Anhaltspunkte, die darauf schliessen liessen, der Beschwerdeführer sei in individueller Hinsicht bei einer Rückkehr nach Algerien einer konkreten Gefährdung im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AIG ausgesetzt. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass er in Algerien in wirtschaftlicher Hinsicht in eine existenzbedrohende Situation gelangen wird. Gemäss eigenen Angaben hat der Beschwerdeführer in Algerien nach seiner Rückkehr im Jahr (...) für kurze Zeit als (Nennung Tätigkeit) gearbeitet (vgl. Anhörungsprotokoll vom 31. August 2020, F41, F49, F104 f). Seinen Angaben zufolge erhielt er diese Arbeit von einem Kollegen mit eigenem Geschäft, der ihm eine Chance gab. Trotzdem legte er diese Tätigkeit offenbar freiwillig nieder und versuchte auch nicht, eine andere Arbeit zu finden (vgl. Anhörungsprotokoll vom 31. August 2020, F104 f.). Entgegen seinen Äusserungen ist demnach davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer weiterhin über Kontakte und Möglichkeiten verfügt, die es ihm bei entsprechender Anstrengung seinerseits ermöglichen sollten, eine Erwerbsmöglichkeit aufzunehmen. Er gibt denn auch an, er habe in der Schweiz (Nennung Tätigkeiten) gearbeitet (vgl. Anhörungsprotokoll vom 31. August 2020, F91). Die dabei erworbenen Berufserfahrungen dürften ihm ohne Weiteres zu Gute kommen, weshalb er über die Voraussetzungen verfügt, um auch künftig ein Einkommen erwirtschaften zu können. Zudem leben in Algerien diverse Verwandte, auf deren Unterstützung er zumindest bei Einzelnen zurückgreifen kann, so insbesondere bei seiner (Nennung Verwandte) sowie (Nennung Verwandte) und einem (Nennung Verwandter), die ihm seinen Angaben nach Geld gegeben haben (vgl. Anhörungsprotokoll vom 31. August 2020, F96 und F57). Ausserdem hat ihm

        der Ehemann der mit ihm zerstrittenen (Nennung Verwandte) angeblich geholfen und war bestrebt, den Streit zu schlichten (vgl. Anhörungsprotokoll vom 31. August 2020, F87, F103), woran dieser (Nennung Verwandte) ebenfalls gelegen sein müsste, zumal sie das dem Beschwerdeführer ausgeliehene Geld dargelegtermassen zurückerstattet haben will. Sodann erhält der Beschwerdeführer gelegentliche Geldzahlungen von seinem Sohn (vgl. Anhörungsprotokoll vom 31. August 2020, F48). Auch wurde er durch seine (Nennung Person) von der Schweiz aus während mehreren Jahren finanziell unterstützt, weshalb er im Bedarfsfall erneut auf deren Unterstützung zählen können dürfte. Jedenfalls sind die in der Beschwerdeschrift (S. 7, 2. Absatz) erwähnten Gründe, weshalb ihr dies nicht mehr möglich sein sollte, als wenig überzeugend zu erachten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Lebenshaltungskosten in Algerien um ein Vielfaches geringer sind als in der Schweiz und daher bereits kleine Beträge einen grossen wirtschaftlichen Nutzen darstellen (vgl. www.laenderdaten.info%2Flebenshaltungskosten.php&usg=AOvVaw106OFP_XPGjfNG3R8aHLAI; letztmals abgerufen am 16.10.2020).

      3. Das SEM ist sodann übereinstimmend mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass psychische Erkrankungen in Algerien behandelt werden können (vgl. das Urteil des BVGer D-1763/2019 vom 29. April 2019 E. 7.5). Es ist deshalb davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer – auch in Berücksichtigung der ins Recht gelegten medizinischen Unterlagen – in Algerien weiterbehandeln lassen können wird. Die Einwände in der Beschwerde betreffend die medizinische Versorgung in Algerien (Wartezeiten, fehlende Verfügbarkeit von Medikamenten, Qualität der medizinischen Versorgung, Unterhalt und die Hygiene der Spitäler, Gleichgültigkeit des Gesundheitspersonals den Patienten gegenüber) sind nicht stichhaltig (vgl. zum Ganzen das Urteil des BVGer E-6848/2018 vom 18. Dezember 2018 E. 7.4.4 f.). Wie die Vorinstanz zu Recht und mit zutreffender Begründung erkannte, konnte der Beschwerdeführer nicht konkret und überzeugend darlegen, dass ihm der Zugang zur medizinischen Versorgung verwehrt geblieben wäre. Seinen Aussagen zufolge ist vielmehr zu schliessen, dass er aus eigener Überzeugung auf eine Behandlung seiner (Nennung Krankheit) in dem von ihn erwähnten Spital verzichtete (vgl. Anhörungsprotokoll vom 31. August 2020, F68 ff.). Im Weiteren ist zur Überbrückung möglicher finanzieller Schwierigkeiten auf die Möglichkeit der medizinischen Rückkehrhilfe zu verweisen (Art. 93 Abs. 1 Bst. d AsylG). Schliesslich macht eine Suizidalität nach gefestigter Rechtsprechung den Vollzug der Wegweisung nicht unzumutbar. Dieser wäre bei einem zwangsweisen Wegweisungsvollzug im

        Rahmen der Vollzugsmodalitäten Rechnung zu tragen (vgl. zuletzt das Urteil des BVGer E-14/2019 vom 10. Mai 2019 E. 8.4.1 m.w.H.).

    2. Es obliegt sodann dem Beschwerdeführer, sich bei der zuständigen Vertretung des Heimatstaates die für eine Rückkehr notwendigen Reisedokumente zu beschaffen (vgl. Art. 8 Abs. 4 AsylG), weshalb der Vollzug der Wegweisung auch als möglich zu bezeichnen ist (Art. 83 Abs. 2 AIG).

    3. Die durch die Vorinstanz verfügte Wegweisung und deren Vollzug stehen somit in Übereinstimmung mit den zu beachtenden Bestimmungen und sind zu bestätigen, weshalb es sich erübrigt, auf die weiteren Vorbringen und Beweismittel näher einzugehen. Die Anordnung der vorläufigen Aufnahme fällt ausser Betracht (Art. 83 Abs. 1–4 AIG).

9.

Aus den Erwägungen ergibt sich, dass die angefochtene Verfügung Bundesrecht nicht verletzt, den rechtserheblichen Sachverhalt richtig und vollständig feststellt und – soweit diesbezüglich überprüfbar – angemessen ist (Art. 106 AsylG; Art. 49 VwVG). Die Beschwerde ist folglich abzuweisen.

10.

    1. Mit dem vorliegenden Entscheid in der Hauptsache ist der Antrag auf Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses gegenstandslos geworden.

    2. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die Kosten den Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 63 Abs. 1 VwVG) und auf insgesamt Fr. 750.– festzusetzen (Art. 1-3 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht [VGKE, SR 173.320.2]).

Der Beschwerdeführer beantragt die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass sein Begehren nicht von vornherein aussichtlos war. Während seines Aufenthalts im Bundeszentrum unterliegt er einem Arbeitsverbot und ist mittellos (Art. 43 Abs. 1 AsylG). Die Voraussetzungen des Art. 65 Abs. 1 VwVG sind demnach erfüllt und das Gesuch ist gutgeheissen. Auf die Erhebung der Verfahrenskosten ist zu verzichten.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wird gutgeheissen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten erhoben.

4.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Die vorsitzende Richterin: Der Gerichtsschreiber:

Jeannine Scherrer-Bänziger Stefan Weber

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